Gemeinde und Gemeindegründung: Gemeinde nach Gottes Willen – biblische Grundlagen (Teil 2)

Gemeinde und Gemeindegründung: Gemeinde nach Gottes Willen – biblische Grundlagen (Teil 2)

Braut, Leib, Tempel, Familie, Herde… Das Neue Testament kennt viele Bilder für die Gemeinde[1], die aus unterschiedlichen Bereichen unserer Erfahrungswelt stammen. Dadurch wird deutlich, wie facettenreich und vielschichtig das Thema Gemeinde ist.

In diesem Artikel soll es um die Frage gehen, was Gemeinde konkret ist. Da dieses Thema so viele Seiten hat, gliedert sich der Artikel in mehrere Abschnitte, die jeweils ein Gegensatzpaar oder zwei zusammengehörende Aspekte von Gemeinde gegenüberstellen, in Beziehung setzen und so erläutern.

Die Gemeinde ist in ihrem Kern eine Gemeinschaft von Menschen, mit denen Gott einen Bund geschlossen hat und die ihm zu seiner Ehre dienen. Etwas ausführlicher fragt der Heidelberger Katechismus in Frage 54: „Was glaubst du von der Kirche?“ Und er antwortet: „Ich glaube, dass der Sohn Gottes aus dem ganzen Menschengeschlecht sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben durch seinen Geist und Wort in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält […].“

Bereits im ersten Artikel dieser Serie über Gemeindegründung (Bekennende Kirche Nr. 88, S. 36–42), ging es in Grundzügen um die Frage, was Gemeinde ist. Schon damals haben wir sich ergänzende Aspekte zum Thema Gemeinde betrachtet: Zum einen ging es um die Ortsgemeinde und ihr Verhältnis zur weltweiten Gemeinde, zum anderen um die Tatsache, dass die Gemeinde sowohl Organisation als auch Organismus ist: Eine Gemeinde braucht einerseits eine feste Struktur mit einer Leitung, einer Gemeindeordnung und einer Glaubensgrundlage. Andererseits ist es wichtig, dass diese Struktur mit Leben gefüllt wird, sodass die einzelnen Gemeindeglieder durch den gegenseitigen Dienst als Einheit in allen Stücken zu Christus hinwachsen (Eph. 4,15.16). Es geht demzufolge in einer Gemeinde sowohl um die Gemeinschaft als auch um den Einzelnen innerhalb der Gemeinde.

Der Einzelne und die Gemeinschaft

Die Gemeinde ist eine Einheit. Diese Einheit ist einerseits ein Geschenk, das Gott uns durch seinen Heiligen Geist von oben schenkt (1Kor. 12,13; Ps. 133). Andererseits hat die Gemeinde den Auftrag, die Einheit praktisch zu leben und zu bewahren (Eph. 4,1–3). Wiederholt fordert Gottes Wort uns dazu auf, eines Sinnes zu sein (Phil. 2,2), uns gegenseitig anzunehmen (Röm. 15,7) und die anderen sogar zu ertragen (Kol. 3,13).

Die römisch-katholische Kirche betont das Einssein der Gemeinde sehr stark. Nach ihrer Auffassung geht der Einzelne beinahe in dem einen Leib Christi auf. Aber das ist nicht der biblische Gedanke. So sehr die Bibel die Einheit betont macht sie ebenso deutlich, dass Christus und die Gemeinde zwar zusammengehören, aber unterschieden werden müssen. Auch innerhalb der Gemeinde schließen sich die Einheit der Gemeinde und die Wichtigkeit des Einzelnen nicht aus. Die einzelnen Gemeindeglieder unterscheiden sich nach Herkunft, Persönlichkeit und Kultur. Außerdem haben sie von Gott völlig unterschiedliche Gaben bekommen (Röm. 12,3–8), mit denen sie sich gegenseitig dienen sollen, um so das große Ganze durch die Unterschiedlichkeit zu bereichern. Wiederholt spricht das Neue Testament von dem Einzelnen in der Gemeinschaft (Röm. 12,5; 1Kor. 12,18). Es geht nicht um einen Einheitsbrei, sondern darum, bei allen Unterschieden (kulturell, sozioökonomisch, persönlich…) die Einheit zu leben, die Gott durch seinen Geist geschaffen hat.

In manchen freikirchlichen Herangehensweisen wird hingegen der Einzelne sehr stark betont. Gemeinde wird im Kern als freiwilliger Zusammenschluss Einzelner verstanden. In der Lehre der Gemeinde macht das Neue Testament jedoch deutlich, dass die Gemeinde Gottes Schöpfung ist und er die Menschen zusammengestellt hat (Mt. 16,18; Joh. 10,29; 1Kor. 12,13; Ps. 100,3). Die Gemeinde besteht aus Menschen, die Gott erwählt, erlöst und durch seinen Geist versiegelt hat (Eph. 1,3–14). Christus hat die Gemeinde am Kreuz durch sein Blut erkauft (Apg. 20,28), geeint (Eph. 2,16) und sich selbst für sie hingegeben (Eph. 5,25–27; Offb. 5,9.10). Weil Gott die Gemeinde zusammengestellt hat, ist sie auch berufen, in Gottes Autorität zu binden und zu lösen (Mt. 16,18.19).

Berufen hat Gott die Gemeinde durch sein Wort. Das wird vor allem daran deutlich, dass in der Apostelgeschichte das Wachstum der Gemeinde häufig als Wachstum des Wortes bezeichnet wird (Apg. 6,7; 12,24; 19,20). Deswegen ist die Gemeinde apostolisch, nicht weil sie auf einen Apostel als Person (wie Petrus) zurückginge, sondern weil sie sich auf die durch die Apostel ein für alle Mal überlieferte Heilige Schrift gründet (Jud. 3).

Somit ist die Gemeinde nicht in erster Linie ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen, sondern eine Gruppe, die Gott erwählt, erkauft, berufen und zusammengestellt hat. Diese himmlische Berufung ist ein großes Geschenk. Aber sie führt auch zu Konflikten. Denn dadurch gerät die Gemeinde in den Gegensatz zu ihrer ungläubigen Umgebung. Gleichzeitig lebt sie mitten in dieser Umgebung. Wie soll die Gemeinde mit dieser Spannung umgehen?

Die Gemeinde und die Welt

Weil Gott die Gemeinde aus dieser Welt herausgerettet hat (Gal. 1,4), besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Gemeinde und der Welt. Seitdem Gott den ersten Menschen die Feindschaft und den Gegensatz zwischen dem Samen der Schlange und dem Samen der Frau verheißen hat (1Mos. 3,15), gibt es eine Trennlinie zwischen den Freunden und den Feinden Gottes. Diese Trennlinie besteht aktuell zwischen der neutestamentlichen Gemeinde auf der einen und ihrer nichtchristlichen Umgebung auf der anderen Seite.

Diesen Unterschied zwischen Gemeinde und Welt macht Gott deutlich, indem er seiner Gemeinde Zeichen gibt, die sie von der Welt unterscheiden (Taufe und Abendmahl). Die beiden Sakramente verdeutlichen uns nicht nur die Gnade Gottes, sondern rufen uns auch auf, heilig – das heißt anders als die nichtchristliche Umgebung – zu leben (Röm. 6,1–4; 1Kor. 10,21). Damit eine Gemeinde heilig leben kann, ist es wichtig, die Gemeindeglieder durch biblische Lehre dazu zu befähigen, Irrlehre und falsche Denkweisen zu durchschauen und zu überwinden (2Kor. 10,3–5). Für diese Aufgabe ist es unverzichtbar, dass eine Gemeinde ein festes Bekenntnis hat, das nicht einfach in einer Schublade vor sich hin staubt, sondern in der Gemeinde gekannt und bekannt wird, sodass die Gemeindeglieder darin wachsen, in ihrem Denken und Handeln heilig zu leben.

Unser Verhalten soll einen sichtbaren Unterschied machen zu den Verhaltensweisen unserer Umgebung. Jesus Christus nachzufolgen heißt nicht nur, seine Überzeugungen zu teilen, sondern auch seinen heiligen Maßstäben entsprechend zu leben (Mt. 5,48; 1Petr. 1,13–16). Nicht selten führen die Unterschiede in den Überzeugungen und ethischen Maßstäben zu Konflikten mit der Umgebung – von Ausgrenzung bis hin zu offener Verfolgung. Jesus, Paulus und Petrus betonen alle, dass dieser Widerstand völlig normal ist (Joh. 15,18–21; 2Tim. 3,12; 1Petr. 4,12.13). Gerade, wenn den Christen der gesellschaftliche Gegenwind stark ins Gesicht bläst, sind sie aufgerufen zusammenzustehen, um sich gegenseitig zu unterstützen und so gemeinsam zu überwinden.

Obwohl Gott zwischen der Gemeinde und der Welt einen tiefen Graben gezogen hat, dürfen sich Christen nicht einfach in ihre Nischen zurückziehen. Die Gemeinde ist wie die Botschaft eines Landes mitten in einem fremden Land. Sie vertritt die Prinzipien, Maßstäbe und Staatsbürger des Himmels im „Ausland“ dieser Welt. Von daher hat die Gemeinde den Auftrag, in diese Welt hineinzuleuchten – primär durch die Verkündigung des Wortes (Phil. 2,15.16; 1Petr. 2,9; 3,15) aber auch durch eine gewinnende Lebensweise ihrer Mitglieder (Mt. 5,16; 1Petr. 3,1), damit Menschen ebenfalls aus der Finsternis dieser Welt in das Reich des Lichtes gerufen werden. Die Gemeindeglieder gehen im Alltag ihren Berufungen in der Welt nach. Auch dafür soll sie die Gemeinschaft der Heiligen ausrüsten. Die Gemeinde steht vor der immensen Herausforderung, in die Welt hinauszugehen und Menschen direkt oder indirekt zum Glauben zu rufen, ohne die Denkweisen oder Prinzipien dieser Welt zu übernehmen.

Diese Herausforderung gibt es nicht nur für uns heute. Schon im Alten Testament waren die Israeliten aufgefordert, Licht zu sein und die Bräuche der Umgebung nicht zu übernehmen. Das führt uns zur nächsten Frage, in welchem Verhältnis die Gemeinde des alten Bundes und die Gemeinde des neuen Bundes zueinanderstehen.

Die alttestamentliche Gemeinde und die neutestamentliche Gemeinde

Mit den Pfingstereignissen hat Gott durch seinen Heiligen Geist die neutestamentliche Kirche gegründet. Das bedeutet allerdings nicht, dass Gott sich ein zweites Volk zu seinem alttestamentlichen Volk hinzuberufen habe. Vielmehr ist die neutestamentliche Gemeinde die Fortsetzung und die Erfüllung des alttestamentlichen Volkes (Gal. 3,29; Eph. 2,11–19). Das Volk Gottes im Alten Bund bestand fast ausschließlich aus Juden, das heißt aus Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Im Neuen Bund gehören nun Menschen aus allen Völkern zu Gottes Volk. Um diese Zeitenwende zu erklären, benutzt Paulus in Römer 11,17–24 das Bild eines Ölbaums. In diesem Bild wird das Volk Israel mit den Zweigen eines Ölbaums verglichen. Als die Juden mehrheitlich Jesus ablehnten, wurden diese ungläubigen Juden aus Gottes Volk entfernt. Im Bild des Ölbaums sieht das so aus, dass diese Zweige ausgebrochen wurden. An ihre Stelle wurden wilde Zweige in den Ölbaum eingepfropft: Menschen aus allen Völkern, die an Jesus Christus glauben. Diese Gruppe bildet keinen zweiten Ölbaum, sondern ist Teil des einen Ölbaums. Deswegen nennt Paulus die Gemeinde aus christusgläubigen Juden und Heiden auch das Israel Gottes (Gal. 6,16).

Trotz dieser Kontinuität zwischen dem alttestamentlichen (Israel) und dem neutestamentlichen Volk Gottes (Gemeinde), sind mit den Ereignissen des Pfingstfestes einige Dinge neu und besser geworden. Der Heilige Geist lebt und wirkt jetzt bleibend in jedem Gläubigen. Auch kennen wir die Erlösung nicht nur in Schatten, Bildern und Zeremonien, sondern dürfen mit aufgedecktem Angesicht auf das Erlösungswerk Christi blicken (2Kor. 3,7–18).

Während vieles neu und besser geworden ist im Vergleich zum Alten Bund, gibt es einige Herausforderungen, mit denen die neutestamentliche Gemeinde in ähnlicher Weise zu kämpfen hat, wie das vor dem Kommen Christi der Fall war. Schon damals gab es Menschen, die äußerlich zu Gottes Volk gehörten, aber Gott nicht wirklich nachfolgten. So schreibt Paulus rückblickend über das Volk Israel in der Wüste: Aber an der Mehrzahl von ihnen hatte Gott kein Wohlgefallen (1Kor. 10,5a). An anderer Stelle kommt er zu dem Schluss: Nicht jeder, der von Israel abstammt, ist Israel (Röm. 9,6). Das heißt: Nicht jeder, der damals äußerlich zu Gott gehörte, gehörte auch wirklich von Herzen zu Gott. Das ist im Neuen Bund aktuell nicht anders, was uns zur nächsten Unterscheidung führt.

Die sichtbare und die unsichtbare Gemeinde

Als Menschen können wir niemandem ins Herz schauen. Deswegen wird es immer so sein, dass Menschen äußerlich zur Gemeinde gehören, die nicht wiedergeboren sind. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die zwar wiedergeboren sind, aber keiner Gemeinde angehören, weil es vielleicht keine Gemeinde in ihrer Stadt gibt, wie beispielsweise der Kämmerer aus Äthiopien in Apostelgeschichte 8.

In der Theologie hat man für diese Unterscheidung die Bezeichnungen sichtbare bzw. unsichtbare Gemeinde eingeführt. Zur unsichtbaren Gemeinde gehören alle Menschen weltweit und zu allen Zeiten, die von Herzen zu Gott gehören. Die sichtbare[2] Gemeinde besteht aus allen Menschen weltweit, die getauft sind und einer Ortsgemeinde angehören. Dabei ist es aber möglich, dass diese Zugehörigkeit bei einigen nur vorläufig oder sogar geheuchelt ist.

Die sichtbare Gemeinde und die unsichtbare Gemeinde überlappen sich und dürfen nicht voneinander getrennt werden. Betont man den Aspekt der unsichtbaren Gemeinde zu stark, wie es teilweise im Pietismus und im evangelikalen Lager geschieht, dann verliert die sichtbare Ortsgemeinde mit ihren Ämtern, Ordnungen und Bekenntnissen an Bedeutung. Man verliert dann den großen Schatz aus den Augen, den der Heilige Geist uns mit der Gründung sichtbarer Ortsgemeinden gegeben hat. Auf der anderen Seite gibt es beispielsweise in der römisch-katholischen Kirche oder auch den evangelischen Volkskirchen eine zu starke Betonung der sichtbaren Gemeinde auf Kosten der unsichtbaren Gemeinde. Dadurch wird häufig zu wenig beachtet, dass nicht automatisch jeder Christ ist, der zu einer Ortsgemeinde gehört.

Es sollte unser Gebet sein, dass die sichtbare und die unsichtbare Gemeinde der derzeit auf der Erde Lebenden möglichst deckungsgleich ist, sodass es möglichst wenige „falsche Christen“ in bestehenden Ortsgemeinden gibt und gleichzeitig wenig Christen, die ohne sichtbare Gemeinde sind. Leider ist es im Westen in den letzten Jahrzehnten immer populärer geworden zu denken, es würde ausreichen, zur unsichtbaren Gemeinde zu gehören, ohne sich einer sichtbaren Gemeinde anzuschließen. Die von Gott geschenkte Einheit der Gemeinde kann nur in der tatsächlichen und verbindlichen Gemeinschaft vor Ort gelebt werden. Von daher ist es ein großer Fehler mit dem Verweis auf die unsichtbare (oder auch die weltweite) Gemeinde auf die Zugehörigkeit zu einer Ortsgemeinde zu verzichten. Auf diesen Punkt werden wir in dem Artikel über Gemeindemitgliedschaft genauer eingehen.

Tatsächlich ist die Gemeinde aufgerufen durch Gemeindezucht dafür zu sorgen, dass Menschen, die sich als Christen bezeichnen, aber offen und unbußfertig gegen die Wahrheit des Evangeliums leben oder lehren, aus der Gemeinde ausgeschlossen werden (1Kor. 5; 1Tim. 1,20). Aber nicht immer wird es offensichtlich, wenn jemand in der Gemeinde ist, ohne wirklich in Christus verwurzelt zu sein. Selbst Paulus arbeitete jahrelang mit Demas zusammen, bevor sich herausstellte, dass dieser nicht wiedergeboren war (2Tim. 4,10a). Bis Jesus ein zweites Mal kommt, ist die sichtbare Gemeinde eine gemischte Gemeinschaft (corpus permixtum). Jesus erklärt diesen Umstand in seinem Gleichnis vom Fischnetz (Mt. 13,47–50; siehe auch 2Tim. 2,20 und 1Joh. 2,19). Das Reich Gottes (das heißt, die sichtbare Gemeinde) – im Gleichnis dargestellt durch ein gut gefülltes Fischnetz – beinhaltet bis zum Tag des Gerichts gute und faule Fische. Die unsichtbare Gemeinde der wahren Kinder Gottes aller Zeiten ist aktuell nur für Gottes Augen sichtbar (2Tim. 2,19a).

In unserem Gemeindealltag haben wir es mit der sichtbaren Gemeinde zu tun, einer Gemeinschaft, in der es möglich ist, dass Gott an manchen Mitgliedern kein Wohlgefallen hat. Sobald es trotz mehrfacher Ermahnung deutlich wird, dass das Bekenntnis zu Christus unecht ist, weil die Lehre oder das Leben eine ganz andere Sprache sprechen, ist der Ausschluss aus der Gemeinde der richtige Weg. Dennoch bewahrt uns das Wissen um den gemischten Zustand der Gemeinde davor, die Latte für einen Gemeindeeintritt zu hoch zu legen.

Von daher ist der Traum von einer reinen Gemeinde etwas, was erst im neuen Jerusalem Realität wird (Offb. 21,27). Erst dann wird es keinen Unterschied mehr zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Gemeinde geben. Bis dahin müssen wir die beiden Formen unterscheiden, dürfen sie aber auch nicht voneinander trennen.

Bei der sichtbaren Gemeinde besteht jedoch nicht nur das Problem, dass einzelne Gemeindeglieder möglicherweise nicht wiedergeboren sind. Auch ein Blick auf die sichtbaren Ortsgemeinden insgesamt zeigt, dass ganze Gemeinden von der Wahrheit des Evangeliums abgeirrt sind oder dabei sind, abzuirren. Dieses Problem ist ebenfalls nicht neu, sondern das gab es bereits zu biblischen Zeiten. Der Gemeinde in Laodizea droht Gott beispielsweise, sie aus seinem Mund auszuspucken (Offb. 3,16). Von daher stellen wir als nächstes die Frage, welche Kennzeichen eine sichtbare Ortsgemeinde haben sollte, um so Gemeinde zu sein, wie es Gott gefällt.

Kennzeichen und Auftrag der Gemeinde

Da die Gemeinde Gottes Schöpfung ist, kennzeichnet sich die wahre Gemeinde durch einen treuen und biblischen Gebrauch der Gaben, die Gott ihr geschenkt hat. Die Reformatoren entdeckten die Wahrheit wieder, dass dieser Schatz im Kern das Evangelium von der Gnade Gottes ist, die uns durch das Heilswerk Jesus Christus das ewige Leben geschenkt hat. Die treue Verkündigung dieses Evangeliums ist das erste und zentrale Kennzeichen der Gemeinde. Leugnet eine Ortsgemeinde dieses Evangelium, drängt sie es an den Rand oder bestreitet sie die Wahrheit des Wortes Gottes, ist sie auf dem Weg, zur falschen Gemeinde zu werden (oder bereits dort angekommen).

Die richtige Predigt wird unterstützt durch das zweite Kennzeichen der wahren Gemeinde: die Sakramente, also Taufe und Abendmahl. Sie malen der Gemeinde die Wahrheiten des Evangeliums vor Augen und sind gleichzeitig für den Einzelnen ein sichtbarer Ausdruck der Zugehörigkeit zur Gemeinde.

Die bereits erwähnte Gemeindezucht ist das dritte Kennzeichen der Gemeinde. Dadurch wird sichergestellt, dass das Bekenntnis der Gemeindeglieder mit ihrem Leben übereinstimmt und Sünde in der Gemeinde nicht „salonfähig“ wird.

Diese drei Kennzeichen[3] sind Gottes Geschenke an die Gemeinde und sie kennzeichnen eine Gemeinde, wie sie Gott gefällt. Damit ist aber noch nicht erschöpfend gesagt, was eine Gemeinde ausmachen soll. Gerade weil Gott der Gemeinde so große Geschenke gemacht hat, hat die Gemeinde den Auftrag, auf diese Geschenke angemessen zu antworten. In Kurzform kann man diesen Auftrag ebenfalls auf drei Begriffe bringen: Glaube, Liebe und Hoffnung (1Kor. 13,13a; vergleiche Hebr. 10,19–25).

Im Glauben vertrauen Christen auf die Bundesverheißungen Gottes, die ihnen in der Predigt verkündigt und in den Sakramenten sichtbar gemacht werden. In der Liebe dienen Christen Gott, und sie dienen sich gegenseitig in der Gemeinde, indem sie sich durch die Gaben unterstützen, ermutigen und zurechtbringen. In der Hoffnung lebt die Gemeinde gemeinsam durch alle Schwierigkeiten mit dem festen Blick auf Christus, der eines Tages alles neu machen wird. Diese Antwort der Gemeinde in Glaube, Hoffnung und Liebe drückt sich zentral durch die Anbetung Gottes aus.

Die anbetende und missionarische Gemeinde

„Nicht Mission ist der zentrale Zweck der Gemeinde, sondern Anbetung. Mission gibt es, weil Gott nicht angebetet wird. Anbetung ist ultimativ, nicht Mission, weil Gott ultimativ ist, nicht der Mensch. Wenn dieses Zeitalter vorüber ist und Millionen von Menschen sich vor Gottes Thron verneigen, wird es keine Mission mehr geben.“[4]

Mit diesen Worten beginnt John Piper sein Buch über Weltmission. Er macht hier klar, dass der Kernauftrag der Gemeinde die Anbetung Gottes ist.

Manche Gemeinden setzen die missionarische Ausrichtung ins Zentrum ihrer Arbeit. Die Kernfrage bei der Gestaltung von Gottesdiensten ist dann, wie man außenstehende Menschen erreicht. Ohne Frage ist (Welt-)Mission und Evangelisation eine sehr wichtige Aufgabe der Gemeinde. Aber diese Aufgabe ist der Anbetung untergeordnet. Deswegen ist die zentrale Frage einer Gemeinde nicht, wie man außenstehende Menschen erreicht, sondern wie Gott im Gottesdienst und darüber hinaus angebetet werden kann, sodass es ihm gefällt und ihn ehrt.[5]

Aus diesem Kernauftrag leiten sich dann zwei weitere zentrale Aufgaben der Gemeinde ab: Einerseits sollen die Christen innerhalb der Gemeinde gelehrt werden, damit sie Gott immer besser erkennen und dadurch in der Anbetung wachsen. Jesus hat uns schließlich nicht einfach den Auftrag gegeben, Menschen zur Entscheidung oder Bekehrung aufzurufen, sondern sie zu Jüngern zu machen (Mt. 28,19). Andererseits geht es darum, Menschen außerhalb der Gemeinde zum Glauben zu rufen, damit sie mit uns gemeinsam Gott anbeten. Dies kann durch persönliche Evangelisation, durch gelebte Gastfreundschaft, durch Evangelisationseinsätze der Ortsgemeinde oder durch Unterstützung von Missionaren und Gemeindegründern geschehen. Damit schließt es sich nicht gegenseitig aus, anbetende und missionarische Gemeinde zu sein, sondern beide Aufträge gehören eng zusammen und auf keinen darf verzichtet werden. Aber es muss klar sein, was der Kernauftrag ist, denn es geht in der Gemeinde – wie bei allem – zentral um Gott, nicht um Menschen.

Gerade der Auftrag, missionarisch zu sein, erinnert uns daran, dass wir als Christen im deutschsprachigen Raum eine kleine Minderheit sind. Von daher gelten unsere Überzeugungen als rückständig, ewiggestrig und teilweise sogar gefährlich. Als anbetende Gemeinschaft erleben wir von verschiedenen Seiten und aus verschiedenen Gründen Widerstand. Wir befinden uns im dauerhaften Kampf.

Die kämpfende und die siegreiche Gemeinde

Nach weltlichen Maßstäben ist die Gemeinde sehr viel schwächer als die Welt. Christen leben hier als Fremdlinge (1Petr. 1,1.17) ohne bleibende Heimat (Phil. 3,20; Hebr. 13,14), sie werden verfolgt (Offb. 11,1–10, 2Tim. 3,12), verführt (Apg. 20,29.30) und müssen sich gegen die Angriffe des Teufels zur Wehr setzen (1Petr. 5,8.9; Eph. 6,11.12). Zudem ist die Gemeinde ein Krankenhaus von Sündern, die alle tagtäglich mit ihrem Kampf gegen Sünde beschäftigt sind, sodass das Miteinander in einer Gemeinde von Zeit zu Zeit weniger erfrischend, sondern eher ein gegenseitiges Ertragen ist. Ignoriert man diese Tatsache, kann das dazu führen, dass Menschen zu hohe Erwartungen an das Leben als Christ und den Gemeindealltag haben. Viele moderne Lobpreislieder spiegeln diese Schieflage wider, in dem es viel um die positiven Erfahrungen enger Gemeinschaft geht und wenig um den täglichen Kampf gegen die Sünde und dem Leben in einer gefallenen Welt.

Diese Situation ist für die Gemeinde herausfordernd. Und doch haben wir die feste Hoffnung, dass die Zeiten der Anfechtung, Verfolgung und Verführung eines Tages vollständig überwunden sein werden. Bereits heute gibt es eine große Gruppe von Menschen, die das Rennen schon bestanden haben und jetzt vor Gottes Thron Gottesdienst feiern. Der Hebräerbrief erinnert uns daran, dass wir mit unseren Gottesdiensten in einem geistlichen Sinn Teilnehmer dieses himmlischen Gottesdienstes sind (Hebr. 12,22–24). Wirklich vor Ort können diesen himmlischen Gottesdienst aber nur die feiern, die bereits gestorben sind. Die kämpfende Gemeinde hier auf der Erde lebt in der Hoffnung auf den Tag, wenn nach den Kämpfen (Offb. 7,14) die gesamte Gemeinde aller Zeiten gemeinsam ohne Sünde und Leid Gott in alle Ewigkeit anbetet (Offb. 7,15–17).

Theologische Grundlagen und praktische Gemeindegründung

Warum beschäftigen sich die ersten beiden Artikel dieser Serie so ausführlich mit theologischen Fragen rund um die Gemeinde, wo doch Gemeindegründung etwas sehr Praktisches ist? Ganz einfach: Bevor man sich über Gemeindegründung Gedanken macht, muss man sich sehr genau darüber im Klaren sein, wie Gott Gemeinde versteht und wie er sich Gemeindearbeit vorstellt.

Eine zu gründende Ortsgemeinde ist eine sichtbare Bundesgemeinschaft von Menschen, die Gott durch seinen Heiligen Geist berufen hat. Sie ist Teil der weltweiten Gemeinde, aber ein sichtbarer Ausdruck vor Ort mit eigenen Leitern, Mitgliedern und Strukturen. Diese Gemeinde ist eine Gemeinde des Neuen Bundes, die an Pfingsten gegründet wurde, gehört aber zu dem einen Volk Gottes, das Gott sich bereits seit „Anbeginn der Welt versammelt“, wie es der Heidelberger Katechismus in Bezug auf die Kirche in Frage und Antwort 54 formuliert. Die wahre Gemeinde kennzeichnet sich durch die treue Verkündigung des Evangeliums, durch den richtigen Gebrauch der Sakramente und durch die Beachtung der Gemeindezucht. Sie lebt im Glauben an den Auferstandenen, in der Liebe zu ihm, zueinander sowie zu den Verlorenen und in der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde. Dort wird sie eines Tages in unvorstellbarer Herrlichkeit leben, während sie aktuell hier auf der Erde noch durch den Kampf gegen die Sünde und innere wie äußere Feinde herausgefordert ist. Die Gemeinde ist eine Gemeinschaft, in der nicht der Mensch, sondern die Anbetung Gottes im Fokus steht. Deswegen hat sie sowohl den Auftrag, dass Christen gemeinsam Gott besser erkennen („Jüngerschaft“) als auch die Pflicht, Menschen zum Glauben zu rufen, damit wir mit einer unvorstellbar großen Zahl von Menschen (Offb. 7,9) gemeinsam Gott in alle Ewigkeit verherrlichen und uns an ihm erfreuen können.


[1] In der gesamten Serie werden wir das Wort „Gemeinde“ verwenden. Die Begriffe „Gemeinde“ und „Kirche“ sind jedoch austauschbar.

[2] Wenn man zwischen sichtbarer und unsichtbarer Gemeinde unterscheidet, ist dies nicht identisch mit der Unterscheidung zwischen weltweiter Gemeinde und lokaler bzw. Ortsgemeinde. Sowohl die einzelne Ortsgemeinde ist sichtbare Gemeinde als auch die Summe aller weltweiten (derzeit sichtbaren) Ortsgemeinden. Wir werden uns in einem gesonderten Artikel unter dem Thema Begleitende Gemeinden mit dem Zusammenschluss und der Zusammenarbeit von Ortsgemeinden beschäftigen. Dieses Miteinander hat unter anderem das Ziel, die weltweite Dimension von Gemeinde sichtbar zum Ausdruck zu bringen.

[3] Diese drei Kennzeichen werden beispielsweise im Niederländischen Glaubensbekenntnis von 1561 (Artikel 29) oder im Heidelberger Katechismus von 1563 (Fragen und Antworten 65 bis 85) zusammengefasst. Da es sich um eine menschliche Einteilung handelt, ist es natürlich möglich, die Kennzeichen anders zusammenzufassen. Einige Reformatoren ordneten die Gemeindezucht den Sakramenten zu, wiederum andere ordneten die Sakramente als sichtbares Wort der Verkündigung des Evangeliums zu. In den letzten Jahrzehnten sind die Neun Merkmale einer gesunden Gemeinde des amerikanischen Pastors Mark Dever auch in reformatorisch geprägten Gemeinden im deutschsprachigen Raum bekannt geworden. Die meisten seiner neun Merkmale (Predigt, Jüngerschaft, Evangelisation…) sind dabei Anwendungen der Verkündigung des Evangeliums mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in unterschiedlichen Kontexten. Siehe: Dever, Mark, Neun Merkmale einer gesunden Gemeinde. Waldems [3L-Verlag] 2009.

[4] Piper, John: Let the Nations be glad – The Supremacy of God in Missions. Grand Rapids [Baker] 2003, S. 17 (Übersetzung JK).

[5] Aus diesem Grund wird es in einem der nächsten Artikel dieser Serie um Anbetung und Gottesdienstablauf gehen.