Körper, Kirche und Corona – warum körperliche Gemeinschaft für die Gemeinde unverzichtbar ist

Körper, Kirche und Corona – warum körperliche Gemeinschaft für die Gemeinde unverzichtbar ist

Der menschliche Körper steckt in einer Krise – und das trotz Fitnessstudios, Schönheitsoperationen und Ernährungskonzepten. Nein, es ist nicht der Körper an sich, der in einer Krise steckt, sondern die Sicht unserer Kultur auf den Körper.[1] Über Jahrhunderte hatte unsere vom Christentum geprägte Kultur – von Ausnahmen abgesehen – eine hohe Sicht auf den Körper. Besonders in den letzten Jahrzehnten hat sich das jedoch dramatisch zum Negativen verändert. Diese falsche Sicht über den menschlichen Körper ist nicht neu. Bereits zur Zeit Jesu stand das griechische Denken dem Körper ablehnend gegenüber. Ziel des Lebens war für die Griechen (geprägt durch die Philosophie Platons) die Befreiung der Seele aus dem „Gefängnis“ des Körpers.

Die biblische Sicht auf den Körper

Das Christentum hat von Anfang an die Geringschätzung des Körpers abgelehnt. Denn: Der Körper ist von Gott geschaffen und damit gut. Gott hat den Menschen als Einheit aus Körper (dem sichtbaren, materiellen Teil) und Seele (dem unsichtbaren, immateriellen Teil) geschaffen (1Mos. 2,7). Sowohl Körper als auch Seele sind vom Sündenfall betroffen. Als Folge davon zerfällt der Körper langsam, bis er stirbt. Der Mensch gebraucht ihn, um zu sündigen (Röm. 6,6.11–13; Kol. 3,5)[2]. Aber: Das Grundproblem des Menschen ist nicht in seiner Körperlichkeit zu suchen, sondern es liegt darin, dass der Mensch (mit Körper und Seele) gegen Gott rebelliert.

Weil der Körper Teil der guten Schöpfung Gottes ist, spricht das Wort Gottes sehr wertschätzend über ihn, auch nach dem Sündenfall. David beschreibt detailliert, wie wunderbar Gott seinen Körper geformt hat (Ps. 139,13–15). Gottes Sohn war sich nicht zu schade, einen menschlichen Körper anzunehmen (Joh. 1,14; 1Tim. 3,16) und auch wieder mit einem Körper aufzuerstehen (Lk. 24,37–43). Für Christen steigt die Bedeutung des Körpers noch einmal, da er bei ihnen zum Tempel des Heiligen Geistes geworden ist (1Kor. 6,19.20). Die Heilige Schrift betont ausdrücklich, dass wir das ganze Leben mit unserem Körper als Gottesdienst führen sollen (Röm. 12,1; 6,19; 1Kor. 6,20). Ein zentraler Teil der Neuschöpfung wird es sein, dass wir Christen neue Körper bekommen werden. Wir werden also bis in alle Ewigkeit körperliche Wesen bleiben (1Kor. 15,44; Hi. 19,26).

Nicht selten wurde das Christentum von einer griechisch beeinflussten Körperfeindlichkeit erfasst. Gegen solche Entwicklungen mussten bereits Paulus (Kol. 2,20–23; 1Tim. 4,3) und Johannes (1Joh. 4,2) kämpfen. Später gab es immer wieder asketische Gemeinschaften, die die Ansicht vertraten, es gefalle Gott, wenn man den Körper möglichst wenig pflege. Aber grundsätzlich hat das Christentum dazu geführt, dass die westliche Kultur über Jahrhunderte eine sehr positive und hohe Sicht auf den Körper hatte.

Zwischenmenschliche Liebe als Ebenbilder Gottes

Gott schuf uns Menschen jedoch nicht lediglich als Wesen aus Körper und Seele, sondern er erschuf uns auch in seinem eigenen Bild (1Mos. 1,26.27). Ein wichtiger Aspekt dieser Ebenbildlichkeit ist es, dass der Mensch auf liebende Gemeinschaft mit anderen Menschen angelegt ist. Denn als dreieiniger Gott ist Gott selbst ein Wesen in Gemeinschaft. Seit aller Ewigkeit und bis in alle Ewigkeit genießen die drei Personen der Dreieinigkeit die beste, engste und liebevollste Gemeinschaft, die es überhaupt nur geben kann (Joh. 17,5.10; 1Joh. 4,7.8.15.16).

Nach der Erschaffung Adams erklärte Gott: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei (1Mos. 2,18), und er erschuf die Frau. Adam reagierte darauf mit einem begeisterten Ausruf, den man in unsere heutige Sprache am besten mit „Wow“ oder „Hammer“ übersetzen kann (1Mos. 2,23, die Schlachter 2000–Übersetzung gibt das hebräische Wort mit Das ist endlich wieder.) Adam war sich sofort bewusst, dass es die Gemeinschaft mit einem anderen Menschen war, die ihm noch gefehlt hatte. Gott schuf also direkt am Anfang die Ehe als engste Liebesgemeinschaft auf dieser Erde. Es war eine Beziehung, die in einer gewissen Weise die Liebe Gottes innerhalb der Dreieinigkeit widerspiegelt. Die Menschen sollten sich dabei nicht nur seelisch nahe sein (anhängen – 1Mos. 2,24), sondern ihrer gegenseitigen Zuneigung auch körperlich Ausdruck verleihen, indem sie zusammenwohnen (Vater und Mutter verlassen) und sexuelle Gemeinschaft haben (ein Fleisch werden). Kurzum: Adam und Eva sollten ihre Liebe als ganze Menschen, also sowohl mit ihrer Seele als auch mit ihrem Körper Ausdruck verleihen.

Ziellose Körper

Wie gesagt: Geprägt vom Christentum hatte unsere Kultur lange Zeit eine sehr hohe Sicht auf den Körper. Da Gott unsere Körper mit einer Absicht und einem Ziel geschaffen hat, können wir bereits an unserem Körper ablesen, welches Geschlecht wir haben. Wir sehen an unserem Körper, dass wir für das andere Geschlecht geschaffen sind. Unser Körper verrät uns auch, welche Aufgabe Gott für uns bei der Fortpflanzung vorgesehen hat.[3]

Mit der Verdrängung des Christentums durch die Aufklärung und den darauffolgenden Geistesströmungen wurde die Sicht auf unseren Körper wieder niedriger eingeschätzt. Die Evolutionstheorie leugnet nicht nur die Existenz der Seele. Da sie nicht von einem planvollen Schöpfer ausgeht, ist der menschliche Körper ihr zufolge auch nicht mit einer bestimmten Absicht oder für ein bestimmtes Ziel geschaffen.

Ausgehend von dieser Sichtweise ging ab Mitte des 20. Jahrhunderts der Existentialismus davon aus, dass der Mensch nun selbst seine Bestimmung und seinen Lebenssinn festlegen könne. Unser Körper wurde dadurch langsam aber sicher zu etwas, das in sich selbst völlig ziellos ist und dem ich als Person selbst einen Sinn und Zweck verleihen muss. Diese Denkweise prägt uns immer mehr.[4] Von diesem Denken aus ist es nur konsequent, dass der Mensch selbst darüber bestimmt, welches Geschlecht er hat und zu welchem Geschlecht er sich sexuell hingezogen fühlt. Der Körper ist mittlerweile nicht mehr Teil des eigenen Menschseins, sondern etwas, dass man besitzt und von daher eben auch definieren kann und muss.

Nächstenliebe ist körperliche Liebe

Das biblische Menschenbild ist völlig anders. Wir haben bereits gesehen: Der Mensch ist (1.) in Gottes Bild für liebevolle mitmenschliche Beziehungen geschaffen, und er soll (2.) diese liebevollen Beziehungen als ganzer Mensch – mit Seele und Körper – zum Ausdruck bringen.

Dieser Grundsatz gilt natürlich in der Ehe, aber nicht nur dort. Die Ehe ist die engste mitmenschliche Beziehung. Deswegen ist dort die körperliche Ausdrucksform auch am engsten. Das Gebot einander zu lieben, um auf diese Weise unseren liebenden Vater im Himmel widerzuspiegeln, gilt aber gegenüber jedem Menschen (Mt. 5,44–47; Lk. 10,25–37), ganz besonders auch im Blick auf Familienmitglieder (2Mos. 20,12; Eph. 6,1–4) und eben auch gegenüber der eigenen Gemeinde (Joh. 13,34.35; Gal. 6,10). Deswegen hat nicht nur die eheliche Liebe, sondern jede Form der Nächstenliebe eine körperliche Dimension[5].

Diese These wirkt auf den ersten Blick überraschend. Haben wir jedoch im Hinterkopf, dass wir als Menschen mit Seele und Körper geschaffen sind, dann wird der Punkt klarer: Es geht darum, dass Nächstenliebe im Normalfall von uns als ganze Menschen – also mit Körper und Seele – gelebt werden soll. Oder anders formuliert: Die Liebe wird durch freundliche körperliche Nähe zum Ausdruck gebracht.

Solange die eigenen Kinder klein sind, nimmt man sie auf den Arm; gute Freunde und Familienmitglieder umarmt man und gibt ihnen in manchen Kulturkreisen einen Kuss. Trifft man weiter entfernte Bekannte und Kollegen, gibt man sich die Hand. Selbst wenn man einen Raum mit vielen Leuten betritt und auf eine körperliche Begrüßung verzichtet, lächelt man meistens in die Runde und grüßt freundlich (gewissermaßen eine Körperlichkeit über Sprache und Mimik).

Natürlich gibt es Unterschiede, je nachdem wie eng meine Beziehung zu der jeweiligen Person ist. Wie bereits erwähnt, ist die Beziehung zum eigenen Ehepartner am engsten, weswegen dort auch die körperliche Gemeinschaft am engsten ist. Von daher soll in der Ehe die sexuelle Gemeinschaft die gegenseitige Liebe zum Ausdruck bringen (1Kor. 7,3–5). Aber noch einmal: Die Körperlichkeit der Liebe ist nicht auf die Ehe beschränkt, auch wenn sie dort durch den sexuellen Aspekt einzigartig ist.

Körperliche Nächstenliebe in der Bibel

Den körperlichen Aspekt der Nächstenliebe bestätigt das Wort Gottes überall: Der Vater lief auf seinen verlorenen Sohn zu, schloss ihn in seine Arme und küsste ihn (Lk. 15,20). Jesus nahm die Kinder auf den Arm, als er sie segnete (Mk. 10,16). Paulus schreibt an die Thessalonicher: Wir waren liebevoll in eurer Mitte, wie eine stillende Mutter ihre Kinder pflegt. Und wir sehnten uns so sehr nach euch, dass wir willig waren, euch nicht nur das Evangelium Gottes mitzuteilen, sondern auch unser Leben, weil ihr uns lieb geworden seid (1Th. 2,7.8).

Auch an anderen Stellen bringt Paulus seine Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Glaubensgeschwistern zum Ausdruck (Röm. 1,11; 1Th. 3,6; Phil. 1,8; 2,25.26). Selbst Jesus sehnte sich nach Gemeinschaft mit seinen Jüngern (Lk. 22,15), und er versprach für die Zeit nach seiner Himmelfahrt, dass er ganz besonders dann nahe bei seinen Jüngern sein wird, wenn sie zusammenkommen (Mt. 18,20). Im Vertrauen auf diese Verheißung war es für die ersten Christen selbstverständlich, sich zu versammeln (Apg. 10,27; 12,12; 14,27; 20,7; 1Kor. 11,17.18.20.34; 14,26). Vernachlässigten sie das Zusammenkommen, wurden sie ernsthaft ermahnt, die Versammlungen nicht zu verlassen (Hebr. 10,25).

Als Paulus auf dem Weg nach Rom war, kamen ihm die Christen eine große Wegstrecke entgegen (Apg. 28,15.16). Mit Umarmungen und Küssen machten die Ältesten aus Ephesus deutlich, wie sehr es sie traf, dass sie Paulus auf dieser Erde wohl nicht mehr wiedersehen würden (Apg. 20,37.38). Gerade in schwierigen Zeiten ist (körperliche) Gemeinschaft das, womit Menschen sich trösten und was sie innerlich stärkt. Paulus schreibt an die Korinther: Denn als wir nach Mazedonien kamen, hatte unser Fleisch keine Ruhe, sondern wir wurden auf alle Art bedrängt, von außen Kämpfe, von innen Ängste. Aber Gott, der die Geringen tröstet, er tröstete uns durch die Ankunft des Titus; und nicht allein durch seine Ankunft, sondern auch durch den Trost, den er bei euch empfangen hatte. Als er uns berichtete von eurer Sehnsucht, eurer Klage, eurem Eifer für mich, da freute ich mich noch mehr (2Kor. 7,5–7).

Eine enge seelische Gemeinschaft wird in der Heiligen Schrift in der Regel durch eine enge physische Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht. Wenn dies durch die räumliche Distanz nicht möglich ist, wird es als Problem angesehen (2Tim. 1,4; 4,9.21). Das liegt darin begründet, dass beides einander bedingt: Enge physische Gemeinschaft schafft seelische Verbundenheit, und eine enge seelische Verbundenheit verlangt nach körperlicher Nähe. Körper und Seele müssen gemäß der Heiligen Schrift unterschieden werden. Sie dürfen aber nicht voneinander getrennt werden.[6] Auch aus diesem Grund ist das Volk Gottes im Neuen Bund nicht einfach eine weltweite unsichtbare Größe („unsichtbare Gemeinde“), sondern sie manifestiert sich in Ortsgemeinden, deren Kernveranstaltung der (Präsenz-)Gottesdienst ist.[7]

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass unsere Einheit in der Gemeinde in der Einheit des Gläubigen mit Christus verankert ist: Christus ist das Haupt, die Gemeinde, ist mit ihm engstens als sein Leib verbunden. Auch die Einheit des Gläubigen mit Christus ist keine rein geistige Angelegenheit. Paulus betont, dass unsere Körper (also nicht nur unsere Seelen) Glieder des Christus sind (1Kor. 6,15).

Schon der Volksmund sagt: „Aus dem Auge, aus dem Sinn“. Fehlt die physische Gemeinschaft, leidet in der Regel auch die seelische Gemeinschaft. Dies wird in der Corona-Zeit besonders deutlich.

Die Folgen von Physical Distancing

„Nächstenliebe heißt jetzt Abstand halten“, meinte Armin Laschet, der Ministerpräsident von NRW und kürzlich gewählte CDU-Vorsitzende. Er fügte hinzu, dass eine solche Nächstenliebe nicht minder herzlich sei.[8] Zur selben Zeit debattierten Soziologen und Psychologen über die Frage, ob es sich beim Abstandhalten um Social Distancing (soziales Abstandhalten) oder um Physical Distancing (körperliches Abstandhalten) handelt. Der zunächst gebrauchte Begriff des Social Distancing wurde dabei kritisiert, da er suggeriere, dass das (physische) Abstandhalten auch sozialen Abstand, also ein tatsächliches Auseinanderleben zur Folge habe.[9]

Aus biblischer Sicht ist aber beides nicht zu trennen. Physische Distanz begünstigt soziale Distanz, während physische Nähe soziale Nähe schafft.

Dieser Zusammenhang zeigt sich momentan angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen während des Lockdowns. Die negativen psychischen Folgen des körperlichen Abstandhaltens lassen sich nämlich kaum noch ignorieren. Der Tagesspiegel berichtete im Dezember 2020 über die starke Zunahme von Depressionen und Angststörungen.[10] Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wies bereits im Oktober des vergangenen Jahres auf die ernstzunehmenden psychischen Folgen der Coronaverordnungen hin.[11]

Lange Zeit war in den Medien die Rede von einer sogenannten Triage aufgrund der hohen Zahl an Corona-Patienten, die beatmet werden müssen. Unter diesem Begriff versteht man das Problem, dass ein Arzt aufgrund einer zu hohen Anzahl von bedürftigen Patienten entscheiden muss, welchen von den Bedürftigen er behandelt und welchen nicht. Zu einer solchen Triage ist es jedoch im deutschsprachigen Raum wegen Corona bisher noch nicht gekommen.

Stattdessen sorgte ein Fall in einer Wiener Kinder- und Jugendpsychiatrie für Aufsehen, als einer der dort tätigen Ärzte von einer Triage an seiner Einrichtung berichtete. Diese wurde allerdings nicht durch das Corona-Virus ausgelöst, sondern durch die hohe Anzahl von Kindern und Jugendlichen, bei denen die Vereinsamung durch Physical Distancing heftige psychische Folgen hatte.[12] In meinem Arbeitsalltag als Lehrer beobachte ich dasselbe. Gerade Schüler, die ohnehin schon mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, leiden unter dem Distanzunterricht massiv.

Die Heilige Schrift bezeugt durchgehend, dass der Mensch auf soziale Kontakte angewiesen ist, wobei die körperliche Nähe ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Kontakte ist, da der Mensch nicht auf seine Seele reduziert werden kann. Die Erfahrungen während der Corona-Einschränkungen bestätigen dies uneingeschränkt: Physical Distancing führt zu Social Distancing, also zu allem möglichen psychischen und emotionalen Leid bis hin zu einer deutlich erhöhten Zahl von Suiziden.[13]

Nicht umsonst sagt man über Menschen, mit denen man nicht gut klarkommt: „Der Person gehe ich lieber aus dem Weg.“ Man beschreibt mit Hilfe von körperlicher Sprache („aus dem Weg gehen“), wie man innerlich zu der Person steht. Selbst Menschen, die die biblische Weltanschauung nicht teilen, wissen also intuitiv, dass Liebe nicht vom körperlichen Aspekt zu trennen ist. Nächstenliebe durch bewusstes Abstandhalten, wie von Armin Laschet beschwichtigend gefordert, gibt es nicht.

Wenn der Körper des anderen zur Gefahr wird

Nun leben wir in einer gefallenen Welt. Während die körperliche Nähe zu anderen Menschen für uns unverzichtbar ist, kann die Nähe für uns zur Gefahr oder zumindest unerfreulich werden. Menschen können uns Gewalt antun. Die Anwesenheit von sündigen Menschen kann für uns zur Belastung werden (2Petr. 2,8). Und natürlich können Krankheiten auf uns übertragen werden.

In solchen wenigen Ausnahmefällen gebietet es die Nächstenliebe, sich tatsächlich (körperlich) zurückzuziehen. Auch wenn ich zu Cholerik neige und merke, dass ich gleich explodiere, sollte ich von anderen Menschen Abstand halten. Habe ich eine ansteckende Krankheit, habe ich selbstverständlich den Kontakt mit Menschen zu meiden. Wenn ich weiß, dass jemand anderes durch sein Verhalten für mich zur Gefahr wird, ist es ebenfalls angebracht, mich von ihm zurückzuziehen. Die aktuellen Maßnahmen gehen aber weit darüber hinaus. Nicht die tatsächliche Gefährdung durch die Krankheit erfordere Physical Distancing, sondern es wird nach dem Motto verordnet, jeder sei – potentiell – mit Corona infiziert.

Die entscheidende Frage lautet: Ist eine potentielle Gefährdung ein ausreichender Grund, die körperliche Nähe zum anderen für gefährlich zu halten? Die Antwort lautet: Eventuell mag auch dies in wenigen Ausnahmefällen geboten sein, aber dann muss es sehr gut begründet werden. Grundsätzlich sind wir dazu aufgerufen, die Nähe des anderen zu suchen. Zur Nächstenliebe gehört es, unseren Mitmenschen ein Grundvertrauen entgegenzubringen, indem wir davon ausgehen, dass sie unser Bestes wollen. Das gilt gerade in unserer vertrauten Umgebung, also in unserer Familie, bei unseren Freunden und – in unserer Gemeinde. Es gilt also vor allem in den Bereichen, in denen Gott uns explizit gebietet, die körperliche Nähe zueinander zu suchen.

Nun mag es sein, dass wir der Überzeugung sind, von einer Person schon aufgrund einer potentiellen Gefahr, die von ihr ausgehen könnte, Abstand halten zu müssen. Wir haben uns dann jedoch darüber im Klaren zu sein, dass wir nicht mehr bereit sind, dieser Person dieses Grundvertrauen entgegenzubringen. Die Kirchengeschichte vermittelt hier jedenfalls eine völlig andere Botschaft. Sie ist voll von Beispielen, dass Christen in Seuchenzeiten (mit einer wesentlich höheren Sterblichkeitsrate [!] als bei Corona) die Gemeinschaft mit anderen bewusst suchten, die Kirchen aus Überzeugung geöffnet hielten und dass sie sich selbst in Todesgefahr begaben, um Kranken in ihrem Todeskampf beizustehen.

Wenn wir nämlich vorbeugend die körperliche Nähe anderer Menschen als eine potentielle Gefahr erachten, müssten wir konsequenterweise dauerhaft jeglichen physischen Kontakt meiden. Schließlich besteht eine gewisse (wenn auch geringe) Wahrscheinlichkeit, dass der andere mich verletzt. Jedes Mal, wenn ich in ein Auto steige, bringe ich mich und andere in Gefahr. Jedes Mal, wenn ich eine Gemeinde besuche, bringe ich mich in die Gefahr, ein Virus mit nach Hause zu bringen – und zwar unabhängig davon, ob Corona-Zeit ist oder nicht.

Gottesdienste auf Abstand?

Der technische Fortschritt und die Digitalisierung haben den Trend zur Geringschätzung des Körpers in unserer Kultur weiter verstärkt. Denn dadurch wurde es möglich, gewisse Aspekte physischer Gemeinschaft durch virtuelle Gemeinschaft zu simulieren. Viele Vorteile der physischen Gemeinschaft lassen sich mithilfe von Videokonferenzen (scheinbar) am Computer erleben, ohne dass man das eigene Haus verlassen oder auch nur in die Nähe des anderen kommen muss.

Einerseits ist die Digitalisierung ein Geschenk. Sie hat das Leben in vielen Bereichen stark vereinfacht: Mit Familienmitgliedern oder Freunden, die hunderte von Kilometern entfernt wohnen, kann man jederzeit unkompliziert kommunizieren. Auch viele Folgen der Corona-Maßnahmen werden durch die Digitalisierung abgefangen, aber eben bei weitem nicht alle.

Es wäre falsch, die Kommunikation über digitale Medien grundsätzlich schlecht zu reden – ganz im Gegenteil: Gerade als Christen dürfen wir dankbar für die vielen sich damit bietenden Möglichkeiten sein. Es ist nicht nur möglich, Gottesdienste aufzunehmen und ins Internet zu stellen, sondern sie sogar live zu übertragen.

Andererseits dürfen wir niemals meinen, dass geistliche Gemeinschaft über Medien (Videokonferenzen, Livestreams…) wirkliche körperliche Gemeinschaft auch nur annähernd ersetzen kann. Denn so hilfreich es ist, den Gottesdienst live von zu Hause aus mitzuverfolgen – der körperliche Aspekt der Gemeinschaft fehlt. Dieser kann auch nicht durch noch bessere Mikros, ein noch schärferes Kamerabild oder noch teurere Boxen ausgeglichen werden. So schön es ist, dass es möglich ist, den anderen digital zu hören und mittlerweile sogar zu sehen – er ist und bleibt körperlich abwesend. Der entscheidende Punkt ist: Körperliche Anwesenheit kann durch digitale Medien niemals ersetzt werden.

Abstand trotz Präsenz

Im Unterschied zum Livestream kommt der körperliche Aspekt zum Tragen, wenn man zurzeit einen Gottesdienst besucht. Dennoch ist seit mittlerweile einem Jahr (!) die körperliche Gemeinschaft im Gottesdienst stark eingeschränkt (wenn Präsenzgottesdienste überhaupt möglich sind). Folgende Dinge, durch die Christen normalerweise körperlich ihre Liebe zum Ausdruck bringen, sind von den staatlichen Verordnungen in Deutschland aktuell verboten (Stand Anfang März 2021):

  • das Händeschütteln bzw. Umarmen (unsere kulturellen Entsprechungen des Bruderkusses) durch die Abstandsregelungen (Röm. 16,16; 1Kor. 16,20; 2Kor. 13,12; 1Th. 5,26)
  • das gemeinsame Singen – zu Gott und zueinander (Eph. 5,19)
  • das gemeinsame Essen nach dem Gottesdienst (1Kor. 11,33)
  • in größeren Gemeinden: das (körperliche) Zusammenkommen der gesamten Gemeinde (unter anderem Apg. 2,42) bzw. das Versammeln, ohne ständig auf den Abstand achten zu müssen
  • das Zusammenstehen/-sitzen beim Abendmahl (ein Abendmahl mit Abstand ist eine Art Widerspruch in sich, da das Abendmahl die Einheit des Leibes Christi betont – 1Kor. 10,16.17)
  • das einander durch Mimik Ermutigen (durch die Maskenpflicht)
  • selbst mündliche Kommunikation wird durch den einzuhaltenden Abstand, fehlende Mimik und das Schlucken von Geräuschen durch die Masken massiv beeinträchtigt.

Was wiegt schwerer?

Stellen wir uns die aktuelle Situation der Gemeinden als eine Waage vor. Auf der linken Seite dieser Waage ist das Corona-Virus mit seinen Gefährdungen. Bestünde nur die linke Seite der Waage, wäre es naheliegend, die körperliche Gemeinschaft als Gemeinde deutlich zu reduzieren. Aber es gibt auf dieser Waage eben auch eine rechte Seite. Leider wird diese andere Seite häufig ignoriert oder kleingeredet. Aber die Gewichte auf dieser Seite wiegen schwer. Es sind – wie dargelegt – unter anderem:

  • die Schönheit von körperlicher Gemeinschaft, für die Gott uns geschaffen hat
  • das Gebot Gottes zur physischen Versammlung (Hebr. 10,25)
  • das Gebot Gottes zum gemeinsamen Singen in der Gemeinde (Eph. 5,19)
  • die negativen Folgen für die Einheit der Gemeinde („aus dem Auge, aus dem Sinn“)
  • die starke Einschränkung, Gäste nach Hause einzuladen (Hebr. 13,2; Röm. 12,13)
  • psychische Leiden aufgrund von Einsamkeit (gerade bei Singles und älteren Leuten in der Gemeinde).

Wenn ich mich mit anderen Christen unterhalte oder Stellungnahmen von Kirchenvertretern lese, hört sich das häufig folgendermaßen an: Zwar sei es schade, dass man sich zurzeit nur sehr eingeschränkt treffen könne, aber man hoffe darauf, dass es bald wieder möglich sei. Nicht nur die staatlichen Verordnungen,[14] sondern auch die Nächstenliebe würden es zurzeit gebieten, auf Abstand zu gehen. Zudem sei es wichtig, dass wir als Christen durch vorbildliches Abstandhalten ein gutes Zeugnis seien.[15] Der Livestream schaffe guten Ersatz, und so bedauerlich das Ganze an sich auch sei – Corona lasse uns keine andere Wahl.[16]

Am 15. Dezember letzten Jahres trafen sich der Generalsekretär des Bundes Ev.-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG), Christoph Stiba und der Beauftragte der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF), Konstantin von Abendroth, mit Vertretern der Bundespolitik. Das Ergebnis dieses Treffens war, dass man sich als Freikirchen mit dem Bundesinnenministerium darauf geeinigt habe, die Beschlüsse von Bund und Ländern (einschließlich des Gesangsverbots) umzusetzen. Mit keinem Wort erwähnten die Freikirchenvertreter in ihrem Statement, dass sie bei diesem Treffen Eingriffe in die Religionsfreiheit angemahnt hätten. Mit keiner Silbe schreiben sie davon, dass sie die negativen Folgen für die Gemeinden angesprochen hätten und darauf gedrängt hätten, den Beschluss und die Umsetzung der Maßnahmen jeweils den Kirchen zu überlassen. Ihre unterwürfige Position bringen sie selbst folgendermaßen auf den Punkt: „Die Religionsfreiheit wird gewahrt, und wir leben sie als Freiheit zum Verzicht.“[17]

Übertroffen werden die Freikirchen von den Volkskirchen. Wie das Medienmagazin Pro berichtete, seien die Verschärfungen der Einschränkungen für Gottesdienste Mitte Januar nicht auf die Initiative der Bundes- und Landesregierungen zurückzuführen, sondern erst auf Druck der großen Kirchen erfolgt, da sich viele Freikirchen bislang nicht an die Maßnahmen gehalten hätten.[18]

Und selbst konservativ-evangelikale Stimmen beschränken sich darauf, die Gemeinde zu ermahnen, die Einheit trotz unterschiedlicher Bewertungen des Corona-Virus zu wahren. Dabei übersehen sie, dass die viel größere Gefahr für die Einheit der Gemeinden in der Einschränkung der (körperlichen) Gemeinschaft liegt. Ohne die langfristigen Folgen von Physical Distancing zu bedenken, wird lediglich behauptet, dass die zeitlich begrenzten Verordnungen zu Maske und Abstandhalten nicht grundsätzlich gegen biblische Gebote verstoßen würden.[19] In solchen Stellungnahmen kommt eine Sache zum Ausdruck: Die rechte Seite der Waage wird nicht gesehen.[20]

Zu Recht stellt der Theologe Benjamin Kilchör in einem Beitrag für die Zeitung Die Ostschweiz die Frage: „Was ist mit unseren Kirchen los?“ In seiner Polemik schreibt er: „Vieles, was im Kampf gegen Corona getan wird, ist menschenverachtend. Doch die Kirchen ziehen sich darauf zurück, nichts politisch falsch zu machen, der Politik den Rücken zu stärken – was immerhin damit gedankt wird, dass sich 50 Personen zum schweigenden, gesichtsverhüllten Hören von Predigten versammeln dürfen, was natürlich ein Privileg gilt („die anderen dürfen ja noch weniger“). Viel ist über den Verlust der christlichen Werte in der Gesellschaft debattiert worden. Doch nicht die Gesellschaft, sondern die Kirchen haben die christlichen Werte verloren. Nicht die Gesellschaft, sondern die Kirche hat sich säkularisiert.“[21]

Wie geht es weiter?

Angesichts dieser ernüchternden Sachlage stelle ich folgende Fragen: Könnte es nicht sein, dass wir Christen die rechte Seite der Waage unter anderem deswegen so wenig gewichten, weil wir vom Zeitgeist die Geringschätzung des Körpers übernommen haben?[22]

Oder anders gefragt: Sind wir wirklich bereit, die körperliche Anwesenheit und Zugewandtheit (mitsamt Mimik, Nähe und Körperkontakt), die gemäß der Heiligen Schrift und der Schöpfungsordnung ein unverzichtbarer Aspekt der Nächstenliebe sind, als Bedrohung und nicht als Bereicherung anzusehen?

Ich habe den Eindruck, dass aktuell diejenigen als verrückt angesehen werden, die physische Nähe für eine Bereicherung halten. Dabei liegt die Beweislast auf der Seite derer, die den Körper des anderen einseitig als Bedrohung wahrnehmen und dies der Gemeinde zu vermitteln suchen. Sie müssen gut und nachvollziehbar begründen können, warum es ausgerechnet an dem Ort, an dem Nächstenliebe gelebt werden soll wie sonst nirgendwo in dieser Welt, in Ordnung ist, die physischen Aspekte der Nächstenliebe preiszugeben. Anders formuliert: Sie müssen zeigen, dass die linke Seite der Waage schwerer wiegt als die rechte.

Dabei leugne ich keineswegs das Corona-Virus. Ich habe gute Freunde, die die Krankheit durchlitten haben, manche schwerer, manche weniger schwer. Es geht mir auch nicht darum, die Gemeinde zum Ungehorsam gegenüber den staatlichen Behörden aufzurufen. Es geht mir in diesem Artikel grundsätzlich nicht um die linke Seite der Waage, sondern um die rechte: Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass „aus dem Auge, aus dem Sinn“ keine bloße Floskel ist. Die Gefahr ist groß, dass Leute am Rand der Gemeinde auf der Strecke bleiben. Es besteht die reale Gefahr, dass Singles und ältere Menschen unserer Gemeinden vereinsamen mit all den negativen Konsequenzen, die das nach sich zieht. (Körperliche) Gemeinschaft mit anderen Christen ist ein unverzichtbares Mittel, das Gott benutzt, um uns im Glauben zu bewahren, zu ermutigen und zu stärken (zum Beispiel: 1Kor. 12,21–25; Röm. 12,5–8). Von daher ermutige ich Sie, auf jeden Fall den Präsenzgottesdienst Ihrer Gemeinde zu besuchen – auch dann, wenn Sie die Corona-Maßnahmen Ihrer Gemeinde für zu locker oder für zu einschränkend halten. Sollte Ihre Gemeinde keine Präsenzgottesdienste veranstalten, besuchen Sie auf jeden Fall den (Präsenz-)Gottesdienst einer anderen bibeltreuen Gemeinde in Ihrer Umgebung.

Und vor allem die Verantwortungsträger in Gemeinden, Verbänden und Netzwerken möchte ich aufrütteln, dass wir anfangen, die gegenwärtigen Maßnahmen als massives Problem für den Fortbestand und die Gesundheit unserer Gemeinden zu sehen.

Wie wäre es, wenn Verbände anfangen würden, die negativen psychischen, emotionalen sowie die geistlichen Folgen des Physical Distancing anzumahnen, anstatt einfach die grundgesetzwidrigen Beschlüsse der Corona-Kabinette abzunicken?

Wie wäre es, wenn die Kirchen anfangen würden, auf Artikel 4 des Grundgesetzes zu verweisen und darauf zu bestehen, dass die „ungestörte Religionsausübung“ gegenwärtig eben nicht gewährleistet ist?

Wie wäre es, wenn Gemeinden wieder anfangen würden, eine erfrischende Gegenkultur in einer körperfeindlichen Welt zu leben, anstatt vor lauter Streben nach Relevanz zunehmend sich selbst zu säkularisieren?

Und wie wäre es, wenn wir als Christen insgesamt wieder begreifen würden, dass körperliche Gemeinschaft kein Luxusgut, sondern für die Gemeinde Jesu Christi überlebensnotwendig ist?


[1] Für eine prägnante Einführung in das biblische Denken über den Körper sowie die Geistes- bzw. Kirchengeschichte in Bezug auf die Körperlichkeit empfehle ich die Einleitung und das erste Kapitel des Buches Liebe deinen Körper von Nancy Pearcey, Betanien [Augustdorf] 2019, S. 13–66. Das erste Kapitel trägt den pointierten Titel: Ich hasse mich – Aufstieg und Niedergang des menschlichen Körpers. Die Verfasserin schreibt dazu: „Ist es wahr, dass die westliche Kultur den Körper abwertet? Legen nicht viele geradezu lächerlich viel Wert auf das Äußere und die Fitness? Denken wir an die weit verbreitete Obsession mit Diäten, Sport, Bodybuilding, Kosmetik, plastischer Chirurgie, Botox, Anti-Aging […]. Aber vom Körper besessen zu sein, bedeutet nicht, dass wir ihn annehmen. […] ‘Die kulturelle Praxis drückt Abneigung gegen den Körper aus.’ […] Eine Obsession mit Training, Bodybuilding und Diäten offenbart eine Denkweise ähnlich der eines Autobesitzers, der einen Luxuswagen poliert und aufmotzt. Er wird als Werkzeug behandelt, das benutzt und kontrolliert wird, statt um seiner selbst willen geschätzt zu werden. Damit machen wir den Körper zum Objekt, zu einem erobernden Teil der Natur. […] ‘Das Training, die Straffung, das Abnehmen und die Modellierung des Körpers […] fördern eine feindliche Beziehung zu ihm.’ Diese Praktiken drücken den Willen aus, den Körper zu erobern und zu unterwerfen und letztlich von seinen Zwängen befreit zu werden.“ Pearcey, Nancy R.: Liebe deinen Körper. Betanien [Augustdorf] 2019, S. 45.46.

[2] Wenn Paulus wiederholt das Fleisch als Quelle unserer Sünde bezeichnet (Röm. 6–8; Gal. 5,16–25), meint er damit nicht unseren Körper, sondern unsere sündige, von Adam stammende Natur.

[3] Vgl. Pearcey, Nancy R., Liebe deinen Körper. Betanien [Augustdorf] 2019, S. 28–32.

[4] Einer der ersten, der bereits vor 40 Jahren die fatalen Folgen dieser Entwicklung für die christliche Ethik (insbesondere die Sexualethik) sah, war der damalige Papst Johannes Paul II. Vergleiche sein Buch: Mann und Frau schuf er – Grundfragen menschlicher Sexualität, München u.a. [Neue Stadt] 1981.

[5] Bei dem Begriff körperlich bzw. physisch denkt man heutzutage häufig direkt an sexuelle Körperlichkeit. In diesem Artikel sind die Begriffe jedoch weiter gefasst. Außerhalb der Ehe verwende ich die Begriffe körperlich bzw. physisch ohne sexuellen Anklang.

[6] Anders als im griechischen Denken, in dem der Körper als (minderwertige) Hülle für die Seele angesehen wurde, sieht die Heilige Schrift den Körper als Teil des Menschen. Deswegen kritisiert Paulus die Einstellung der Korinther, man könne mit dem Körper machen, was man wolle. Sünde mit dem Körper hat Auswirkungen auf die Seele, weil beide nicht voneinander getrennt werden können (1Kor. 6,9–20).

[7] Sicherlich ist die starke Betonung des Aspekts der unsichtbaren Gemeinde mit einer gleichzeitigen Abwertung der Ortsgemeinde mit Strukturen, Leitung, Mitgliedschaft ebenfalls auf den gegenwärtigen Trend zurückzuführen, das Körperliche gering zu achten. Ein weiterer Grund für diese Entwicklung ist wohl die postmoderne Geringschätzung von Autorität, Verbindlichkeit und Struktur.

[8] Siehe: https://neuesruhrwort.de/2020/12/24/laschet-naechstenliebe-heisst-jetzt-abstand-halten/ [abgerufen am 13.02.2021].

[9] Siehe beispielsweise: https://www.zhaw.ch/de/sozialearbeit/news-liste/news-detail/event-news/physical-distancing-ja-social-distancing-nein/[abgerufen am 13.02.2021].

[10] https://www.tagesspiegel.de/wissen/studie-ueber-psychische-folgen-der-coronakrise-in-der-pandemie-nehmen-depressionen-und-angststoerungen-stark-zu/26699014.html [abgerufen am 13.02.2021].

[11] https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/publications-and-technical-guidance/noncommunicable-diseases/mental-health-and-covid-19 [abgerufen am 13.02.2021].

[12] https://reitschuster.de/post/ueberlastete-klinik-triage-in-wien-aber-nicht-wegen-covid-19/ [abgerufen am 13.02.2021].

[13] Der Journalist Boris Reitschuster zeigt, dass in Japan allein im Oktober 2020 mehr Menschen durch Suizide ums Leben kamen als im gesamten Jahr 2020 (exklusive Dezember) an Corona. Japan ist deswegen so aufschlussreich, weil es seine Suizidzahlen – anders als Deutschland – zeitnah veröffentlicht. Reitschuster verweist ferner darauf, dass auch die Zahlen der Berliner Feuerwehr eine ähnlich erschreckend hohe Quote für Deutschland nahelegen: https://reitschuster.de/post/viel-mehr-selbstmorde-als-covid-19-tote/ [abgerufen am 13.02.2021].

[14] Zu der Frage, in wie weit es dem Staat gestattet ist, in die internen Angelegenheiten einer Gemeinde einzugreifen, siehe die Stellungnahme der Grace Community Church unter Leitung von John MacArthur in Bekennende Kirche 82, S. 17-24 sowie die in dieser Ausgabe begonnene Artikelserie von Jürgen-Burkhard Klautke.

[15] Dieses Argument wäre dann zutreffend, wenn wir als Christen durch das Abstandhalten, Nichtsingen etc. auf optionale Aspekte unsere Glaubens- und Gemeindelebens verzichten würden. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass diese Dinge wesentlich und unverzichtbar für uns Christen sind.

Als Beispiel können wir uns vorstellen, mit jemandem im Restaurant zu sitzen, der aus Glaubensgründen ein Problem damit hat, Alkohol zu trinken. In einem solchen Fall wäre es tatsächlich biblisch geboten, selbst auf Alkohol zu verzichten, um dem anderen kein Anstoß zu sein. Nehmen wir jedoch an, jemand würde von uns verlangen, überhaupt nichts zu trinken (also nicht einmal Wasser), dann dürfen wir darauf nicht eingehen, denn Trinken ist für uns unverzichtbar.

Übertragen auf die Gemeinde heißt das: Wir dürfen nicht freiwillig auf das Singen etc. verzichten mit der Begründung, es handele sich lediglich um optionale Aspekte unseres Glaubens- und Gemeindelebens.

[16] Andere Christen sind zurückhaltender und argumentieren folgendermaßen: „Für die Seele brauche ich die christliche Gemeinschaft, aber, gerade weil ich meinen Körper (und den der anderen) wertschätze, möchte ich mich vor dem Virus schützen.“ Auch hier gilt: Nicht nur unsere Seele braucht die Nähe zu anderen Menschen, sondern unser ganzer Mensch aus Seele und Körper. Von daher muss ich mir bewusst sein, dass ich als ganzer Mensch Schaden nehme, wenn ich mich körperlich von anderen zurückziehe, und ich muss sehr gut überlegen und begründen, ob dieser massive Nachteil durch den Schutz vor einer Ansteckung aufgewogen wird.

[17] https://www.befg.de/fileadmin/bgs/media/dokumente/2020-12-16-Brief-des-BEFG-Generalsekretars-zur-aktuellen-Corona-Lage.pdf [abgerufen am 13.02.2021]. Das Problem ist nun einmal, dass die Religionsfreiheit aktuell eben nicht gewahrt bleibt. Das sieht man daran, dass eine Gemeinde aktuell nicht die Freiheit hat, die Religionsfreiheit nicht als Freiheit zum Verzicht zu leben. Eine Freiheit, die nur dann gewährt wird, wenn derjenige, dem dieses Freiheitsrecht zusteht, darauf verzichtet, ist keine Freiheit. Etwas Gegenteiliges zu behaupten, ist zynisch.

[18] https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/kirche/2021/01/21/auflagen-fuer-gottesdienste-verschaerft-freikirchen-im-visier-der-politiker/[abgerufen am 13.02.2021].

[19] https://bibelbund.de/2020/11/jesus-im-mittelpunkt-behalten-trotz-corona/ [abgerufen am 13.02.2021]. Da der Aufruf vor dem Gesangsverbot veröffentlicht wurde, wäre es interessant zu erfahren, ob die Initiatoren diese Aussage auch auf das Gesangsverbot beziehen würden.

[20] Wie oben gezeigt, sind es sogar eher noch säkulare Organisationen, die auf die negativen Folgen verweisen, während die Christen weitgehend schweigen.

[21] https://www.dieostschweiz.ch/artikel/was-ist-mit-unseren-kirchen-los-WoQdj4Q [abgerufen am 13.02.2021].

[22] In seinem Artikel The Healing Power of Bodily Presence schreibt Robert Cutillo: „Die heutige Gemeinde erkennt tragischerweise nicht, wie tief die auf Descartes zurückgehende Trennung von Geist und Körper unsere Kultur beeinflusst hat. Während die Kirche ihren eigenen Kampf mit der zu allen Zeiten attraktiven Irrlehre der Gnosis vergessen hat, hat die Trennung zwischen Körper und Seele einen frischen Graben geschaffen, der mitten durch das Herz der heutigen Gemeinde geht. […] Was heute erstaunlicherweise fehlt, ist die tiefe christliche Überzeugung, dass der menschliche Körper eine Gabe ist, dass wir ihn in der Schöpfung erhalten haben in Einheit mit der Seele und dass er uns für körperliche (embodied) Beziehungen zu anderen geschenkt wurde.“ (https://www.thegospelcoalition.org/article/the-healing-power-of-bodily-presence/ – abgerufen am 13.02.2021 [Übersetzung JK]).

In seinem neuen Buch The Rise and Triumph of the Modern Self schreibt Carl Trueman: „Evangelische Christen müssen wieder […] zu einer hohen Sicht auf den Körper zurückkehren. […] Der Protestantismus mit seiner Betonung auf das gepredigte Wort, das durch Glauben ergriffen wird, ist vielleicht besonders anfällig dafür, die Bedeutung des Körperlichen herunterzuspielen. Unsere Identität von der physischen Komponente abzukoppeln und sie ausschließlich im Psychologischen zu verorten, heißt jedoch, dieselben Argumentationslinien zu verwenden wie die Vertreter der Transgender-Ideologie. Eine Rückkehr zum biblischen Verständnis von Körperlichkeit ist unerlässlich.“ (Trueman, Carl: The Rise and Triumph of the Modern Self – Cultural Amnesia, Expressive Individualism and the Road to the Sexual Revolution. Wheaton [Crossway] 2020, S. 405.406 [Übersetzung JK]).