Gemeinde und Gemeindegründung (Teil 12): Gegenseitige Verantwortung in der Gemeinde

Gemeinde und Gemeindegründung (Teil 12): Gegenseitige Verantwortung in der Gemeinde

Christus ist nicht einfach nur mit seiner Gemeinde, er ist in seiner Gemeinde. Als Gemeinde sind wir mit Heiligem Geist getränkt und durch ihn in Christus hineingetauft. Er ist in uns und wir sind in ihm. Er identifiziert sich mit seiner Gemeinde und seine Gemeinde mit ihm. So schreibt es Paulus der zerstrittenen Gemeinde in Korinth. Es ist jedoch interessant, dass er in diesem Abschnitt das Wort Gemeinde gar nicht verwendet. Stattdessen spricht er vom Leib Christi – ein starkes Bild, um unsere enge Verbindung mit ihm aufzuzeigen: Ihr aber seid [der] Leib des Christus, und jeder ist ein Glied [daran] nach seinem Teil (1Kor 12,27).[1]

Bevor Paulus das Zusammenwirken der einzelnen Glieder erklärt, macht er noch einmal deutlich, warum wir Glieder am Leib Christi sein dürfen: Denn wir sind ja alle durch einen Geist in einen Leib hinein getauft worden (12,13).

Mit anderen Worten: Keiner hat es sich verdient, es ist ein Geschenk! Wir gehören zur Gemeinde, weil Christus uns aus unserer Sünde und Verlorenheit errettet hat. Aber das Geschenk bringt Verantwortung mit sich.

Wir sind nicht nur Organisation, sondern ein Organismus! Wir sind der Leib Christi. Wie Paulus in den folgenden Versen darlegt, bedeutet das, dass wir alle besondere Verantwortung füreinander tragen. Durch die „Einander-Gebote“ des Neuen Testaments wird die Verantwortung füreinander beschrieben, zusammengefasst in dem Gebot Jesu: Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben sollt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt (Joh 13,34). An dieser Stelle wird deutlich, dass jeder Christ auch eine spezifische Aufgabe von Gott bekommen hat. Gott gibt jedem einen bestimmten Platz in seiner Gemeinde.

Gottes wunderbarer Bauplan für seine Gemeinde: Gabe und Aufgabe

Nun aber hat Gott die Glieder, jedes einzelne von ihnen, so im Leib eingefügt, wie er gewollt hat (12,18). Unsere Gemeinde entspricht Gottes Entwurf. Jeder Mensch, der ein Glied des Leibes Christi ist, nimmt eine Stelle ein, die Gott liebevoll und mit Bedacht für ihn und die ganze Gemeinde gewählt hat.

Gott arbeitet nicht nach dem Prinzip was nicht passt, wird passend gemacht. Er hat einen wunderbaren Plan, in den jeder perfekt hineinpasst und dringend mit seiner Begabung gebraucht wird.

An dieser Stelle müssen zwei Fragen beantwortet werden: Was sind die Gaben des Heiligen Geistes? Und: Was ist meine Begabung?

Gaben des Heiligen Geistes

In der Bibel gibt es verschiedenen Listen mit Beispielen für Geistesgaben. Um einen guten Überblick zu bekommen, hilft die Einteilung in drei Kategorien von Tim Keller:[2]

  • Redegaben (Verkündigen, Lehren, Seelsorge, Erkenntnis)
  • Führungsgaben (Leitung, Verwaltung, Weisheit)
  • Dienstgaben (Großzügigkeit, Barmherzigkeit, Gastfreundschaft, Wundertaten, Zungenrede samt Deutung, Heilung)

Wir können die Gaben des Geistes auch noch allgemeiner beschreiben: Alles, womit wir dem geistlichen Wachstum der Gemeinde dienen, ist eine Gabe des Heiligen Geistes.

Was ist meine Gabe?

Paulus fordert uns in Römer 12,3 auf, nüchtern, d.h. realistisch über unsere Begabung und Aufgabe nachzudenken: Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben wurde, jedem, der unter euch ist, nicht höher ⟨von sich⟩ zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern darauf bedacht zu sein, dass er besonnen (nüchtern) ist, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat.

Folgende drei Fragen und eine Regel können uns dabei helfen:

  1. Was kann ich? Gott ist mein Schöpfer und der, der mich zum Glauben ruft. Deshalb gibt es meist eine Verbindung zwischen meinen natürlichen Begabungen und der Begabung des Geistes zum Dienst für die Gemeinde.

Auch wenn Gott manchmal gerade die Schwachheit nutzt, indem er z.B. jemanden ohne Redegabe zum Prediger macht, ist der ‚normale‘ und häufigere Weg, der Gemeinde mit dem zu dienen, was ich gut kann. Das sind Dinge, mit denen mich Gott schon von Geburt an beschenkt hat als Geschöpf, als Mensch mit meiner Prägung und Lebenserfahrung. Kann ich z.B. gut mit Kindern umgehen, liegt die Mitarbeit im Kindergottesdienst nahe. Bin ich musikalisch, könnte die Begleitung des Gemeindegesangs meine Aufgabe sein, bin ich offen, gesprächig und auf andere zugehend, liegt die Mitarbeit im Begrüßungsdienst auf der Hand.

Doch nicht immer lässt sich aus meiner natürlichen Begabung ein Dienst zum Segen der Gemeinde ableiten. Denn nicht jeder gute Manager ist zum Ältesten berufen.

  1. Was sagen andere über meine Stärken – gerade wenn ich meine, eher keine besonderen Gaben zu haben? Besonders dann sollte ich mir den Rat geistlich reifer Leute einholen, die mich gut kennen.
  2. Wo kann ich dienen? Es gibt so viele Aufgaben in der Gemeinde, für die es keine besondere Begabung braucht, sondern einfach nur jemanden, der es macht. In Römer 12,7 ist von der Gabe des Dienens die Rede: wenn wir einen Dienst haben, [so geschehe er] im Dienen. In diesem Fall ist das dienende Herz die Gabe des Geistes. Es sieht und tut die Arbeit, die sonst keiner sieht und tut.

Die Regel lautet: Fang im Kleinen an! Auch wenn uns kleinere Dienste nicht spektakulär erscheinen – Gott sieht es und nutzt gerade die unscheinbaren Dienste zur Auferbauung der ganzen Gemeinde. Außerdem ist dies der Weg, um schneller und besser Antworten auf die drei Fragen zu finden, da wir meist unsere Gaben erst erkennen, wenn wir eine Aufgabe übernehmen.

Eine Gemeinde besteht aus von Gott talentierten Mitgliedern, aber sie ist keine Talentshow! Es geht darum, einander zu dienen, um einander zu lieben, damit es keinen Zwiespalt im Leib gebe, sondern die Glieder gleichermaßen füreinander sorgen (12,25).

Die wunderbare Vision Gottes für seine Gemeinde: Einheit durch Vielfalt ohne Zwiespalt

In Korinth kam es durch Stolz und Hochmut gerade aufgrund der jeweiligen Begabungen zu Spaltungen innerhalb der Gemeinde. Die Korinther und auch wir müssen begreifen, dass Einheit ohne Zwiespalt nur durch Vielfalt funktioniert. Nur weil wir verschiedene Gaben und Aufgaben haben, können wir uns ergänzen.

Wir wachsen in unserer Einheit durch unsere Verschiedenheit!

Jeder hat seine Aufgabe in der Gemeinde, jeder ist somit wichtig für und zugleich abhängig von allen anderen. Das führt uns zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen:

Wir sollen einerseits nicht zu hoch von uns denken (Hochmut) und andererseits nicht zu klein (Kleinmut). Unser Denken über uns selbst sollte angemessen sein, aber vor allem sollen wir an die anderen und die Gemeinschaft denken, der wir dienen wollen. Doch genau hier liegt der wunde Punkt, wo der Teufel die Gemeinde oft von innen angreift.

Das Gift des Teufels für die Gemeinde: Selbstgefälligkeit und Selbstmitleid

Jeder von uns ist anders und Gott hat jeden individuell in die Gemeinde eingepasst. Unsere Verschiedenheit ist absolut notwendig für die Einheit des Leibes. Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Ohr wäre, wo bliebe der Geruchssinn? … Nun aber gibt es zwar viele Glieder, doch nur einen Leib (12,17.20).

Der Individualismus jedoch verachtet die Verantwortung für andere. Es gibt hierbei zwei Sorten von Individualismus. Die eine Sorte sagt: „Die anderen brauchen mich nicht!“: Wenn der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum gehöre ich nicht zum Leib! — gehört er deswegen etwa nicht zum Leib? Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum gehöre ich nicht zum Leib! — gehört es deswegen etwa nicht zum Leib? (12,15-16).

Die andere Form von Hochmut sagt: „Ich brauche die anderen nicht!“: Das Auge kann nicht zur Hand sagen: ich brauche dich nicht, oder das Haupt zu den Füßen: ich brauche euch nicht (12,21).

Der Vergleich mit dem menschlichen Körper macht wunderbar deutlich, dass alle Glieder verschieden sein müssen und jedes einzelne von Bedeutung für den ganzen Leib ist. Kein Körperteil ist ohne Funktion, keines umsonst. Jedes Glied hat eine Funktion, die wichtig ist für den Leib als Ganzes.

Selbstmitleid: Manche fühlen sich dennoch als Christen zweiter Klasse oder nicht zugehörig, unnütz und ungebraucht. Weil sie meinen, keine wertvollen Gaben oder Fähigkeiten zu besitzen, lehnen sie sich zurück, lassen andere die Arbeit tun oder ziehen sich zurück in dem Glauben, nicht gebraucht zu werden. Vielleicht sehen sie sich sogar als Last für die Gemeinde – nach dem Motto: ein nichtsnutziger Zehnagel, der Nagelpilz ansetzt, sonst nichts…. Sie denken, die Gemeinde komme ganz gut oder besser ohne sie aus.

Selbstgefälligkeit: Auf der anderen Seite gibt es Christen, die denken, dass die Gemeinde gut auf verschiedene Leute verzichten könne und es keine Rolle spiele, ob diese da sind oder nicht. Stattdessen würden diese Leute sogar Mühe machen, ohne Nutzen zu bringen.

Von sich selbst haben sie hingegen eine hohe Meinung, fühlen sich vielleicht sogar überqualifiziert und meinen, die Hilfe der anderen nicht wirklich zur Erfüllung ihres Dienstes zu benötigen.

Beides – der Individualismus der vermuteten Minderwertigkeit wie auch jener der hochmütigen Unabhängigkeit – ist Sünde und somit Gift für den Leib.[3]

Individualismus steckt in jedem von uns. Es ist nicht nur so, dass wir unabhängig sein wollen. Vielmehr macht die Sünde uns selbstsüchtig, selbstgefällig oder selbstmitleidig. Doch Paulus gibt uns das Gegenmittel für das Gift des Teufels in diesen Versen: gegenseitige Wertschätzung.

Die Arznei Gottes für die Gemeinde: gegenseitige Wertschätzung

Wer denkt, die Gemeinde brauche ihn oder diesen oder jenen nicht oder wer sogar denkt, er brauche keine Gemeinde, unterstellt Gott, beim Bau der Gemeinde geschludert oder dabei nicht richtig nachgedacht zu haben.

Paulus entwickelt darum das Bild vom Leib noch weiter. In Vers 22 spricht er von schwächeren und in Vers 23 von weniger ehrbaren bzw. ansehnlichen Gliedern.

Vielmehr sind gerade die scheinbar schwächeren Glieder des Leibes notwendig (12,22). Was meint Paulus mit den schwächeren Gliedern? Die Korinther legen größten Wert auf die auffälligen, sichtbaren Gaben, während sie die verborgenen kaum oder gar nicht achten.

Nun kann der Mensch auf bedeutende sichtbare Körperteile verzichten. So wichtig unsere Hände auch sind – es ist möglich, mit nur einer Hand oder sogar ohne beide Hände zu leben. Aber ein Mensch kann nicht ohne seine Leber, sein Herz oder auch ohne die meisten anderen inneren Organe leben. Sie sind verborgener, damit weniger beachtet und scheinbar schwächer, aber absolut notwendig. Sie sind auch verletzlicher als äußere Organe, darum werden sie auch auf besondere Weise geschützt durch unser Skelett.

Genauso ist es in der Gemeinde. Auch da gehören zu den notwendigsten Diensten auch immer einige, die nicht so offensichtlich sind. John MacArthur spricht aus langjähriger pastoraler Erfahrung: „Die treuen Gebete und Dienste einiger weniger hingegebener Heiliger, die häufig kein Amt innehaben, sind die verlässlichsten und wirksamsten Kanäle geistlicher Kraft in einer Versammlung.“

Manche haben den besonderen Blick für den einzelnen und können sein Leid auf besondere Weise verstehen und mittragen. Andere sind nicht durch eine auffällige Begabung, sondern durch ihre Hingabe und ihren Eifer ein wichtiges Vorbild in der Gemeinde, das viele positiv beeinflussen kann. Als wir in Osnabrück unsere Gemeinde umgebaut hatten, gab es z.B. einige Helfer, die sich nicht durch handwerkliche Begabung auszeichneten. Aber sie waren bei jedem Einsatz mit größtem Eifer dabei und haben so viele andere ermutigt oder gar herausgefordert, sich ebenfalls mehr einzubringen.

Paulus fährt fort: und die [Glieder] am Leib, die wir für weniger ehrbar halten, umgeben wir mit desto größerer Ehre, und unsere weniger anständigen erhalten umso größere Anständigkeit (12,23). Jeder gesunde Mensch legt großen Wert darauf, manche Körperteile zu bedecken, weil ihr Anblick nicht so schön (dicker Bauch) oder nicht so anständig ist (unsere intimen Körperteile). Wir bedecken im Allgemeinen unseren Rumpf. Hände und Gesicht bleiben frei. Ohne Bedeckung wären der Rumpf und erst recht die inneren Organe nicht ansehnlich (weniger ehrbar). Aber durch die Bedeckung erhalten sie mehr Ehre. Wir drücken damit aus, dass wir sie brauchen, dass auch sie wichtig sind.

Doch in der Gemeinde stehen wir in der Gefahr, Leute, die mehr hinter den Kulissen wirken, zu übersehen, zu vernachlässigen oder als unwichtig zu betrachten. Hingegen wünschen wir uns einen Pastor, der brillant predigt und Älteste, die charismatische Persönlichkeiten sind und voller Weisheit und Gaben die Probleme in der Gemeinde lösen. Vielleicht sollten wir nicht so hohe Anforderungen an die einen stellen, und dafür den anderen mehr Dankbarkeit und Wertschätzung entgegenbringen.

Es gibt so viel wichtige, unentbehrliche Dienste in der Gemeinde, für die wir unsere Dankbarkeit ausdrücken sollten. Wer ist noch bereit und nimmt sich die Zeit, die Alten und Kranken zu besuchen? Aber wie wichtig ist dieser Dienst! In Vers 24 lesen wir: denn unsere anständigen brauchen es nicht. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringeren Glied umso größere Ehre gab.

Ist es nicht so, dass die unter uns, die Leiden und Not über lange Zeit zu tragen haben, von den Übrigen früher oder später als Belastung wahrgenommen werden? Wer beschäftigt sich denn zusätzlich zu den eigenen Problemen im Leben noch gern mit den Nöten anderer? Es strengt uns auf Dauer an, uns mit leidenden Menschen abzugeben und uns ihnen sogar voller Liebe zuzuwenden.

Doch gerade durch Leiderfahrung können Christen ein umso eindrücklicheres Zeugnis für Christus geben. Gerade durch das Leid und die Schwäche, die manche von uns in gewissen Zeiten erfahren und tragen, bewirkt Gott so viel für die ganze Gemeinde. Führt er uns nicht oft durch Leid viel enger zusammen als durch Freude (die wir natürlich auch teilen dürfen)?

Durch gegenseitige Wertschätzung, Unterstützung und Ermutigung können wir dem Gift des Teufels – dem Individualismus – entgegenwirken und Zwiespalt verhindern.

Zusammenfassung

Wer gerettet ist, ist in die Gemeinde hineingerettet – und zwar an genau der richtigen Stelle in den Leib Christi nach Gottes Weisheit eingepasst. Egal, wo Gott dich hingestellt hat – du hast Anteil an allen Gütern, allen Schätzen der Gemeinde. Du bist mit Christus verbunden, frei von allen Sünden und hast das ewige Leben. Und du hast mindestens eine Gnadengabe für deinen Dienst in der Gemeinde.

Fortan trägst du dadurch Verantwortung für die anderen Glieder des Leibes, Verantwortung, deine Aufgabe im Leibe zu erfüllen, und so ein Segenskanal Gottes zu sein. Andersherum sei dir bewusst, dass du ebenso die anderen brauchst. Sie sind Segenskanäle Gottes für dich.

Hier wird auch wieder offensichtlich, wie wichtig verbindliche Gemeindemitgliedschaft ist. Die Gemeinde braucht dich! Und du brauchst die Gemeinde! Gemeinsam sind wir der Leib des Christus, und jeder ist ein Glied daran nach seinem Teil (12,27).

Ludwig Rühle ist Pastor der Bekennenden Evangelisch-Reformierten Gemeinde in Osnabrück und unterrichtet als Lehrbeauftragter Praktische Theologie an der Akademie für Reformatorische Theologie. Er ist verheiratet mit Katharina und Vater von vier Kindern.


[1] Im weiteren Verlauf des Artikels sind alle Stellenangaben ohne Buchangabe aus 1. Korinther 12.

[2] Tim Keller: Durch Gottes Gnade verändert leben. Der Römerbrief erklärt. Kapitel 8-16. Gießen [Brunnen] 2019, S.111.

[3] Hinweis: Es gibt manchmal Gründe, eine Gemeinde zu verlassen. Aber Gefühle der Bedeutungslosigkeit oder Minderwertigkeit, und auch Gefühle der Überlegenheit und Autonomie sind niemals Gründe, um eine Gemeinde zu verlassen (oder sich ihr erst gar nicht anzuschließen).