Vom Wesen und Sinn des Abendmahls
1. Einleitung
Das Neue Testament macht uns keine Illusionen. Es macht an vielen Stellen deutlich, dass ein Leben im Glauben an Jesus Christus nicht ohne Anfechtungen sein kann. Jakobus 1,2-4 zum Beispiel zeigt, dass Anfechtungen von Gott verordnete Glaubensprüfungen sind, die Gott benutzt, um den Glauben heranreifen zu lassen. Aber, und auch das verschweigt Jakobus nicht, Anfechtungen können für den Christen auch eine Gefahr bedeuten. Nämlich dann, wenn sie ihn an Gott zweifeln lassen. Anfechtungen können einen Christen wie ein Nebel einhüllen und ihm den Blick auf Gott und auf seine Verheißungen hin rauben. Auch die wichtigste Verheißung droht dabei zweifelhaft zu werden, nämlich diejenige, dass Christus mit seinem Opfertod meine Sünde ein für allemal gesühnt hat.
Nun kennt Gott uns genau. Er weiß, dass unser Glaube vollkommen von ihm abhängig ist und immer wieder der Vergewisserung bedarf. Auch in der zentralen Frage, ob Gott Sündern um Christi willen vergibt, wollte Gott uns nicht im Unklaren lassen. Im Abendmahl bezeugt Gott es uns sichtbar, dass es sich so und nicht anders verhält, dass Christus für Sünder gestorben ist. Im Blick auf das Abendmahl sagte C.H. Spurgeon:
Wenn es einen Ort auf dieser Erde gibt, der frei ist von dem Rauch der Sorgen, dann ist es der Tisch, an welchem die Heiligen Gemeinschaft mit ihrem Herrn haben.
C. H. Spurgeon
Spurgeon hatte eine hohe Meinung vom Abendmahl. Und das zu Recht. Das Abendmahl war keine Erfindung der christlichen Gemeinde. Sondern Jesus Christus hat es selbst für sie eingesetzt, kurz bevor er hingerichtet wurde. Das Abendmahl, so berichtet es Lukas in der Apostelgeschichte, war ein Erkennungszeichen der christlichen Gemeinde von Anfang an (Apg. 2,42.46). Es wurde von der ersten Gemeinde in Jerusalem hochgeschätzt, es wurde häufig und regelmäßig gefeiert. Die Feier des Abendmahles hat Jesus Christus selbst der Gemeinde aufgetragen. Dieser Auftrag gilt bis heute, er gilt für jede Gemeinde. Daher sollte sich jede Gemeinde darüber, wie sie über das Abendmahl denkt und wie sie es feiert, Rechenschaft abgeben. Insbesondere für solche Gemeinden, die sich neu gründen, wie etwa die Bekennenden Gemeinden, ist die Startphase eine gute Gelegenheit, sich genauer mit dem Abendmahl zu befassen. Dieser Artikel soll dabei eine Hilfestellung bieten. Ich möchte darin die theologische Bedeutung des Abendmahles darlegen. Dabei werde ich die meines Erachtens falsche Sicht der katholischen Kirche kurz beleuchten, um dann die reformatorische und biblische Sicht vom Abendmahl zu entfalten. Abschließend werde ich darauf zu sprechen kommen, welche innere Haltung beim Gang zum Abendmahl angemessen ist.
2. Die Bedeutung des Abendmahles
2.1. Die katholische Sicht
Die Lehre der römisch-katholischen Kirche hinsichtlich des Abendmahles fußt auf der Lehre von der sogenannten Transsubstantiation. Demnach werden Brot und Wein im Abendmahl wirklich und wahrhaftig in Christi Leib und Blut umgewandelt. Das, was im Abendmahl eingenommen wird, schmeckt so, riecht so und sieht auch so aus wie Brot und Wein. In Wirklichkeit ist es das aber nicht mehr, da sich die sogenannte Substanz von Brot und Wein in die Substanz von Leib und Blut Jesu umgewandelt hat. („Substanz“ ist das, was das Wesen einer Sache ausmacht.)
Nach römisch-katholischer Lehre wird der Kirche im Abendmahl tatsächlich der Opferleib Christi von Gott dargereicht. Die Kirche ihrerseits opfert im Abendmahl den Leib Christi wiederum für Gott. Und mit dem Opfer von Christus gibt sie sich selbst als Opfer Gott hin. Im Katechismus der Katholischen Kirche heißt es dazu:
„Das Opfer Christi und das Opfer der Eucharistie sind ein einziges Opfer.“ Zur Begründung wird ein Text aus dem Konzil von Trient zitiert: „Denn die Opfergabe ist ein und dieselbe; derselbe, der sich damals am Kreuze opferte, opfert sich jetzt durch den Dienst der Priester; allein die Weise des Opfers ist verschieden. … In diesem göttlichen Opfer, das in der Messe vollzogen wird, ist jener selbe Christus enthalten und wird unblutig geopfert … der auf dem Altar des Kreuzes ein für allemal sich selbst blutig opferte.“
„Eucharistie“ ist das römisch-katholische Abendmahl, bei dem nach römisch-katholischer Sicht die Gemeinde am Opfer ihres Herrn Jesus Christus teilnimmt. Nach dieser Sicht hat sich Christus wohl einmal am Kreuz geopfert. Aber das reicht der römisch-katholischen Kirche nicht. Für sie ist das blutige Opfer von Christus, das er am Kreuz dargebracht hat, die Grundlage und der Startschuss dafür, dass Christus im Abendmahl wieder und wieder geopfert werden kann.
Im Abendmahl der römisch-katholischen Kirche wird das Opfer, das Christus ein für allemal vor 2000 Jahren gebracht hat, in den Hintergrund gedrängt. In den Vordergrund tritt vielmehr der in Brot und Wein vorliegende Opferleib Christi, mit dem die Kirche im Vollzug des Abendmahls die Heilswirklichkeit schafft. Dies ist mit der reformatorischen Sicht vom Abendmahl unvereinbar.
2.2. Die lutherische Sicht
Die lutherische Sicht vom Abendmahl gründet sich in weiten Teilen auf die sogenannte Lehre von der Konsubstantiation. Danach bleiben im Abendmahl wirklich Brot und Wein erhalten. Was im Abendmahl eingenommen wird, sieht nicht nur so aus und schmeckt nicht nur so wie Brot und Wein, sondern ist es auch wirklich. Aber im Abendmahl sind beim Brot und beim Wein Christi Leib und Blut tatsächlich gegenwärtig. Dies geschieht kraft der Worte Gottes bei der Einsetzung des Abendmahles, „Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut“. Zusammen mit dem Brot und dem Wein empfängt der Teilnehmer des Abendmahles Christi Leib und Blut mit dem Mund. Das heißt, Christi Leib und Blut sind so leibhaftig bei Brot und Wein vorhanden, dass sie mit dem Mund leibhaftig eingenommen werden. Dies ist möglich, weil nach lutherischer Sicht Christus seinem Leib nach allgegenwärtig ist. (Nach reformierter Auffassung hingegen ist Christus leibhaftig im Himmel und nicht auf der Erde.)
Im Abendmahl wird die Vergebung der Sünden verheißen und mit dem Zeichen durch den Glauben empfangen. Das Sakrament ist für den Glauben ein sicheres Pfand und Zeichen der Vergebung der Sünden, die Christus mit seinem Opfertod vor 2000 Jahren ein für allemal vollbracht hat. Das Sühnopfer von Christus wird im Abendmahl nicht wiederholt.
2.3. Die reformierte Sicht nach Calvin und dem Heidelberger Katechismus
Christus wird im Abendmahl nicht mit dem Mund leibhaftig empfangen. Eine Konsubstantiation von Brot und Wein sowie Christi Leib und Blut gibt es nicht. Denn Christus ist seinem Leibe nach nicht allgegenwärtig, sondern im Himmel. Aber es geht im Abendmahl wirklich darum, Anteil zu bekommen am leibhaftigen Christus. Anteil am leibhaftigen Christus hat der Teilnehmer des Abendmahles durch den Glauben. Brot und Wein repräsentieren im Abendmahl Christi Leib und Blut. Sie sind sichtbare und äußerliche Zeichen des Heils, das Jesus durch die Opferung seines Leibes und Lebens ein für allemal erwirkt hat. Durch diese Zeichen bewirkt der Heilige Geist die Teilhabe am leibhaftigen Christus und dem, was Christus im Leib an Heil vollbracht hat. Diese Teilhabe geschieht im Glauben.
2.4. Die Gemeinsamkeiten zwischen Luther und der reformierten Sicht
Luther grenzte sich von der Transsubstantiationslehre ab. In den Schmalkaldischen Artikeln sagt er dazu: „Bei der Transsubstantiation halten wir gar nichts von den Spitzfindigkeiten, wenn sie lehren, dass Brot und Wein ihr natürliches Wesen verlassen oder verlieren und allein Gestalt und Farbe des Brots bleibe und nicht rechtes Brot. Denn es reimt sich mit der Schrift aufs beste, dass Brot da sei und bleibe, wie es Paulus selbst in 1. Kor. 10,16 nennt: ‚Das Brot, das wir brechen’, und 1. Kor. 11,28: ‚Also esse er von dem Brot’.“ Luther ist also in der Abendmahlsfrage alles andere als römisch-katholisch. Darüber hinaus lohnt es sich, die Gemeinsamkeiten herauszustellen, die Luther und die Reformierten bei der Abendmahlsfrage verbinden. Bei allen Unterschieden, die es zwischen Lutheranern und Reformierten im Blick auf das Abendmahl gegeben hat und gibt, sollten einige wichtige verbindende Elemente Beachtung finden. Diese finden sich in der Tat, wenn man die Aussagen Luthers und die des Heidelberger Katechismus miteinander vergleicht.
- Beide betonen, dass es im Abendmahl zu einer Teilhabe am Leib Christi, an dem, was er als Mensch mit Fleisch und Blut vollbracht hat, kommt.
- Beide betonen, dass diese Teilhabe durch die äußeren Elemente des Abendmahles geschieht, das heißt durch Brot und Wein und dem damit verbundenen Wort der Verheißung.
- Beide betonen, dass im Abendmahl die Vergebung der Sünden, vermittelt durch die Elemente von Brot und Wein, durch den Glauben empfangen wird.
- Beide betonen, dass sich der Glaube im Abendmahl auf die Elemente von Brot und Wein sowie auf die Worte Gottes, die zu diesen Elementen gesprochen werden, richtet. Das Abendmahl ist eine „sichtbare Predigt“. Der Glaube betreibt im Abendmahl also keine „Innenschau“, er schaut nicht auf sich selbst, sondern er blickt von sich weg nach außen, er richtet seine Aufmerksamkeit auf Brot und Wein und auf das, was sie sagen: „Dies ist der Leib Christi, der für dich als Sühnopfer dargebracht wurde. Dies ist das Blut Christi, welches Christus bei seinem Tod für dich vergossen hat zur Vergebung deiner Sünden.“ (Der Reformierte würde das „ist“ so verstehen, dass Brot und Wein Christi Leib und Blut „repräsentieren“ und dem Gläubigen die Gemeinschaft mit Christus, der leibhaftig im Himmel ist, vermitteln.)
- Beide lehnen also die römisch-katholische Auffassung ab, nach der das Abendmahl automatisch Vergebung der Sünden bewirkt.
Die beste Zusammenfassung über Wesen und Bedeutung des Abendmahles bietet meines Erachtens der Heidelberger Katechismus. In der Antwort auf Frage 75, „Wie wirst du im heiligen Abendmahl erinnert und versichert, dass du an dem einigen Opfer Christi am Kreuz und allen seinen Gütern Gemeinschaft habest?“ heißt es:
Also, daß Christus mir und allen Gläubigen von diesem gebrochnen Brot zu essen und von diesem Kelch zu trinken befohlen hat zu seinem Gedächtnis und dabei verheißen erstlich, daß sein Leib so gewiß für mich am Kreuz geopfert und gebrochen und sein Blut für mich vergossen sei, so gewiß ich mit Augen sehe, daß das Brot des HERRN mir gebrochen und der Kelch mir mitgeteilet wird. Und zum andern, daß er selbst meine Seel mit seinem gekreuzigten Leib und seinem vergossenen Blut so gewiß zum ewigen Leben speise und tränke, als ich aus der Hand des Dieners empfange und leiblich genieße das Brot und den Kelch des HERRN, welche mir als gewisse Wahrzeichen des Leibes und Blutes Christi gegeben werden.
Heidelberger Katechismus
3. Die richtige Haltung bei der Teilnahme am Abendmahl
Im Abendmahl kommt Gott dem Sünder mit Brot und Wein entgegen. Er gibt ihm darin die sichtbare Verheißung, dass Christus vor 2000 Jahren mit seinem Opfertod die Sünde gesühnt hat und dass er gerne Sünden vergibt um Christi willen. Dieser inhaltlichen Vorgabe im Abendmahl entspricht aufseiten des Menschen eine angemessene innere Haltung, die sich in drei Aspekten verdeutlichen lässt
a) Sündenerkenntnis
Im Abendmahl wird gefeiert, daß Christus sich für unsere Sünden als Sühnopfer hingegeben hat. Wer am Abendmahl teilnimmt, muß den Tod Christi als Sühnopfer für seine Sünden einschätzen. Er muß also einsehen und erkennen, daß er ein Sünder ist, für den Christus in den Tod gehen mußte, um ihn zu erlösen. Es geht hier zunächst darum, anzuerkennen, daß von Adam her die Sünde und Sündhaftigkeit ererbt worden ist, die, auch wenn ich sie nicht fühlen und wahrnehmen mag, mich von Gott trennt (siehe Röm. 5,12.16.18). Dann geht es aber auch um die Erkenntnis und Wahrnehmung der eigenen Sünde und Sündhaftigkeit in konkreten Lebenssituationen.
In der Abendmahlsliturgie können dem Teilnehmer die Sündenerkenntnis erleichtert werden, indem ihm gemäß der Aussage von Paulus (Röm. 3,20), dass Gottes Gesetz Erkenntnis der Sünde bewirkt, Gottes Gebote in Auswahl vorgelesen werden. Dazu werden die Zehn Gebote sowie das Doppelgebot der Liebe vorgelesen (sehr geeignet wären auch Gal. 5,19-21; Röm. 3,9-20).
b) Sündenbekenntnis
Das Sündenbekenntnis soll zum Ausdruck bringen, dass sich der Teilnehmer unter Gottes Urteil stellt. Er beurteilt sich in Übereinstimmung mit Gottes Wort als Sünder, der Gottes Zorn verdient hat. Dann, wenn sie ihm einfallen, bekennt er Gott auch konkrete Sünden. Daraufhin bittet er Gott um Vergebung seiner Sünde, um des Opfers Christi willen.
In der Abendmahlsliturgie wird das Sündenbekenntnis und die Bitte um Vergebung zunächst im stillen Gebet vor Gott ausgesprochen. Dann kann sich jeder in das stellvertretende Beichtgebet des Liturgen „einklinken“. Das ist besonders für die, welche im vorhergehenden stillen Gebet nicht wissen, was und wie sie beten sollen, hilfreich. Im stellvertretenden Beichtgebet wird noch einmal zusammenfassend die Sünde bekannt und Gott um Vergebung der Sünde gebeten. Daraufhin wird denen, die Vergebung ihrer Sünden um Christi willen erbeten haben, die Vergebung der Sünden zugesprochen.
c) Dankbares und fröhliches Vertrauen angesichts von Gottes Zusage
Im Abendmahl wird der Teilnehmer der Vergebung seiner Sünde um Christi willen versichert. Ihm wird mit den Zeichen von Brot und Wein und den Worten, die dazu gesprochen werden, hörbar, sichtbar und schmeckbar Gottes Zusage eingeprägt. Wer vorher seine Sünde Gott bekannt hat und ihn um Vergebung gebeten hat, der hat im Abendmahl wirklich einen Schatz, den Gott ihm gibt. Gott will durch das Abendmahl auch dem letzten Sünder, der noch ungewiss sein mag, ob Gott seine Bitte um Sündenvergebung auch erhört habe, die Gewissheit schenken, dass es sich so und nicht anders verhält. Die einzig angemessene Haltung beim Empfang des Abendmahles ist daher der schlichte Glaube, der sich voll auf die Zeichen und das dazu gesprochene Wort Gottes richtet, und froh und dankbar empfängt, was sie sagen.
In der Abendmahlsliturgie folgt auf den Zuspruch der Sündenvergebung die eigentliche Abendmahlsfeier. Der Liturg spricht zu den Zeichen von Brot und Wein die Einsetzungsworte Jesu. Der Gläubige soll und darf sich diese Worte genau anhören, und auf sie hin soll er zum Abendmahl gehen. Wer den Worten glaubt, wie sie im Abendmahl sichtbar in Brot und Wein gereicht werden, der soll sich von nichts und niemandem abhalten lassen, hinzugehen.
Worauf richtet sich also der Glaube im Abendmahl? Der Glaube richtet sich im Abendmahl nicht auf das eigene Gefühl. Er richtet sich auf Gottes Wort, auf seine Zusage, wie sie in Brot und Wein sichtbar gereicht werden. In Gottes Wort sucht und findet er, oft gegen das eigene schlechte Gewissen, Gewissheit der Sündenvergebung. Der echte Glaube richtet sich im Abendmahl auch nicht auf sich selbst. Denn dem echten Glauben geht es nicht so sehr darum, was innen drin, im eigenen Herzen passiert, sondern darum, was außen geschieht. Von außen wird ihm Gottes Wort zugesprochen und sichtbar gereicht. Von außen richtet Gott durch das, was im Abendmahl gesprochen und gereicht wird, den Glauben auf.
Ist der schlichte Glaube, der seine Schuld bekennt und auf Gottes Verheißung der Sündenvergebung vertraut, die angemessene Haltung zum Empfang des Abendmahls, so ist deutlich, dass der Unglaube eine Haltung ist, die vom Abendmahl ausschließt. In 1. Kor. 11,27-29 warnt Paulus davor, im Unglauben am Abendmahl teilzunehmen. Das heißt, wer Brot und Wein beim Abendmahl nicht als Zeichen auf den für ihn notwendigen Sühnetod Christi auffasst, der soll nicht am Abendmahl teilnehmen, weil er sich sonst Gottes Gericht zuzieht. Am Schluss soll aber nicht die Warnung vor dem Abendmahl stehen, sondern eine Ermutigung. Allen, die sich fragen mögen, ob sie denn würdig seien, am Abendmahl teilzunehmen, sei vorgehalten, was Martin Luther im Großen Katechismus geschrieben hat:
Sprichst Du aber: Wie denn, wenn ich fühle, daß ich nicht bereit bin (für das Abendmahl)? Antwort: Das ist meine Anfechtung auch, sonderlich aus dem alten Wesen unter dem Papst her, da man sich so zermartert hat, daß man ganz rein wäre und Gott gar keinen Tadel an uns fände. Davon sind wir so schüchtern geworden, daß sich jedermann flugs entsetzt und gesagt hat: o weh, Du bist nicht würdig. Denn da hebt Natur und Vernunft an, unsere Unwürdigkeit gegen das große, teure Gut zu rechnen, da findet sichs denn wie eine finstere Laterne gegen die lichte Sonne oder Mist gegen Edelsteine, und weil sie solches siehet, will sie nicht hinan und wartet, bis sie bereit werde, so lange, daß eine Woche die andere und ein halbes Jahr das andere bringt. Aber wenn Du das ansehen willst, wie fromm und rein Du seiest, und danach streben, daß Du keine Gewissensbisse hast, so darfst Du nimmermehr hinzukommen…. Wer aber gerne Gnade und Trost haben wollte, soll sich selbst antreiben und durch niemand davon abschrecken lassen und so sprechen: ‚Ich wollte wohl gern würdig sein, aber ich komme auf keine Würdigkeit, sondern auf dein Wort, daß du es befohlen hast, als der ich gern dein Jünger wäre; meine Würdigkeit bleibe, wo sie kann.’ Es ist aber schwer, denn das liegt uns immer im Wege und hindert uns, daß wir mehr auf uns selbst als auf Christi Wort und Mund sehen. … Bist Du nun beladen und fühlest deine Schwachheit, so gehe fröhlich hin und lasse dich erquicken, trösten und stärken.
Aus dem Großen Katechismus von Martin Luther