Eine Grundschullehrerin fragt zu Beginn der Religionsstunde ihre Klasse: „Wer von euch möchte später einmal in den Himmel kommen?“ Alle Kinder der Klasse melden sich. Nur Charlie nicht. Die Lehrerin wendet sich erstaunt an ihn: „Nun Charlie, möchtest du nicht in den Himmel kommen.“ Charlie antwortet: „Natürlich will ich in den Himmel kommen, aber doch nicht mit dem Haufen da!“
Manch einer mag die Nöte des kleinen Charlie nachempfinden können, wenn er „den Haufen da“ vor Augen hat, der da und dort Gemeinde Jesu bildet und einzelne seiner Glieder. Aber der Weg des Lebens mit Jesus, der Weg in die Ewigkeit, geht nur „mit dem Haufen da“.
Christsein und Gemeinschaft – das gehört untrennbar zusammen. Die Bibel kennt kein Einzelchristentum. Wer zum Glauben an Christus kommt und in die persönliche Lebensgemeinschaft mit ihm eintritt, der wird damit Glied am Leib Christi (1. Kor. 12,13).
Gott hat den Menschen zur Gemeinschaft geschaffen. Zuallererst zur Gemeinschaft mit sich selbst. Wir können aus 1. Mose 3 erahnen, wie intensiv Gott im Garten Eden mit Adam und Eva Gemeinschaft zu haben pflegte: Die Hitze des Tages ist vorbei. Ein angenehmes Lüftchen streicht durch den Garten. Die Vögel stimmen ihren Abendgesang an. Die Löwen treten gähnend und sich streckend aus dem länger werdenden Schatten der Bäume. Plötzlich horchen Adam und Eva auf. Schritte nähern sich. Ein Strahlen geht über ihr Gesicht. Jetzt erwartet sie der schönste Teil des Tages: Der Herr kommt. Der lebendige und allmächtige Gott selbst kommt, um mit ihnen im Garten spazieren zu gehen und sich mit ihnen zu unterhalten.
Gott liebt die Menschen und will Gemeinschaft mit ihnen haben. Das war von Anfang an sein Ziel, und ist es bis heute, obwohl die Menschheit in Sünde gefallen ist.
Aber auch die Gemeinschaft zwischen den Menschen ist Ziel der Schöpfung. Die verschiedenen Bilder, die die Bibel für die Gemeinde verwendet, unterstreichen, dass zum Wesen des Christseins die Gemeinschaft gehört: der Hirte und die Herde; das Haus der lebendigen Steine und natürlich ganz besonders das Haupt und die Glieder.
Gott sagte: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich will ihm eine Gehilfin machen.“ (1. Mose 2,18)
Damit wird zugleich ein wichtiges Ziel von Gemeinschaft deutlich: Gemeinschaft ist uns von Gott als Hilfe zugedacht. Wir sangen früher in der Kinderkirche gerne das Lied: „Sei ein lebend’ger Fisch, schwimme doch gegen den Strom …“ Aber alleine gegen den Strom schwimmen ist schwer. Das kostet ungeheuer viel Kraft. Auch in der Natur hat Gott deshalb den Zugvögeln Weisheit gegeben, in geordneter Formation zu fliegen. Das Prinzip dürfte bekannt sein: In der V-Formation der Kraniche und Wildgänse muss nur der Vorderste den ganzen Luftwiderstand überwinden. Alle Nachfolgenden profitieren vom Windschatten der Vorausfliegenden. Und der Vorderste darf sich nach einiger Zeit hinten einreihen und die anstrengende erste Position dem Nachfolgenden überlassen. So ist es auch in der Gemeinde Jesu gedacht: Einer ist dem andern zur Hilfe an die Seite gestellt. Als Petrus ins Gefängnis geworfen wird, tritt die ganze Gemeinde betend an seine Seite. Christliche Gemeinschaft ist praktisch die dienende Hingabe an den andern. „Wer unter euch der Größte sein will, der sei euer aller Diener.“ (Mk. 10,44) und „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ (Joh. 15,13).
Zusammengehalten vom Band hingebender Liebe – so stellt sich der Herr seine Gemeinde vor (Kol. 3,14). Ein gutes Bild dafür ist eine schöne Bibel mit Goldschnitt. Ein einzelnes Blatt wird leicht zerknittert, zerrissen und geht verloren. Aber eingebunden in einen kräftigen Einband und in die Gemeinschaft mit vielen andern Blättern ist es geschützt. Jeder Christ braucht, damit er bewahrt und brauchbar bleibt, den sorgsamen Einband in einer Gemeinde. Auch der Goldschnitt ist am einzelnen Blatt praktisch nicht zu erkennen, aber alle Seiten zusammen verbreiten einen starken Glanz.
Das führt zu einem zweiten Ziel von Gemeinschaft: Gott will sich seine Gemeinde als eine prächtig geschmückte, makellose Braut zubereiten, sich selbst zur Ehre. Die Braut Christi aber ist nie ein Einzelner. Zwar steht jeder selbst mit seinem Namen im Buch des Lebens, aber die Braut Christi ist die Gemeinschaft aller, die zu Jesus gehören. Heiligung ist zwar Sache auch eines jeden Einzelnen, aber hier gilt wie für den Goldschnitt des Buches, dass erst in der Gemeinschaft mit den andern das Ziel der Heiligung die rechte Herrlichkeit gewinnt zur Ehre Gottes.
Außerdem kann rechte Heiligung nur in der Gemeinschaft geschehen. Sicher beginnt sie in der Begegnung mit Gott und seinem Wort und hat in Gott selbst durch den Heiligen Geist seine einzige Kraft und Quelle. Aber leben lässt sich Heiligung nicht in der frommen Stube – meine Bibel und ich –, da entsteht leicht ein verklärtes Bild von der eigenen Frömmigkeit. Gerade im Umgang mit den Geschwistern, und besonders mit den schwierigen und eigenwilligen – und wer sagt uns, dass wir selbst nicht mit die schwierigsten sind? – treten unsere eigenen Ecken und Kanten, die noch der Heiligung bedürfen, in Erscheinung. Gal. 5,22 macht das ganz deutlich: „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut und Keuschheit.“ Das sind praktisch alles Dinge, die nur in der Gemeinschaft gelebt werden können.
Wie aber kommt der Einzelne zur Gemeinde und was ist Gemeinde?
Nicht jeder „Haufen“ von Menschen in dieser Welt ist Gemeinde Jesu. Auch nicht alles, was sich christliche Gemeinde oder Kirche nennt. Gemeinde Jesu ist dort, wo Gott selbst Menschen durch den Glauben hinzugetan hat (Apg. 2,47). Sie ist dort, wo Menschen umgekehrt sind von ihrem gottfernen Leben, sich taufen ließen auf den Namen des dreieinigen Gottes (Mt. 28,18-20) zur Vergebung ihrer Sünden und so die Gabe des Heiligen Geistes empfangen haben (Apg. 2,38). Das Bild vom Leib (1. Kor. 12,12 ff. + Eph. 5,23) zeigt uns: Gemeinde Jesu ist dort, wo Jesus das Haupt = der Herr ist, wo sein Wort unangefochten gilt und nicht nur recht gepredigt, sondern auch dem Wort Gottes entsprechend gelebt und die Gemeinde geleitet wird. Wo dagegen der Wille des Volkes oder der Kirchenleitung gleichrangig neben dem Wort des Herrn oder gar noch darüber steht, dort ist nicht Gemeinde Jesu, dort herrscht vielleicht seelische, aber keine geistliche Gemeinschaft.
Gerade das Wort Gottes macht hier den Unterschied deutlich: Hebräer 4,12: „denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch bis es scheidet Seele und Geist …“ Dietrich Bonhoeffer, der anderwärts sicherlich manches gesagt hat, dem wir uns nicht anschließen können, weist an dieser Stelle in seinem zum Thema wichtigen Büchlein Gemeinsames Leben auf die große Bedeutung des rechten Unterscheidens hin. Einige wichtige Unterscheidungsmerkmale, die er nennt, seien hier in Kürze aufgeführt:
Der Grund geistlicher Gemeinschaft ist das klare, offenbare Wort Gottes in Jesus Christus, ist die Wahrheit.
Der Grund seelisch-psychischer Gemeinschaft ist das dunkle, undurchsichtige Treiben und Verlangen der Seele, ist das Begehren. In der geistlichen Gemeinschaft regiert allein das Wort, in der seelischen Gemeinschaft regiert neben dem Wort noch der mit besonderen Kräften, Erfahrungen und suggestiv-magischen Anlagen ausgestattete Mensch.
In der geistlichen Gemeinschaft regiert der Geist, die naive, vorpsychologische, vormethodische, helfende Liebe zum Bruder, der demütige, einfältige Dienst am Bruder, in der seelischen Gemeinschaft regiert die Psychotechnik, die Methode, die psychologische Analyse und Konstruktion, die erforschende, berechnende Behandlung des fremden Menschen.
Bonhoeffer selbst sagt zusammenfassend: „Es entscheidet über Leben und Tod einer christlichen Gemeinschaft, dass sie in diesen Punkten so bald wie möglich zur Nüchternheit kommt.“
Diese Kriterien dürften gerade in unseren Tagen von besonderer Bedeutung sein, wenn wir fragen, wo denn wirklicher geistlicher Leib Christi, was Fundament und Bindemittel einer Gemeinschaft ist – das seelische Empfinden und Begehren von Menschen oder das Band des Heiligen Geistes, ob wir nun landeskirchliche oder auch freie Gemeinde betrachten.
Das Bild vom Leib hebt die intensive Art von Gemeinschaft hervor, die wir als Kinder Gottes mit unserem Herrn Jesus Christus und damit mit dem lebendigen Gott selbst haben. Eine Gemeinschaft, die weit über das hinausgeht, was Adam und Eva im Garten Eden erlebten oder auch die Jünger, als sie in den Erdentagen des Herrn mit ihm zusammen waren. Adam, Eva und die Jünger hatten zwar Sichtkontakt und konnten den Herrn berühren, aber es blieb in gewisser Hinsicht doch ein äußerer Kontakt, es bestand keine organische Verbindung zwischen ihnen.
Kinder Gottes haben diese Verbindung durch den Heiligen Geist. In ihm wohnt Gott in uns. Wir sind ein Teil Jesu geworden. So auch Johannes 15: „Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben …“. Wer Glied am Leib Christi ist, der darf in all seiner eigenen Schwachheit, in allem eigenen Unvermögen, in der Kraft Gottes leben. Gott gibt damit seiner Gemeinde im Rahmen seiner Verheißungen und seines Auftrags ein ungeheures Potenzial an Möglichkeiten. Welch eine Herausforderung für eine Gemeinde, wenn sie aufhört, in den Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten und Begabungen zu denken und zu leben, sondern in der Erwartung dessen, was ihr Herr in ihr und durch sie tun wird.
Gerade darin hat Gemeinde auch einen wichtigen Vorbildcharakter. Reife Christen sollen Vorbilder auf dem Weg der Nachfolge und der Heiligung sein für andere, die erste Schritte im Glauben tun. Eben nicht in dem, was sie alles selbst können, sondern in ihrem Vertrauen auf den Herrn und dem daraus resultierenden Glaubensgehorsam (vgl. Hebräer 11). Paulus selbst stellt sich als solches Vorbild dar (Phil. 3,17) und Petrus mahnt die Ältesten der Gemeinde, Vorbilder der ihnen anvertrauten Herde zu werden (1. Petrus 5,3).
Schließlich: Wie kommt es zu solchen Gemeinden? Was trägt sie und was hält sie zusammen? In 1. Joh 1,3 lesen wir: „Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.“ Daraus geht hervor: Christliche Gemeinschaft kommt aus dem Wort der Apostel, das uns mit der Bibel gegeben ist. Es schafft zugleich Gemeinschaft mit Gott und Gemeinschaft untereinander. Nur das Wort Gottes kann eine Gemeinschaft hervorbringen, in der man einander lieben und tragen kann, weil Gott einen in seiner Barmherzigkeit trägt.
Gott schenke uns mehr solcher Gemeinden!