Mein Weg in eine Bekennende Evangelische Gemeinde (Teil 2)

Mein Weg in eine Bekennende Evangelische Gemeinde (Teil 2)

Zugespitzt hat sich die Lage für uns im Laufe des Jahres 1995. Zur Kirchengemeinderatswahl hatte sich ein Mann aufstellen lassen, der von Beginn unseres Dienstes in unerträglicher Weise aktiv gewesen war. Er wiegelte schon im ersten Herbst Konfirmandeneltern gegen den Unterricht auf, obwohl er selbst gar kein Kind im Unterricht hatte. In den Klassen der Grundschule, in denen er Kinder hatte und seine Frau Elternsprecherin war, wurde ein Klima erzeugt, das das Erteilen des Unterrichts nahezu unmöglich machte. Dies hielt der Kirchengemeinderat in einem Schreiben zur Zwischenvisitation schon im Sommer 1993 mit Nennung seines Namens fest. Am Leben der Gemeinde beteiligte er sich in den knapp 5 Jahren meiner Dienstzeit nicht. Auch zur Zeit meines Vorgängers war er nach Aussage von Kirchengemeinderäten vielleicht 4x pro Jahr im Gottesdienst. In verschiedenen Gesprächen mit ihm hatte sich wiederholt gezeigt, dass er in zentralen Fragen (andere Religionen – Gottes Wort – Homosexualität) eindeutig nicht auf dem Fundament von Schrift und Bekenntnis stand. Unsere Gemeinde bezeichnete er die ganzen Jahre über als „Sekte“. Mit mir hatte er bereits Anfang 1992 das Gespräch verweigert, mit der schriftlich vorgetragenen Begründung, dass er mich aufgrund meines „radikal-fundamentalistischen Bibelverständnisses nicht als adäquaten Gesprächspartner akzeptiere“. (Man beachte diese Toleranz!) Mein „radikal- fundamentalistisches Bibelverständnis“ bestand darin, dass ich in vorausgegangenen Gesprächen Wert darauf gelegt hatte, dass die Bibel als Wort Gottes verbindliche Grundlage theologischer Gespräche sein müsse. Damals schon teilte ihm der Kirchengemeinderat schriftlich mit, dass es nicht ohne Konsequenzen bleiben könne, wenn er sein Verhalten nicht ändern würde.

Örtliche Wahlgremien lehnen Kirchengemeinderatskandidaten ab

Dieser Mann hatte sich nun also zur Wahl zum Kirchengemeinderat vorschlagen lassen. Wie er auf einer öffentlichen Wahlveranstaltung vor ca. 100 Menschen bekannt gab, nicht ohne sich vorher beim Dekan zu versichern, dass dieser seine Kandidatur unterstützen und durchsetzen würde, da er mit einer Ablehnung seiner Bewerbung gerechnet hatte und „sich nicht ohne Rückendeckung des Dekans den Notzinger Gremien aussetzen wollte“. Aus dem Umfeld dieses Mannes hörte man, dass die ausdrückliche Ermutigung des Dekans geradezu ausschlaggebend für diese Kandidatur gewesen sein soll. Pikant daran ist: Dieser Dekan gehört zur „Lebendigen Gemeinde“ und zum Vorstand der „Evangelischen Sammlung“. Dieser Vertreter zweier „bibeltreuer“ Gruppen in Württemberg hätte demnach bewusst die Wahl dieses Mannes lanciert, um die geistliche Arbeit in Notzingen zu zerstören. Letztlich ist dies dann auch geschehen.

Der Ortswahlausschuß lehnte ohne Enthaltungen und Gegenstimmen die Kandidatur ab – also das passive Wahlrecht, da dieser Mann nicht am geistlichen Leben der Gemeinde teilnahm, und damit dem kirchlichen Recht entsprechend nicht zur Wahl zugelassen werden konnte. § 3 der Wahlordnung besagt: Abs. 1: „Wählbar sind Kirchengemeindeglieder, die im geistlichen Leben der Gemeinde stehen …“. Das war, wie weiter oben schon ausgeführt, mitnichten der Fall.

Auch der Kirchengemeinderat sprach ihm die Wahlberechtigung ab – also das aktive Wahlrecht, da dieser Mann, wie aus verschiedenen Gesprächen deutlich geworden war, nicht auf dem Fundament von Schrift und Bekenntnis stand und außerdem seit Jahren ein fortwährendes Ärgernis in der Gemeinde darstellte. Er berief sich dabei auf § 2 Abs. 3 der Wahlordnung: „Von der Wahl kann ausgeschlossen werden, wer durch sein Verhalten offenkundig und beharrlich Jesus Christus als alleinigen Herrn der Kirche leugnet, die Verkündigung Christi grob missachtet, der Ordnung im Zusammenleben der Gemeinde entgegenwirkt und damit ihr Zeugnis unglaubwürdig macht.“

Dieser §2 der Wahlordnung hat eine interessante und für unsere kirchliche Situation sehr aufschlussreiche Vorgeschichte. Er war in seiner ursprünglichen Fassung von 1964 eine Muss-Bestimmung, lautete also: „Von der Wahl muss ausgeschlossen werden, wer ….“ Bei der Überarbeitung der Wahlordnung 5 Jahre später, also 1969, wurde diese Muss-Bestimmung in eine Kann-Bestimmung umgewandelt. Der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses der württembergischen Landessynode begründete diese Entscheidung so – ich zitiere aus dem Protokoll der Landessynode vom 12. November 1969: „Aus einer Muss-Vorschrift wurde eine Kann-Vorschrift. Damit ist … die Diskrepanz zwischen der volkskirchlichen Wirklichkeit und dem unaufhebbaren geistlichen Anspruch gemildert worden.“

Das kirchliche Recht wurde bewußt von der biblischen Norm gelöst

Es ist zutiefst erschütternd für den Weg unserer Kirchen, was hier offiziell gesagt und getan wurde, im vollen Bewusstsein dessen, was man hier tut und warum man es tut.

Verstehen Sie, was da passiert ist?! Man stellt fest: Was unsere kirchliche Ordnung hier sagt, ist biblisch gültig, nicht nur gültig, sondern „ein unaufhebbarer geistlicher Anspruch.“ Aber unsere volkskirchliche Wirklichkeit sieht leider radikal anders aus. Liebe Geschwister, welchen Weg kann es da geistlich nur geben? Richtig! Aber genau diesen Weg hat man nicht gewählt. Man hat nicht überlegt: Wie können wir die volks- kirchliche Wirklichkeit wieder mehr in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes – dem unaufhebbaren geistlichen Anspruch – bringen? Man hat ganz bewusst das kirchliche Recht von der biblischen Norm gelöst. Hier ist eine entscheidende Weichenstellung unserer Volkskirchen sichtbar. Recht ist nicht mehr, was die Bibel sagt. Recht ist, was in der Kirche üblich ist. Wahrscheinlich hat hier auch der Druck der wilden 60er seine Spuren hinterlassen. Ganz ähnlich ist das in der Frauenfrage nachzuweisen. Damit hat sich die württembergische Synode 1967 und 1968 befasst. Es ist ein einziges Drama, wie man bewusst, erkannter Maßen und ausgesprochener Maßen sich zwei Synodensitzungen lang nicht mit dem biblischen Befund befasst, sondern eine vom Zeitgeist diktierte Entscheidung getroffen hat. Das wäre ein höchst spannendes Thema, dem wir uns aber hier nicht weiter zuwenden können.

Zurück zur Kirchenwahl 1995: Der Kirchengemeinderat hatte also dem genannten Kandidaten das aktive Wahl- recht aberkannt, da er alle im § 2 der Wahlordnung genannten Negativpunkte bei diesem Kandidaten für gegeben ansah. Die Gemeindeleitung war der Überzeugung: Hier steht die Glaubwürdigkeit unserer ganzen geistlichen Arbeit auf dem Spiel. Schon vor meiner Amtszeit war vom Kirchengemeinderat beschlossen worden, dass nur gläubige Christen geistliche Verantwortung in der Gemeinde wahrnehmen können. Wie sollten wir bei der Mitarbeiterberufung diesen Grundsatz aufgeben und diesen Mann, der allen biblischen Grundsätzen unserer Gemeinde Hohn und Spott sprach, ins höchste gemeindeleitende Amt wählen lassen? Das war undenkbar!

Kirchenleitende Personen und Gremi- en mißachten kirchliche Ordnungen

Damit der Beschluss rechtskräftig geworden wäre, hätte der Dekan sein Einverständnis geben müssen. Dies tat er jedoch nicht. Vielmehr berief er eine außerordentliche Sitzung des Kirchengemeinderats und des Ortswahlausschusses ein. Anwesend waren außer dem Dekan der zuständige Prälat (der von vielen als dem Pietismus nahestehend betrachtet wird) und der Leiter der Rechtsabteilung des Oberkirchenrats. Beide Gremien, Kirchengemeinderat und Ortswahlausschuss, blieben bei ihren Beschlüssen. Dennoch wurde der Ortswahlausschuss verpflichtet, den Mann zur Wahl zuzulassen. Ich sagte in dieser Sitzung zum Prälaten: „Sie haben vielleicht die Macht zu dieser Entscheidung. Das Recht dazu haben Sie nicht. Weder nach der Heiligen Schrift, noch nach den Bekenntnissen der Reformation, noch nach den Ordnungen unserer Kirche!“ Zur später vom Dekan schriftlich vorgelegten Begründung für seine Entscheidung erklärte mir gegenüber ein Amtsgerichtsdirektor a.D., der außerdem jahrelang Präsident der württembergischen Landessynode gewesen war, dass die Begründung des Dekans kirchenrechtlich unhaltbar sei und eindeutig gegen kirchliches Recht verstoße. Entsprechendes hat er später auch in idea-Spektrum veröffentlicht.

Der Kandidat wurde gewählt. Nun hätte ich ihn ins Amt als Kirchengemeinderat einführen müssen. Als weitestgehenden Kompromiss bat ich, es möge doch der Dekan die Einführung vornehmen. Er hätte mit seiner Entscheidung ja auch zu verantworten, dass dieser Mann gewählt werden konnte. Ich selbst könne die Einsetzung nicht vornehmen. Daraufhin wurde ich suspendiert. Mir wurde vor- gehalten, dass unter diesen Umständen eine gedeihliche Zusammenarbeit mit diesem Mann nicht möglich sei.

Wie angesichts des anhaltend geäußerten Vorwurfs dieses Mannes, dass unsere Gemeinde eine Sekte sei, seine Zusammenarbeit mit mir, einem Großteil des Kirchengemeinderats, der vielen Mitarbeiter und nicht zuletzt der von ihm als Sekte diffamierten Gemeinde aussehen sollte, das schien die Herren der Kirchenleitung nicht im Geringsten zu interessieren.

Ein noch nicht erwähntes Problem lag darin, dass dieser Mann am Pädagogisch-Theologischen Zentrum der württembergischen Landeskirche Religionspädagogen ausbildet. Ein Oberkirchenrat sagte dann auch zu mir: „Sie können doch nicht einen Mann für die Wahl zum Kirchengemeinderat ablehnen, der im Dienste unserer Landeskirche Vikare und Religionslehrer ausbildet. Damit erwecken Sie ja den Eindruck, dass die Kirche einen Mann für diese Dienste beschäftigt, der nicht auf dem Fundament von Schrift und Bekenntnis steht.“ Das ging natürlich nicht. Ob das wirklich so war, das interessierte keinen. Aber sagen durfte man das eben nicht oder auch nur diesen Eindruck erwecken.

Brachialgewalt der Kirchenleitung

Der theologische Dezernent des OKR ließ nach meiner Suspendierung über ein Fernsehinterview die Öffentlichkeit wissen, dass ich suspendiert worden sei, weil ich mehrfach kirchliche Ordnungen missachtet hätte.

Ich habe die Kirchenleitung mündlich und schriftlich vielfach und dringlich gebeten, mir doch mitzuteilen, gegen welche kirchlichen Ordnungen ich in welcher Weise verstoßen hätte. Ich warte bis heute vergeblich auf Antwort. Auch in Gesprächen beim Oberkirchenrat, zu denen mich ein Amtsbruder begleitet hatte, wurden auf wiederholte Nachfrage keine konkreten Verstöße gegen kirchliche Ordnungen benannt. Die Kirchenleitung musste die Antwort schuldig bleiben. Denn nach Aussage des schon genannten, im Kirchenrecht außerordentlich bewanderten Juristen, der selbst schon der Kirchenleitung in juristischen Fragen Beistand geleistet hatte, konnte die Kirchenleitung mir und den Notzinger Gremien nichts anderes vor- werfen, als dass wir uns an kirchliche Ordnungen gehalten hätten, die außer uns schon lange niemand mehr beachtet hatte. Dieser Jurist hatte sich sehr ein- gehend mit allen Dokumenten diesen Fall betreffend vertraut gemacht. Es war also kein Urteil aufgrund eines mündlichen Berichts, sondern aufgrund exakter Kenntnis der Sachlage.

Etwa 40 Mitarbeiter schrieben einen Brief an den zuständigen Prälaten. Sie äußerten ihre Sorge und ihre Bedenken, wie sie mit einem Kirchengemeinderat leben sollten, der sie und ihre Arbeit als sektiererisch bezeichnet, und ob sie unter diesen Umständen in der Gemeinde und in der Kirche verbleiben könnten. Die Antwort des Prälaten lautete: „Niemand wird Sie daran hindern können, eine freie evangelische Gemeinde zu gründen und die Kirche zu verlassen.“ Das war ja wohl nichts anderes als der Stiefel ins Kreuz.

Die Art und Weise, wie die Kirchenleitung reagierte, hat mich dann doch überrascht. Ich hatte mich intensiv auf diesen Konflikt vorbereitet: biblisch, theologisch, bekenntnismäßig und kirchenrechtlich. Dass die Kirchenleitung dabei die geistliche und theologische Ebene der Auseinandersetzung strikt vermeiden würde, war durchaus zu erwarten gewesen. Durch das Akzeptieren der historisch kritischen Theologie sind die Kirchenleitungen zu habhafter biblisch theologischer Argumentation nicht mehr in der Lage und haben daraus auch die Konsequenzen gezogen. Ich hatte aber doch erwartet, dass die Kirchenleitung wenigstens ansatzweise das kirchliche Recht noch ernst nehmen würde. Dass sie sich stattdessen mit derartiger Brachialgewalt über Pfarrer, Kirchengemeinderat, Ortswahlausschuss und 70-80 Mitarbeiter hinwegsetzen würde, das hatte ich nicht vorhergesehen.

Da der ganze Konflikt bei allen lokalen Anlässen ein Verhalten der Kirchenleitung offenbarte, das zu gegebener Zeit an jedem andern Ort in dieser Landeskirche so wieder zu erwarten war, wurde uns bewusst, dass unser Weg in der Kirche hier zu Ende gehen musste. Der theologische Dezernent des Oberkirchenrats hatte mir auch gesagt: „Wenn Sie Ihr Gemeindeverständnis nicht grundlegend ändern, werden Sie auf die Dauer nicht Pfarrer dieser Kirche bleiben können.“ Darum ging die Auseinandersetzung im letzten ja auch. Ist „Kirche“ der Ort, wo Christus der Herr ist, oder da „wo jeder seine Nähe zur Gemeinde selbst bestimmt“ und seinen Pflichten als Gemeindeglied vollauf Genüge tut, wenn er alle 6 Jahre zur Kirchenwahl geht? Letztere Überzeugung vertraten der theologische Dezernent und der zuständige Prälat im Gespräch mit mir am 16.11.1995. Fazit: Pfarrer in einer Landeskirche kann heute nur noch sein, wer das unbiblische volkskirchliche Verständnis von Kirche akzeptiert, mindestens nach außen hin, und auch praktiziert!

Die Sicht der frommen Brüder

Das Schmerzlichste war in alledem aber bei weitem nicht das Verhalten der Kirchenleitung. Viel mehr schmerzte das Verhalten leitender evangelikaler Brüder. Zwar hatte ich nicht mit deren Unterstützung gerechnet, denn ich bin den Weg nicht im Vertrauen auf menschliche Hilfe gegangen, sondern weil ich der Überzeugung war und bin, aus Treue zu Christus und seinem Wort nicht anders zu können. Dass mir aber die Brüder in persönlichen Rückmeldungen und in öffentlichen Verlautbarungen noch in den Rücken gefallen sind, uns wegen ungeistlichen Verhaltens gerügt und öffentlich Verständnis für das Vorgehen der Kirchenleitung geäußert haben, hat weh getan.

Ein führender Vertreter der bibeltreuen Gruppen in Württemberg rief mich an und warf mir vor: „Du handelst ungeistlich, weil du eine geistliche Entscheidung mit dem Kirchenrecht herbeiführen willst.“ Die Logik scheint zu sein: Wer eine kirchliche Ordnung anwendet, die in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Reformation von der Synode beschlossen wurde, um Schaden von der Gemeinde Jesu abzuwenden, der handelt ungeistlich. Warum sollten Synoden dann überhaupt irgendwelche Ordnungen beschließen? Warum sollte Paulus in der Bibel Anweisungen für den Umgang miteinander in der Gemeinde Jesu gegeben haben, wenn deren Anwendung ungeistlich ist?

Ein zweiter höchster Vertreter der Bibel- treuen rief mich nach meiner Suspendierung an. Zunächst versicherte er mir, dass er sich für mich in einem Schreiben an den Bischof eingesetzt habe. Dann kritisierte er mich, dass wir im Kirchengemeinderat und Ortswahlausschuss diese Entscheidungen getroffen hatten. Seine Begründung war weder theologischer noch geistlicher noch kirchenrechtlicher Natur und verdient es, hier erwähnt zu werden. Ich zitiere wörtlich: „Diese Kirche ist nicht mehr Kirche.“ Das war sein Kernsatz. Und dann führte er aus, was ich inhaltlich in eigenen Worten, aber in Anlehnung an seine Formulierungen wiedergebe: Die Bibel, die Bekenntnisschriften und die Ordnungen unserer Kirche setzen eine Kirche voraus, die wirklich Kirche Jesu Christi ist und sein will. Da unsere Kirche nicht mehr Kirche ist, können diese Ordnungen in ihr nicht mehr angewandt werden. Vielmehr müssen wir die Kirche als heidnisches Gebiet betrachten, in dem wir missionarisch wirken.

Ich brachte den vorsichtigen Einwand, dass das Ordinationsgelübde, auf das ich als Pfarrer der württembergischen Kirche doch verpflichtet sei, etwas ganz anderes sage. Dem entgegnete er: Sie sind in ihrem Gewissen ja „salviert“ (= gerettet; diesen Ausdruck hat er wörtlich verwendet, denn den kannte ich vorher nicht), wenn Sie die kirchlichen Ordnungen und das Ordinationsgelübde nicht einhalten, denn die Kirchenleitung will ja gar nicht, dass Sie das tun. Darauf konnte ich ihm nur antworten: „Lieber Herr …, auf dieser Grundlage bin ich nicht Pfarrer dieser Kirche geworden und wäre dazu auch nie bereit gewesen.“ Dabei dürfte seine Meinung nahezu repräsentativ sein für den Pietismus und die Evangelikalen innerhalb der Landeskirchen. Sie haben sich damit abgefunden, dass unsere Kirchen nicht mehr Kirche sind. Sie haben sogar den Anspruch an unsere Kirchen aufgegeben, Kirche zu sein.

Bibeltreues Selbstverständnis und volkskirchliche Zwänge

Liebe Geschwister, wir müssen dabei bedenken: Das waren keine Außenseiter der pietistisch-evangelikalen Szene. Keine armen, schwach begabten Gestalten, die sich in ihrer Not nicht mehr anders zu helfen wussten als mit derart verqueren Gedanken. Das waren zwei der allerhöchsten Repräsentanten der Bibeltreuen in Württemberg. Ich kann dabei gut mitfühlen. Denn als landeskirchlicher Pfarrer habe ich in einer ganz ähnlichen Gedankenfalle gesteckt. Wir – ich schließe mich in diesen Prozess bewusst mit ein – sind ja Pfarrer in dieser Kirche geworden, mit dem Selbstverständnis „bibeltreu“ zu sein. Faule Kompromisse wollten wir nicht machen. Keiner! Jetzt kommt aber der kirchliche Alltag mit seiner ganz anderen Wirklichkeit. Lehnen Sie einmal eine Taufe, ein Konfirmationsbegehren oder eine kirchliche Trauung aus noch so guten biblischen Gründen und in völliger Übereinstimmung mit den kirchlichen Ordnungen ab. Dann ist was los! Dann kommt die volkskirchliche Seele zum Kochen. Das heißt: im Normalfall ist das unmöglich, wenn Sie Ihre Amtszeit nicht von vorneweg auf wenige Monate begrenzen wollen. Ich habe es selbst nur in den extremsten Fällen praktiziert, aber schon das war in dieser sogenannten Kirche zu viel. Das heißt: Ein landeskirchlicher Pfarrer ist am laufenden Band zur Vornahme von Amtshandlungen genötigt, die er biblisch nicht verantworten kann. Aber wir sind doch bibeltreu! Faule Kompromisse oder gar unbiblisches gemeindeleitendes Handeln sind von unserem Selbstverständnis und Anspruch an uns selbst von vornherein ausgeschlossen. Als – natürlich in aller Regel unbewusster – Ausweg bleibt nur, für das offensichtlich unbiblische Handeln doch noch eine biblisch und geistlich klingende Begründung zu finden. Wer in der Kirche bleiben und dabei sein bibeltreues Selbstverständnis nicht preisgeben will, muss in seinen Gedanken die Quadratur des Kreises schaffen. Wenn wir das einmal begriffen haben, verwundern die obigen Aussagen nicht mehr gar so sehr.

Missionarischer Pragmatismus

Eines dieser biblisch-geistlichen Hauptargumente heißt: missionarische Möglichkeit. Das heißt, wir handeln in der Kirche mehr oder weniger bewusst und fortlaufend gegen Gottes Wort, weil wir hier so großartige missionarische Möglichkeiten haben. Der Zweck heiligt die Mittel. Doch wer für den pragmatischen Erfolg die biblischen Grundlagen vernachlässigt, der versenkt langfristig das Schiff, auf dem er steht, und in das hinein er Gemeinde Jesu sammeln will.

Wir wollen immer wieder bedenken: Was heißt das für Theorie und Praxis unserer Gemeindearbeit? Kirche als heidnisches Missionsgebiet? Wohin sammeln wir dann die Menschen, die wir missionarisch erreichen? Wir ziehen sie aus dem Haifischbecken mit dem Etikett „Welt“ und werfen sie in das nächste Haifischbecken mit dem Etikett „Kirche“? Ist das die missionarische Arbeit, zu der uns Christus berufen hat? Ist das zu brutal gesagt? Denken Sie bitte darüber einmal intensiv nach. Und wie prägen wir damit unsere Gemeindeglieder – auch die Kerngemeinde?

Was mir neben der Reaktion erwähnter Brüder besonders schmerzlich war, war das Unverständnis einiger Mitarbeiter aus unserer Gemeinde. Sie verstanden unsere Entscheidung nicht. Ihr Argument hieß: Natürlich ist uns klar, dass dieser Mann in einer bibeltreuen Freikirche nie in die Gemeindeleitung kommen dürfte. Aber in der Volkskirche muss das doch möglich sein. Ich schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen. Aber beim weiteren Nachdenken wurde mir deutlich: Daran bin auch ich selber schuld. Als bibeltreue Pfarrer verkündigen wir biblisch. Am Sonntag im Gottesdienst, am Montag im Hauskreis und am Donnerstag im Bibelabend erzählen wir unseren Mitarbeitern, dass die Bibel verbindliche Richtschnur für unser Leben im Glauben, in der Familie und im beruflichen Alltag ist. Und wir führen ihnen Tag für Tag und Woche für Woche vor Augen, dass wir uns im gemeinde- leitenden Alltag nach allem möglichen richten, nur nicht nach dem Wort Gottes. Und zur Erklärung sagen wir: Das sind eben die volkskirchlichen Umstände.

Zerstören wir da nicht selbst aktiv die geistlichen Maßstäbe? Erzeugen wir nicht letztlich geistliche Schizophrenie? Ich will diesen Teil nicht abschließen, ohne eigenes Verschulden zu bekennen. In manchen Reaktionen war ich unangemessen in der Form, haben die Liebe und die Demut gefehlt. Dass ich es den Brüdern damit nicht leichter gemacht habe, auch öffentlich an meine Seite zu treten, ist mir bewusst.

Im Dauerstreit mit der Kirchenleitung konnten wir zu keinem Zeitpunkt unsere Berufung sehen. Da ein biblisch orientierter Dienst in der Landeskirche nicht mehr möglich war, würde Gott anderswo eine Aufgabe für uns haben.