Das Buch Prediger wurde für Martin Luther zu einem Lichtstrahl. Es brachte ihm Klarheit über mehr als tausend Jahre zurückliegender Kirchengeschichte. In der Vorrede zu seiner Auslegung dieses Bibelbuches bringt er diese Erkenntnis programmatisch auf den Punkt: „Sehr viele von den heiligen Vätern und hervorragenden Lehrern der Kirche haben durch dieses Buch [Prediger], das sie falsch verstanden, nicht geringen Schaden angerichtet. Sie gingen nämlich davon aus, Salomo lehre in diesem Buch die Verachtung der Welt, (wie sie es nennen), das heißt, die Verachtung dessen, was Gott geschaffen und verordnet hat. Einer von ihnen ist St. Hieronymus, der das Buch Prediger dazu benutzte, um die Jungfrau Blesila zu motivieren, ins Kloster zu gehen. In diesem Sinn legte er es aus. Dies nun war die Ursache davon, dass sich wie eine Sintflut die Mönchs-Theologie bzw. das Einsiedlerideal über die ganze Kirche ausbreitete. In ihr wurde gelehrt, es sei sehr christlich, dass man das Familienleben (Hauswesen), das weltliche Regiment […] verlassen möge, in die Wüste fliehe, sich vom menschlichen Gemeinwesen absondere und in der Stille und im Schweigen lebe. Denn [so die Begründung], in der Welt könne man Gott nicht dienen. So als ob Salomo den Ehestand, das Herrschaftsausüben (imperia) oder das Amt des Dienstes am Wort als eitel bezeichnen würde. Aber in seinem Buch preist er sie außerordentlich und bezeichnet sie als Gaben Gottes. Während Salomo lehrt, dass die Menschen und ihre Vorhaben eitel sind, verdrehen diese Leute alles und bezeichnen die Dinge selbst als eitel. Sie bilden sich ein, dass sie selbst sowie ihr eigenes Vornehmen wohlbegründet und richtig sei. [In Wahrheit] aber erträumen sie gerade das Gegenteil von dem, was Salomo sagt. Kurzum, sie haben aus diesem besonders schönen und sehr nützlichen Buch nichts Anderes als abscheuliche Dinge (monstra) hervorgeholt und offenkundig aus dem göttlichem Gold abscheuliche Götzenbilder gegossen […].“
Luther sieht sich also zu den bisherigen Auslegungen des Predigerbuches in scharfem Gegensatz. Im Wesentlichen dreht sich der Konflikt um ein unterschiedliches Verständnis dessen, was Salomo mit Nichtigkeit oder Eitelkeit meint. Der Reformator ist der Überzeugung, Salomo habe mit diesem Begriff nicht im Sinn, die äußerlichen, sichtbaren Dinge an den Pranger zu stellen. Der König habe nicht dazu aufgerufen, aus der Welt auszusteigen und ein weltabgewandtes Leben zu führen. Vielmehr besteht die Eitelkeit, von der Salomo spricht, darin, so Luther, dass der Mensch sich in seinem Herzen an die irdischen Dinge bindet, an die Dinge unter der Sonne. Dadurch steigert sich der Mensch in den Wahn hinein, im Irdischen sein Leben zu finden.
Für den Reformator besteht die Botschaft des Buches Prediger in dem Aufruf, diese Welt zu überwinden. Dieses Überwinden der Welt erfolgt nicht durch Weltflüchtigkeit, wie es Hieronymus und seine zahlreichen Nachfolger verstanden hatten, sondern durch das Kreuzigen dieser verkehrt ausgerichteten Lebensgier. Dazu haben wir unser Herz auf den Gott auszurichten, der alles in seinen Händen hat und alles regiert, was unter der Sonne geschieht. Aus diesem Grund mündet das Buch in den Aufruf, Gott zu fürchten und seine Gebote zu halten. (Pred. 12,13)
Aus dem Vertrauen gegenüber dem Gott, der für die Seinen alles zum Besten arrangiert, sind wir dann aufgerufen, uns wieder der Welt zuzuwenden. Das heißt, wir sollen dann unser Leben unter der Sonne führen als dem Ort, den Gott uns angewiesen hat, damit wir dort unserem Nächsten in Liebe dienen. Bei diesem Dienst in der Welt werden uns Leiden, Enttäuschungen und Anfechtungen nicht erspart bleiben. Aber dass Derartiges über uns kommt, ist kein Grund, zurückzuweichen oder zu resignieren.
Ein Leben, das auf den Dienst an unserem Mitmenschen ausgerichtet ist, ist nicht nur wesentlich nützlicher als ein Einsiedlerdasein, sondern der damit verbundene Verdruss und das dadurch über uns auch hereinbrechende Leid sind geradezu nützlich: Denn sie dienen der Kreuzigung unserer fleischlichen Begierden. Also auch aus dieser Perspektive ist ein Leben zugunsten unseres Nächsten auf jeden Fall geistlicher als das – weitgehend fruchtlose – Dasein eines weltabgeschiedenen Mönchs.
Bei dieser zweifellos sehr negativen Beurteilung des Mönchtums hatte Luther das Ordens- und Klosterleben seiner Zeit vor Augen. Seit dem Spätmittelalter waren die Klöster vielfach opulent geworden. Diejenigen, die in einen Orden eintraten, hatten sich durch diesen Schritt weitgehend den Wechselfällen des Lebens entzogen. Für ihr weiteres Leben waren sie mit Nahrung, Kleidung und Wohnung versorgt. Ganz anders hatte es sich noch im Frühen Mittelalter verhalten: Zum Beispiel war den Benediktinern in ihren Anfangszeiten („Bete und arbeite!“) und später den Zisterziensern ein außerordentlich arbeitsreiches und mit großen Entbehrungen verbundenes Leben aufgegeben.
Aber im Vollzug seiner Beschäftigung mit dem Predigerbuch erkannte Luther immer schärfer, dass ein Entweichen aus den Belastungen und Zerreißproben des Alltags nichts anderes ist als eine Flucht vor den uns von Gott aufgetragenen Verpflichtungen. Es ist ein Desertieren aus der „Schlachtreihe Christi“. Von daher sieht der Reformator das Buch Prediger in dem Aufruf zusammengefasst: „Verlass die Schlachtreihe nicht, sondern halte durch!“1
3. Das Predigerbuch, ein Handbuch zu einer verantwortlichen Lebensführung in dieser Welt
Das Buch Prediger wurde für Luther zu einem Leitfaden für ein Leben unter der Sonne. Ein Leben in dieser Welt heißt, dass wir bei allem Hin- und Hergerissensein unseres Herzens, inmitten aller uns begegnenden Unaufrichtigkeiten, Lügen, Betrügereien und Unsinnigkeiten aufgerufen sind, in den Ordnungen und Strukturen zu leben, die Gott unter der Sonne gegeben hat.
In dieser verkehrten und dem Tod verfallenen Welt hat Gott nämlich Ordnungen geschenkt, wie Ehe, Familie, Staat und das Gemeinwesen. Der Reformator spricht in diesem Zusammenhang sogar von „weltlichen Zeremonien“ (ceremoniae profanae). Diese „weltlichen Zeremonien“ sind nicht willkürliche, von Menschen erfundene Lebensentwürfe, die man für sein Leben verwenden kann oder auch nicht. Es sind nicht kulturell oder geschichtlich bedingte und darum soziologisch beliebig veränderbare Modelle, sondern es sind Manifestationen Gottes, des Schöpfers. Diese Einrichtungen empfangen ihre Kraft aus dem unvergänglichen Reich des Schöpfers über der Sonne.
In der Ehe und Familie
In diesem Sinn heißt zum Beispiel, „die Schlachtreihen nicht zu verlassen“, die Herausforderungen einer Eheschließung und einer Eheführung anzunehmen. Im Lauf einer lebenslangen Ehe mag es „böse Tage“ geben. Aber auch solche Tage gestatten niemandem, aus der Ehe auszubrechen. Enttäuschungen und Unglücksfälle, die man erfährt, soll man in Geduld tragen und sie als Prüfungen annehmen. Alles andere wäre ein Desertieren. Gott hat uns in die Ordnungen der Ehe und der Familie gestellt, damit wir auch darin mit Ausharren in guten Werken unseren Dienst verrichten.
In seiner Auslegung zu Prediger 7,[2]3 schreibt der Reformator: „Während Hieronymus gelehrt hat, dass man ein eheloses, das heißt ein angenehmes Leben führen solle, hat Salomo ganz anders gesprochen: Man soll das Kreuz tragen […]. Es ist zwar im Welt- und auch im Hausregiment alles voller Beschwerlichkeiten und Trauer, aber es ist besser, dies Kreuz zu tragen als zu fliehen. Denn wer sich in Trauer bewegt sowie dort, wo der Tod seine Herrschaft kundmacht (in mortificatione), der gewöhnt sich selbst daran, zu sterben. Er wird des Lebens satt, und er stirbt ohne Herzeleid. Wer sich aber nicht daran gewöhnt, sondern immer in Freuden ohne Kreuz leben will, dessen Herz wird nicht geübt, und er stirbt mit der größten Traurigkeit […]. Aber wer mitten in den Angelegenheiten bleibt, der wird geübt und abgehärtet dadurch, dass er sie trägt […]. Denn dadurch, dass du die Übel trägst, wirst du einen guten Namen bekommen, und man wird von dir sagen: Das ist ein tapferer Mann, der mitten unter den Übeln ausgeharrt hat, der hat alle diese Abläufe und Bosheiten der Welt und des Satans überwinden können. Denn mitten unter diesen Übeln lernt der Mensch die Übel zu verachten […]. Deshalb müssen wir nicht so sehr fliehen vor den Übeln, uns auch nicht davor entsetzen, da wir wissen, dass dies das Ende aller Menschen ist, nämlich Hass, Verleumdung, Unglück und Tod. Wenn du durch diese hindurchbrechen willst, so musst du sie durch beständigen Gebrauch erlernen. Den Toren kommt solche Beschwerlichkeit immer zur Unzeit. Für die Gottseligen aber ist sie durch lange Gewohnheit abgetan […], weil sie leben, nur um Gottes willen, und er will, dass sie so leben.“
Etwas später fügt der Reformator hinzu: „Wer im öffentlichen Leben oder im Hauswesen dienen will, der muss erwarten, dass er seine Wohltat verliert, gleichwie Gott die Wohltat der Sonne und aller seiner Gaben an die undankbaren und gottlosen Leute verliert (Mt. 5,45).“2
Im Dienst am Wort Gottes
Entsprechendes gilt für den Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes. Wenn Schwierigkeiten auftreten, darf ein Wortverkündiger nicht resignieren. Vielmehr hat er an seiner Berufung festzuhalten: „Wenn ich von dem Amt des Wortes absehen müsste, weil ich nur bei sehr wenigen die Frucht des Wortes sehe, stattdessen aber eine überaus große Verkehrtheit, fast der ganzen Welt, und die höchste Undankbarkeit, so hätte ich schon längst schweigen müssen. Aber Gott tut wohl daran, dass er uns dies nicht eher sehen lässt, als wenn wir bereits mitten im Laufe sind, wo man nicht zurückweichen darf, und es viel besser ist, durch diese Übel geplagt zu werden als zurückzuweichen.“3
Wenig später fügt Luther hinzu: „Bist du ein Prediger des Evangeliums, so predige in solcher Weise, nicht als ob du alle für Christus gewinnen könntest (denn nicht alle gehorchen dem Evangelium), sondern wenn du drei oder vier Seelen gleichsam als Enden von rauchenden Bränden Christum zuführen und bekehren kannst, so sage Gott Dank. Denn man muss nicht um deswillen aufhören, weil so wenige sich bei der Predigt des Evangeliums bessern, sondern handele so, wie Christus getan hat. Er hat die Auserwählten herausgerissen, die anderen fahren lassen. So haben es auch die Apostel gemacht. Dir wird es nicht besser ergehen. Du bist töricht, wenn du dich in den Wahn hineinsteigerst, alles ausrichten zu wollen, und, wenn es dann nicht gerät, in allem in Verzweiflung gerätst.“4
Im politischen Feld
Vor allem aber, so der Reformator, hat Salomo im Buch Prediger den Dienst am politischen Gemeinwesen im Blick. Bereits im Vorwort zu seinem Predigerkommentar erklärt Luther, dieses Buch könne die Überschrift tragen: Salomos Sicht auf Politik und Gemeinwesen [Politica vel Oeconomica Salomonis].
Das Besondere am Predigerbuch ist, dass Salomo hier nicht die Absicht hat, die Gebote und Gesetze Gottes für das menschliche Zusammenleben zu verkünden. Diese hatte Gott bereits am Berg Sinai seinem Volk gegeben. Das Charakteristische des Buches Prediger besteht darin, dass die staatliche Ordnung als ein Schöpfungswunder kundgemacht wird. Innerhalb des Stromes der die Menschen so häufig zermalmenden Geschichte hat Gott die Obrigkeit geschenkt. Diese Ordnung fungiert in der Welt als ein Schirm, so dass das menschliche, von Nichtigkeiten durchsetzte Leben trotzdem in relativer Sicherheit und Freiheit ablaufen darf. Auf diese Weise manifestiert sich durch diese Institution etwas von der Strahlkraft und von dem Glanz des Reiches über der Sonne.
Dass in dieser durch Sünde und Nichtigkeit zersetzten Welt nicht alles drunter und drüber geht, erfüllt den Reformator mit Staunen: Trotz aller menschlichen Gemeinheiten, verlogenen Hinterhältigkeiten und abgründigen Dämonien hat Gott unter der Sonne eine Ordnung aufgerichtet, durch die er das menschliche Zusammenleben erhält. Es wäre darum irrig, von einem Gegensatz zu sprechen zwischen dem Reich Gottes und dem Leben in den Ordnungen dieser Welt. Denn es ist Gott selbst, der in diese Welt Ordnungen gegeben hat wie Ehe, Familie, Kirche und nicht zuletzt den Staat. Diese sind im Reich über der Sonne verankert.
Angesichts seiner bitteren Erfahrungen mit den anarchistischen Bilderstürmern (Karlstadt etc.) sowie mit den aufständischen Bauern machte sich Luther über ein Leben in dieser Welt der ideologischen Träumereien, Nichtigkeiten und auch der Todverfallenheit keinerlei Illusionen. Aber nicht zuletzt aufgrund seines intensiven Bemühens um das Buch Prediger bestand er darauf, dass ein Leben in dieser Welt, das Gott die Ehre geben will, nicht in ein Kloster führt. Das Gegenteil ist der Fall: Ein Leben vor dem Angesicht Gottes in dieser Welt zu führen heißt, im Glauben und in der Hoffnung auf das Reich über der Sonne ausgerichtet zu sein. Von dieser Blickrichtung her ist man dann aufgerufen, in dieser vom Tod und Leid zerfressenen Welt dem Nächsten zu dienen, auch im politischen Feld. Erfolglosigkeiten und Enttäuschungen sind in diesem Dienst nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Sie sind an der Tagesordnung. Selbstverständlich wird das Handeln eines Regenten auch niemals dazu führen, dass die Lebensumstände unter der Sonne zu einem Paradies gewandelt werden können. Aber wenn ein Herrscher sich an den Geboten Gottes orientiert und das Gemeinwesen entsprechend leitet, ist es möglich, dass ein Volk in dieser Welt beherbergt lebt.
Der Staat – ein Geschenk Gottes
Beim Studium des Buches Prediger wurde Luther immer mehr davon überzeugt, dass Salomo diese Schrift vorrangig deswegen verfasst hat, damit man den Staat als eine von Gott geschenkte Einrichtung [ordinatio divina]
zu begreifen lernt. Anstatt Gleichgültigkeit oder Verachtung gegenüber dieser Institution an den Tag zu legen, wie der Reformator es bei den Täufern wahrnahm, aber auch bei vielen evangelischen Christen, sah er sich aufgrund des Wortes Gottes dazu verpflichtet, jeden dazu aufzurufen, also sowohl Fürsten als auch Untertanen, sowohl Magistraten als auch das Volk, sowohl Bauern als auch Städter, den Staat und das politische Gemeinwesen als ein Geschenk des himmlischen Vaters anzuerkennen und dankbar anzunehmen.
Obwohl durch den Sündenfall die Schöpfung der Nichtigkeit und dem Tod preisgegeben ist, zeigt sich in ihr trotzdem Gottes Treue. Diese manifestiert sich nicht nur in dem Erhalt von Ehe und Familie, sondern auch in dem Geschenk der Obrigkeit.
Darum sind verantwortungsvolle Regenten aufgerufen, das Gemeinwesen zu schützen und zu fördern, sodass dem Volk ein Raum geschaffen wird, in dem die Einzelnen einander behilflich sein können und sich gegenseitig unterstützen: „In einem Gemeinwesen waltet gegenseitige Hilfe, gemeinsame Werke, gemeinsamer Trost, während das Leben des Geizigen elend, unnütz und trübselig ist und er schlussendlich jämmerlich umkommen muss. Dies bestätigt Salomo durch das Sprichwort in Prediger 4,12: Eine dreifache Schnur reißt nicht sobald entzwei.“5
Die Aufgabe einer verantwortungsvollen Obrigkeit
Aufgabe der Regierung (magistratus) ist es, die Rechtsordnung zu schützen und sie durchzusetzen. Wenn sie diesem Auftrag mit Fleiß nachkommt, handelt sie gemäß der Nächstenliebe. Aber in dem Fall, dass sie anfängt, sich über das Recht hinwegzusetzen, stürzt sie ein Volk ins Verderben und in den Untergang.
Ferner haben die Regierenden Sorge dafür zu tragen, dass das Gemeinwesen mit dem Notwendigen ausgestattet ist. Salomos Feststellung, es sei ein Vorteil für ein Land, einen König zu haben, der dem Ackerbau dient, kommentiert Luther folgendermaßen: „Dies scheint eine Aussage über die Obrigkeit des Königs zu sein, durch die angezeigt wird, was für einem Amt er vorsteht und womit überhaupt die weltliche Macht zu tun hat. Im Blick darauf sagt er, dass die Obrigkeit eingesetzt ist, um das Land zu bebauen und um das den Untertanen zugefügte Unrecht und Böse zu rächen. Der König hat das Schwert, damit er die Unschuldigen schützt und die Schuldigen straft. Denn Gott lässt keine Übeltat im Land zu, die er nicht durch die Obrigkeit bestraft. […] Es ist aber etwas Schönes, dass der König ein Bebauer des Landes genannt wird, was nicht nur das Betreiben des Ackerbaus anzeigt, sondern auch das Erhalten des ganzen weltlichen Regiments, was durch Gesetze, Gerichte etc. geschieht. Denn einem König kommt es zu, dass er sowohl schützt als auch nährt, und die Güter und Reichtümer der Menschen zuwege bringt. Der Ackerbau bringt die Güter hervor, der Kriegerstand oder das Schwert schützt sie, hält schädliche Leute im Zaum, damit die anderen das Feld bebauen und das ausrichten können, was sie schuldig sind. So liegt es beim König, sowohl, dass Güter erworben als auch, dass sie erhalten werden, denn wenn er nicht verteidigt, so können die anderen das Land nicht bebauen.“6
Sich intensiv darüber den Kopf zu zerbrechen, wie und auf welche Weise das Gemeinwohl gefördert werden kann, ist, so Luther, ein Gott wohlgefälliges Werk. Dabei soll aber der verantwortliche Regent sein Vertrauen nicht auf die eigenen Pläne und Beschlüsse setzen. Schon gar nicht steht es ihm zu, Gott vorschreiben zu wollen, auf welche Weise, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort er zu handeln habe. Vielmehr soll der verantwortliche Herrscher seinem Auftrag, das Gemeinwesen zu fördern, fröhlich im Vertrauen auf Gott nachkommen und seine Entscheidungen treffen, ohne ängstlich besorgt zu sein.
Facetten des Dienstes innerhalb der politischen Ordnung
Auf den ersten Blick erscheinen die Aussagen unzusammenhängend, die Salomo im Buch Prediger aufgezeichnet hat. Einen solchen Eindruck machten die Aussprüche des Königs anfangs wohl auch auf Luther. Aber dann erkannte er, dass das Einheitliche in den Äußerungen darin besteht, dass der König unterschiedliche Gesichtspunkte zusammenträgt, die für jemanden, der in einem Gemeinwesen Verantwortung übernommen hat, von großem Belang sind.
Offenkundig machte Salomo seine Aussagen in vertrauter Runde. So brauchte er auch schmerzliche Rückschläge und ruhmlose, demütigende Erfahrungen nicht zu verschweigen.
Luther knüpfte an diese Aussagen an und wies mehrfach darauf hin, dass man stets mit dem Scheitern der eigenen Pläne rechnen müsse.
In dieser Welt zu regieren heißt ferner auch, dass man zum Kompromiss fähig und auch bereit sein muss: Es wäre geradezu katastrophal, wenn sich ein Regierungsverantwortlicher über das Recht hinwegsetzen würde oder wenn er es gar verachten würde. Aber es hätte ebenfalls verhängnisvolle Folgen, wenn er sich gleichsam zum Gefangenen seiner eigenen Idealvorstellungen machen würde und auf Biegen und Brechen auf ihre Durchsetzung bestehen würde.
Zu Salomos Aussage aus Prediger 7,15 [16] (Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meiner Nichtigkeit. Da ist ein Gerechter, der umkommt in seiner Gerechtigkeit, und dort ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit) führt Luther aus: „Salomo spricht hier nicht von der göttlichen Gerechtigkeit oder der Gerechtigkeit des Glaubens, sondern von der weltlichen Gerechtigkeit. Man muss unter einem Gerechten hier jemanden verstehen, der auf die Gerechtigkeit dringt […] im weltlichen Regiment und als guter Haushalter. Salomo sagt, ich habe einen Gerechten gesehen, der treffliche Rechte und Gesetze hatte. Da er anfing, auf dieselben zu dringen und alles nach der Richtschnur einforderte, richtete er nichts Anderes aus, als dass alles rückläufig ging. […]. Dann wird das höchste Recht zum höchsten Unrecht. Wer im weltlichen Regiment oder im Hauswesen alles nach der Schnur regieren und gerademachen will, der wird viel Mühe haben, aber keinen Erfolg. Jemand anderes will [demgegenüber] gar nichts tun, und er ist ein Verächter der Gerechtigkeit. Keines von beiden ist tauglich, weder dass man weise noch dass man unweise ist. Man soll weder gerecht noch gottlos sein. Was soll man dann tun? Es geht um den Mittelweg: Sei nicht allzu gerecht und erzeige dich nicht übermäßig weise! Warum willst du dich selbst verderben. Sei aber auch nicht allzu gesetzlos und sei kein Tor! Warum willst du vor deiner Zeit sterben. Es ist am besten, du hältst das eine fest und lässt auch das andere nicht aus der Hand. Denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allen. (Pred. 7,16-18 [17-19])
Mit anderen Worten: Derjenige, der die weltliche Gerechtigkeit in die Praxis umsetzen will, wird sich darüber im Klaren sein müssen, dass in dieser Welt, so wie sie nun einmal ist, das höchste Recht in der Regel nicht durchsetzbar ist: „Eine verständige obrigkeitliche Person […] muss einen Unterschied machen zwischen einem guten Gesetz und dem Gehorsam der Untergebenen gegen dasselbe. Es ist besser, dass wir eine maßvolle Auflehnung (modicam rebellionem) erdulden, als dass das gesamte Gemeinwesen zu Grunde geht. […]. Deshalb müssen die Gesetze ausgeführt werden, und es muss auf sie gedrungen werden, soweit es der Sache dient, aber nicht weiter. So handeln auch die Ärzte. Nicht nur nach Büchern oder dem, was vorgeschrieben ist, beurteilen und heilen sie Krankheiten, sondern sie müssen häufig Änderungen vornehmen, je nach der Beschaffenheit der Leiber. So sind auch die Gemüter der Menschen unterschiedlich angelegt, sodass man die Gesetze oft mäßigen muss. Hierzu sind sehr weise Männer erforderlich, deren es sehr wenige in der Welt gibt…“7
Zu der Anweisung Salomos, Befolge den Befehl des Königs, und zwar wegen des vor Gott geleisteten Eides, kommentiert der Reformator: „Wir haben gesehen, dass Salomo in diesem Buch davon handelt, die Menschen von ihrem Tun abzuhalten. Da er dies tut, so bedarf es nicht geringerer Mühe, dass er sie wieder zur Tätigkeit zurückbringt. So mahnen auch wir, wenn wir den Glauben predigen, die Menschen ganz und gar von den Werken ab, sodass wir das Zur-Ruhe-Kommen-von-ihrem-Tun (sabbatum) preisen. Wiederum, wenn der Glaube gepflanzt ist, so muss man darauf aus sein, dass die Christen überaus fleißig gegenüber ihren Nächsten sind und […] in guten Werken eifern (Tit. 2,14), in der Liebe entbrennen und die Ruhe (sabbatum) nur einhalten gegenüber Gott. So lehrt er hier, dass wir nichts tun sollen nach unseren Ratschlägen und unserem Vornehmen, sondern alles nach dem Wort Gottes. Hiervon spricht Salomo ungefähr das halbe Kapitel lang […].“8
Zu Salomos Aussage, Das Mühen des Toren ermüdet ihn, dabei findet er nicht einmal den Weg in die Stadt, führt Luther Folgendes aus: „Salomo hat hier eine hebräische Redewendung verwendet, die zum Beispiel auch in Psalm 107,4 vorkommt. Der Sinn ist: den Weg dorthin finden, wo Menschen zusammenleben. Mit anderen Worten: Während die Toren mit großem Eifer Pläne schmieden und einen großen Aktivismus entwickeln, gelingt es ihnen nicht, etwas auf die Reihe zu bringen, was dem Menschen [tatsächlich] dient. Sie finden nicht den Weg, um ein Gemeinwesen instand zu halten. Die Toren mühen sich bei Tag und bei Nacht ab und sind darauf bedacht, das Ihre durchsetzen. Aber dieses Arbeiten bringt ihnen nichts, als dass sie sich nur immer weiter plagen. Es sind diese beiden Gegenüberstellungen zu beachten. Der Tor hat Elend bei seiner Arbeit, der Weise Fröhlichkeit. Denn wenn der Tor sieht, dass sein Vornehmen keinen Fortschritt bringt, hat er ein unruhiges Herz. Denn er kann und weiß nicht, das Gedeihen Gott anzubefehlen. Der Weise aber hat zu beiderlei Zeit dasselbe Herz. Denn er weiß, dass die Sachen nicht durch unsere Ratschläge oder durch unser Tun regiert werden, sondern durch den Willen Gottes. Diesem befiehlt er auch das Gedeihen und den Erfolg seiner Ratschläge […]. Weil alle Wege so angelegt sind, dass sie zu irgendeinem Orte führen, wo Menschen wohnen, sie [die Toren] aber den Weg dorthin gänzlich verfehlen, bleiben sie nirgends beständig. Demgegenüber bleiben die Weisen auf dem Wege und bewahren ihren Ort, obgleich sie in mancherlei Gefahren und Hindernisse geraten. Denn sie haben vorausgesehen, dass es so kommen werde. Daher soll ein jeglicher mit fröhlichem Herzen wirken und arbeiten. Derjenige wird aber mit fröhlichem Herzen tätig sein, der da weiß, dass er sich in der Welt in Gefahren befindet. So wird das Übel überwunden, ehe es kommt.“9
Im Folgenden analysiert Luther die Aussage Salomos, dass in dieser Welt immer die Toren dominieren: „Wir haben es bisher gehört, dass es in den menschlichen Angelegenheiten so zugeht, dass die Toren hauptsächlich die Oberhand haben und herrschen, obgleich zu ihrem großen Unglück, dass sie, wenn sie die Worte der Weisen unterdrückt haben, selbst die Strafen ihrer Torheit erleiden müssen […]. Dies ist heutzutage der Fall in dem weltlichen Regiment in Deutschland und in Spanien, wo Fürsten, die für außerordentlich weise gehalten werden, nur zugunsten ihres eigenen Nutzens regieren und ihren eigenen Vorteil suchen. Die anderen Fürsten denken an nichts Anderes als an Pferdereiten, Huren hinterherlaufen, Trinkgelage usw., indem sie ihren Ratsleuten alles überlassen, die [ebenfalls] auf Gewinn aus sind, das Ihre suchen und sich um das Gemeinwohl nicht im geringsten kümmern. Und so verhält es sich in ganz Deutschland, das nichts anderes ist als eine Wüste. Es ist ohne höfliche Umgangsformen und ohne Sorge um die Erziehung der Jugend. Die Gesetze, die guten Sitten und die Kunst sind verschwunden. Eine Rechtspflege existiert auch nicht mehr.“10
Aber Niederlagen, in die die eigensüchtig Regierenden ihr Volk bringen, bedeuten umgekehrt nicht, dass einem guten Fürsten alles gelingt: „Ein guter Fürst ist ein großes Geschenk. Er bedenkt und versteht, was für sein Land nützlich ist. Er achtet darauf, was einem jeden rechtmäßig zukommt, damit alles gemäß den Gesetzen geschieht und geregelt wird und jeder sein Recht bekommt. Aber auch einem solchen gerät nicht alles, ja vieles entwickelt sich völlig anders. Doch darum soll er von seinem Vornehmen nicht ablassen, sondern fortfahren tätig zu sein, soviel er vermag. […]. Denn in dieser Weise war Salomo ein sehr guter und weiser Fürst oder König, so dass er auch Grundregeln zur Unterweisung der Jugend verfasste. Dennoch hat er selbst davon nichts gehabt als Beschwerlichkeiten und viel Arbeit.“11
Zu Salomos Aufforderung, Fluche dem König nicht einmal in deinen Gedanken, führt der Reformator aus: „Dieses Kapitel [gemeint ist Kapitel 10] war ein Angriff auf die Toren und eine Beschreibung des Reiches der Welt, wie es beschaffen ist, damit ein jeglicher, der mit dem Regieren beschäftigt ist, erkennen möge, dass er ein gar unseliges Amt zu verwalten hat. Das ist aber, sage ich, die höchste Weisheit, dass man weiß, dass dieses Reich der Welt ganz voller Bosheit ist und nicht gebessert werden kann. Nun aber werden wir zu guten Werken ermahnt. Denn wenn gelehrt wird, wie gottlos das Reich der Welt ist, so beginnen die Herzen der Menschen verdrossen zu werden. Sie denken daran, sich von dem Wirken in diesen Angelegenheiten zurückzuziehen und die Welt zu verlassen, da sie sich von der Bosheit der Menschen haben überwältigen lassen. […]. Aber Salomo lehrt, dass man je boshafter und unbilliger die Welt ist, desto mehr anhalten und arbeiten muss, damit wenigstens etwas geschieht.
Und als erstes fängt er damit an, dass man die Obrigkeit ehren soll. Denn die Obrigkeit ist Gottes Ordnung und der beste Teil, den es in dieser Welt, also unter der Sonne gibt. Durch das obrigkeitliche Amt leitet Gott alles, was unter der Sonne geschieht. Die Gottlosen beginnen aber vorrangig mit der Verachtung der Obrigkeit, da sie hören, dass Gott in der Heiligen Schrift straft. Aber die Obrigkeit zu schelten und zu strafen, ist Gottes Amt. Obgleich du dies [von dem Strafen] hörst, steht es dir nicht zu, es zu übernehmen. Denn du bist nicht Gott oder der, der die göttliche Ordnung gemacht hat oder sie herstellen soll […]. Der Sinn dieser Aussage ist also: Diejenigen, die zur Gewalt verordnet sind, soll man ehren, weil es nicht eine menschliche, sondern Gottes Ordnung ist. Obgleich Petrus die Obrigkeit eine menschliche Kreatur nennt (1Petr. 2,13), weil man das Amt von Menschen empfängt, so ist doch ihre Gewalt eine göttliche […]. Das heißt: Wir können weder uns selbst noch andere tragen, ja, weder Glück noch Unglück. Wenn Gott uns mit geringen Trübsalen versucht, sei es mit Krankheiten oder mit Armut etc., so werden wir ungeduldig, klagen Gott an etc. Wenn er uns aber nach unseren Lüsten gehen lässt, so können wir auch selbst das nicht ertragen. Groß ist die göttliche Geduld, die uns tragen kann bei einer so großen Undankbarkeit. Deshalb sollen wir aufhören, den Obrigkeiten zu fluchen. Stattdessen sollen wir ihnen Ehre erweisen, mögen sie nun gut oder böse sein. Sage Gott Dank, wenn sie gut sind. Die aber im Amt des Wortes (officio in verbo) sind, die mögen strafen, jedoch nicht das gemeine Volk.“12
Der Wortverkündiger hat die Herrschenden gegebenenfalls zur Ordnung Gottes zu rufen
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war es in bestimmten theologischen Richtungen üblich geworden, Luther vorzuwerfen, er habe aus der staatlichen Ordnung eine Art sakralen Raum gemacht. Dementsprechend habe er dann eine geradezu devote Untertänigkeit gegenüber den Herrschenden eingefordert. In diesem Sinn vertrat der Schweizer Theologe Karl Barth die Ansicht, man müsse eine geistig-historische Entwicklungslinie von Luther über Friedrich den Großen zu Bismarck bin hin zu Hitler ziehen.13
Aber gerade die letzte Bemerkung Luthers in dem letzten hier wiedergegebenen Zitat kann deutlich machen, wie verfehlt ein solches Urteil ist. Der Reformator war weder ein Fürstenknecht noch vertrat er gegenüber den Regierenden einen Kadavergehorsam. Für Luther ist deutlich: Wie alles Wirken in dieser Welt, so ist auch das Amt der Obrigkeit ein Beruf. Genauer: Es ist eine Berufung (vocatio), und zwar von Gott. Diese Berufung empfängt ihre inhaltliche Füllung durch das Recht, also durch die Gebote Gottes.
Wenn die Regierenden von ihrer Berufung abweichen, gibt es eine Instanz, die dazu aufgerufen ist, die Obrigkeit zurückzurufen. Dieser Auftrag steht dem normalen Bürger nicht zu. Aber ein Wortverkündiger hat eine solche Aufgabe kraft seines Amtes gegebenenfalls auf sich zu nehmen. Wenn er die Obrigkeit zur Ordnung ruft, muss er sich allerdings darüber im Klaren sein, dass sein Verkündigen hinein in den öffentlichen Raum ein außergewöhnliches Strafamt ist. Wenn man so will, ist es eine Teufelsbannung. Denn es geht dann um nicht weniger, als dass Unrecht aufgedeckt und die Herrschaft der Lüge gebrochen wird. Es geht dem Wortverkündiger nicht darum, in das Amt der Regierenden hinüberzugreifen oder es selbst an sich zu reißen. Vielmehr geht es allein darum, die Regierenden zu ihrem von Gott empfangenen Amt zurückzurufen, so dass sie wieder innerhalb des Rechts arbeiten. Luther weist als Vorbild für einen derartigen öffentlichen Einsatz zugunsten der Wahrheit und der Gerechtigkeit auf die alttestamentlichen Richter und Propheten hin. Damals, so Luther, kostete ein solcher Dienst vielen von ihnen das Leben. Das kann auch heute passieren.
Wie eine solche Verkündigung aussieht, hat der Reformator selbst mehrfach veranschaulicht. Man denke an seine berühmte Reformationsschrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520). Ausdrücklich beruft er sich hier auf sein Amt als „geschworener Doktor der Heiligen Schrift“. Kraft dieses Amtes ist er zum Sprechen befugt. Bezeichnenderweise beginnt er in dieser Schrift seinen Aufruf mit einem Zitat aus dem Predigerbuch Salomos: „Die Zeit des Schweigens ist vergangen, und die Zeit zu reden ist gekommen, wie der Prediger sagt (Pred. 3,7).“14 Mit diesem Zitat signalisiert Luther auch, dass das Ob und dann auch der Zeitpunkt, also wann ein Wortverkündiger sich an die Regierenden zu wenden hat und wann er besser den Mund halten soll, nicht leichtfertig entschieden werden darf. Es muss vielmehr ernsthaft geprüft werden. Grundsätzlich muss auch klar sein: Egal zu welchem Ergebnis ein Wortverkündiger gelangt, in seinem Auftreten hat er stets die Form zu wahren. Es steht niemandem zu, eine Obrigkeit zu beleidigen oder zu diffamieren. Aber halten wir fest: Wäre Luther ein Fürstenknecht, würde er anders sprechen.
In der Erziehung und in der Pädagogik
Luther fällt auf, dass Salomo im Predigerbuch dem pädagogischen Bereich breiten Raum widmet. In gewisser Weise, so folgert Luther, liegt bereits im Obrigkeitsamt selbst eine Erziehungsaufgabe. Dass der Staat sich dann auch konkret der Erziehung und der Ausbildung der Jugend annehmen muss, ist dadurch verursacht, dass die Eltern, die für die Unterweisung ihrer Kinder eigentlich zuständig wären, diese Aufgabe so häufig vernachlässigen oder ihr nicht nachkommen.
Für Luther zeigt sich die Vorbildhaftigkeit des Königs Salomo darin, dass er sich um die Erziehung der nächsten Generation kümmert. In seinem Kommentar zu Prediger 11,9 bezeichnet Luther den König Salomo als den besten Lehrer der Jugend (optimus magister iuventutis).
Neben seinen vielen anderen Aufgabenfeldern hat, so Luther, der König Salomo sich auch mit der Pädagogik beschäftigt. Das Bibelbuch der Sprüche ist ihm der Beleg, dass Salomo sich bei allen seinen sonstigen Verpflichtungen Zeit nahm, den Jugendlichen väterliche Anweisungen und Winke zu geben.
Luther ist davon überzeugt, dass Jugendliche nicht in der Lage sind, sich selbst zu führen. Vielmehr müssen sie von anderen zu einer rechten Lebensführung angeleitet werden. Dies erfolgt sowohl durch Ermutigung als auch durch Tadel. Es geht darum, dass die jungen Leute die Verführungen des Lebens durchschauen, ihnen nicht nachgeben, sondern diese überwinden, damit sie nicht ins Verderben sinken.
Zu Salomos Aussage, So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und lass dein Herz guter Dinge sein in den Tagen deines Jugendalters, führt Luther Folgendes aus: „Nachdem Salomo einen seltenen Vogel beschrieben hat, nämlich einen Mann, der die ganze Zeit seines Lebens mit fröhlichem Herzen gelebt und die hereinbrechenden Übel und die Bosheit der Welt verlacht hat, fügt er jetzt eine Ermahnung hinzu. Darum sagt er: Du Jüngling, der du die Welt nicht kennst, wenn du fröhlich leben willst, so höre, was ich dir schreibe und dich lehre, damit du nicht zu weit gehst. Lebe so, dass du ein Verächter der Welt bist, das heißt, dass du ihre Bosheit überwindest. Hier siehst du, was Salomo meint mit ‚die Welt verachten‘. Er meint damit nicht, dass wir die Welt oder die Menschen fliehen, sondern dass wir in der Welt unseren Verkehr haben mitten unter Gefahren, aber so, dass wir auch in den unterschiedlichsten Widerwärtigkeiten ein ruhiges und stilles Herz bewahren. Deshalb sagt er: Wenn du zu diesem Ziel gelangen willst, dass du mitten unter den Übeln ein ruhiges Herz hast, so gewöhne dich an die Übel, und zwar von Kindheit an. Denn dann wirst du sicher alle möglichen Gefahren aushalten.“
Die Aussage, Lass dein Herz guter Dinge sein, meint, so Luther: „Genieße fröhlich die angenehmen Dinge, wenn sie da sind. Lass dich durch Widerwärtigkeit, wenn sie kommt, nicht verzagt machen. So sollte man die Jugend unterrichten und unterweisen. Wenn die jungen Leute einer solchen Belehrung nicht Folge leisten, werden sie niemals etwas zustande bringen, das eines Mannes würdig wäre. Denn die Jugend glüht vor Leidenschaften und ist unerfahren, und diese Unerfahrenheit hindert sie daran, dass sie später die Bosheit und Undankbarkeit der Welt ertragen kann und dann darauf unangemessen reagiert. […] Salomo verbietet nicht Fröhlichkeit oder Ergötzungen, wie es die törichten Lehrer, die Mönche, getan haben. Denn das ist nichts anderes, als dass man aus den jungen Leuten gefühlskalte Klötze macht. […] Dann würde man so handeln, wie wenn man einen Baum in einen engen Topf pflanzen würde. In dieser Weise haben jene die Ihrigen gleichsam in einen Käfig eingeschlossen und ihnen den Anblick der Menschen und den Austausch mit ihnen verwehrt, sodass sie nichts lernten oder erfuhren, während doch nichts gefahrvoller ist für die Jugend als isoliert zu sein.
Das Gemüt muss mit guten Gesinnungen und Auffassungen unterwiesen werden, damit die jungen Leute nicht verdorben werden durch das Zusammenleben und den Umgang mit bösen Leuten. Dem Leib nach aber müssen sie mit den Angelegenheiten zu tun bekommen. Sie müssen die Welt sehen und erfahren. Nur muss ein guter Lehrmeister zur Verfügung stehen. Darum muss von den jungen Leuten Traurigkeit und Einsamkeit gemieden werden. Der Jugend ist Freude ebenso sehr vonnöten, wie für sie Essen und Trinken notwendig sind. Denn der Leib gedeiht durch ein fröhliches Gemüt. Die Erziehung muss man nicht beginnen am Leibe, sondern am Gemüt […]. Wenn die Herzen recht unterrichtet sind, so werden die Leiber leicht regiert. Man muss daher der Jugend zulassen, dass sie fröhlich sei, und dass die jungen Leute alles mit fröhlichem Herzen tun. Nur muss man darauf achtgeben, dass sie nicht durch die Lüste des Fleisches verderbt werden. Denn Trinkgelage, Vollsaufen und Liebschaften mit dem anderen Geschlecht sind nicht die Fröhlichkeit des Herzens, von der Salomo hier spricht, sondern diese belasten das Herz mit Traurigkeit.“15
Aus diesem Blickwinkel erläutert Luther die anschließende Aussage, Wandle in den Wegen deines Herzens und nach dem, was deine Augen sehen – doch sollst du wissen, dass Gott dich über dies alles ins Gericht bringen wird, folgendermaßen: „Wenn das Herz recht unterwiesen ist, so wird keine Freude oder Fröhlichkeit schaden, sofern es eine rechte Freude ist und nicht eine verderbliche oder auch eine betrübende Fröhlichkeit, von der wir eben zuvor gesagt haben. ‚Was deine Augen sehen‘, das heißt: Was sich deinen Augen darbietet, das genieße. Lass dich nicht auf Zukünftiges verweisen, damit du nicht werdest wie die Mönche, von denen etliche, wie der Mönch Sylvanus lehrten, man solle nicht einmal die Sonne ansehen. Sie wollten die jungen Leute des Sehens, des Hörens, der Rede und aller Sinne berauben und gleichsam wie Vögel in einen Käfig einschließen. Das sind ganz gottlose und menschenfeindliche Leute. Du aber genieße, wenn es etwas Liebliches zu sehen oder zu hören gibt! Nur sündige nicht gegen Gott! Mache dir in diesen Dingen keine Gesetze, sondern genieße alle Dinge, jedoch mit der Furcht Gottes! Achte darauf, dass du nicht den verkehrten Lüsten der Welt folgst, die dein Herz verderben.“16
Entsprechende pädagogische Einsichten findet Luther bis zum Schluss in Salomos Predigerbuch: Junge Leute sollen nicht in einen Käfig von Verboten eingezwängt werden. Vielmehr soll man ihnen die Welt mit allem Licht und allem Dunkel zeigen, damit sie sich in ihr ohne Angst in Weisheit zurechtfinden.
Aus der Aufforderung, Genieße die Dinge, aber tue das in der Furcht Gottes (Pred. 11,9), leitet Luther ab, dass jungen Leute einerseits diese Welt offenstehen soll. Aus dieser Aufforderung ergibt sich andererseits allerdings auch, dass eine Pädagogik, deren Horizont nur das Diesseits ist, zu kurz greift. Sie ist unzureichend. Denn eine Erziehung zu einem Leben in der Welt, unter der Sonne, heißt auch, den jungen Leuten klar und deutlich zu vermitteln, dass diese Welt unter der Sonne nicht das Letzte ist.
In einem der wohl bekanntesten Abschnitte des Predigerbuches, Prediger 12,1-5, erkennt Luther eine für die Erziehung junger Leute unverzichtbare Vorgabe: Es geht Salomo darum, dass den Heranwachsenden von früh an vermittelt wird, dass das irdische Leben zeitlich nicht unbegrenzt ist. Damit soll den Jugendlichen das irdische Leben nicht vermiest oder vergällt werden. Vielmehr geht es darum, sie angesichts der Schönheiten dieser prachtvollen Schöpfung vor Träumereien über das irdische Dasein zu bewahren. Denn wenn man sich über das Leben unter der Sonne in Illusionen hineinsteigert, werden diese im Lauf des Lebens wie Seifenblasen zerplatzen. Wenn man nicht von jung an auch auf drohende Schwierigkeiten, bevorstehende Enttäuschungen sowie auf die eigene Vergänglichkeit hingewiesen wird, kann das bei den Betreffenden dann, wenn sie damit unvorbereitet konfrontiert werden, zu Verbitterung führen und zu einer zynischen Lebenseinstellung.
Nicht zuletzt um dem vorzubeugen, gehört zu einer für diese Welt angemessenen Pädagogik, dass die jungen Leute einerseits dazu angeleitet werden, mit offenen Augen in das Leben zu treten. Sie sollen ihre Erfahrungen in dieser Schöpfung machen und Gott für das viele, das er ihnen in und durch seine Schöpfung schenkt, danken. Andererseits aber sollen sie die Vergänglichkeit ihres irdischen Lebens niemals aus dem Blick verlieren.
Eine Pädagogik, die die Schwierigkeiten und die Begrenztheiten, die das Leben unter der Sonne mit sich bringt, verschweigen würde, ist, so Luther, angesichts der Ausführungen Salomos irrig und unverantwortlich. Es muss klar vermittelt werden, dass jeder von uns von Anfang des Lebens an in sich den körperlichen Zerfall herumträgt, so dass es irgendwann auch über den jetzt noch vor Kraft strotzenden Jugendlichen heißt: Die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerspringt und der Krug an der Quelle zerbricht und das Schöpfrad stürzt zerbrochen in den Brunnen (Pred. 12,6). Mit anderen Worten: Die jugendliche Lebenskraft wird einmal ermatten, bis dann der Staub wieder zur Erde zurückkehrt, wie er gewesen ist, und der Geist zurückkehrt zu Gott, der ihn gegeben hat (Pred. 12,7).
Die Unverzichtbarkeit von Lehrern und Schulen
Wenn Salomo in den letzten Versen seines Buches von ermüdenden Büchern spricht und sich entsprechend über das Studieren auslässt und auch auf die Worte der Weisen hinweist (Pred. 12,11.12), vermutet Luther, dass Salomo hier Schulen im Blick hat, in denen der König Lehrmeister (Weise) mit der Unterrichtung der jungen Leute betraut hat.17
Der Reformator legt hierbei erneut seinen Finger darauf, dass im Gegensatz zu den Klosterschulen der König Salomo nicht zu einer Abkehr von den weltlichen Berufen aufruft. Vielmehr, so Luther, verfolgen die von Salomo vorgegebenen Erziehungs- und Ausbildungsziele die Absicht, die jungen Leute mit der Welt, in der sie aufwachsen, vertraut zu machen und sie auf ein Handwerk oder auf einen sonstigen Beruf in dieser Welt vorzubereiten.
Allerdings muss das pädagogische Bemühen, das das Leben und das Handeln in dieser Welt im Blickfeld hat, von dem letzten Ziel eines jeden menschlichen Lebens bestimmt sein. Dieses letzte Ziel fasst Salomo am Schluss seines Buches in dem Wort zusammen: Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das macht den ganzen Menschen aus. Denn Gott wird jedes Werk vor ein Gericht bringen, samt allem Verborgenen, es sei gut oder böse (Pred. 12,13.14).
Mit anderen Worten: Eine Erziehung oder eine Pädagogik ist dann gelungen, wenn die jungen Leute zugerüstet worden sind, um in dieser Welt ihre Aufgaben wahrzunehmen, und zwar ohne Angst und ohne Panik, aber in Gottesfurcht und in der Bindung an die Gebote Gottes mit der Perspektive auf die Ewigkeit.
In der nächsten Ausgabe wollen wir die Artikelserie über Luthers Predigerauslegung abschließen, indem wir die Frage zu beantworten suchen, was die Moderne mit Luthers Auslegung des Buches Prediger angefangen hat und was das für die Beurteilung der Neuzeit heißt.
Aufgrund mancher freundlicher Reaktionen zu den bisherigen Artikeln über Luthers Predigerauslegung haben wir uns dazu entschlossen, den gesamten Predigerkommentar Luthers (Annotationes) auf unserer Internetseite in deutscher Übersetzung zugänglich zu machen: herunterladen.
1) Kommentar zu Prediger 7,1f:„Ne deseras aciem, sed perdura!“
2) Kommentar zu Prediger 7,8 [7,7].
3) Kommentar zu Prediger 7,6.7 [7,5.6].
4) Kommentar zu Prediger 7,17.18.
5) Kommentar zu Prediger 4,9-12.
6) Kommentar zu Prediger 5,8.
7) Kommentar zu Prediger 7,17.18.
8) Kommentar zu Prediger 8,2.
9) Kommentar zu Prediger 10,15.
10) Kommentar zu Prediger 10,15.
11) Kommentar zu Prediger 10,15.
12) Kommentar zu Prediger 10,20.
13) Barth, Karl, Eine Schweizer Stimme. Zürich 1945, S. 6, 113, 122.
14) Luther, Martin, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung. In: WA 6,404.
15) Kommentar zu Prediger 11,9.
16) Kommentar zu Prediger 11,9.
17) Ähnlich äußert sich der finnische Theologe Aarre Lauha, Kohelet. In: Biblischer Kommentar. Altes Testament. Neukirchen 1978. Allerdings ist seine Auslegung des Buches Prediger völlig von der historischen Kritik durchsetzt, und damit größtenteils wertlos.