- Ein Blick auf die Gegenwart
Die Frage nach der Beziehung des Christen zur Welt und damit auch die Frage, inwieweit sich die Christen mit der sie umgebenden Kultur und Politik einlassen sollen, stellte sich im Lauf der Kirchengeschichte immer. Aber es scheint so zu sein, dass dieses Thema seit rund 200 Jahren dringlicher geworden ist. Soll sich die Gemeinde Gottes mit der Welt verknoten? Oder ist die radikale Distanz zum weltlichen Bereich die einzig vertretbare Lösung? Wenn ja, was heißt das? Wenn nein, wie sollen wir dann leben?
Eine in jeder Hinsicht schauerliche Illustration für die Art und Weise, wie die Kirche durch ihre Verflechtungen mit der säkularisierten Gesellschaft selbst zu einem antichristlichen Sprachrohr geworden ist, offenbarte sich in dem kürzlich in Berlin veranstalteten so genannten Evangelischen Kirchentag. Selbst ungläubige Journalisten bezeichneten dieses Ereignis als ein im Kern grün-rotes Polit-Spektakel. Die unzähligen lesbisch-schwulen Workshops mit der entsprechenden Genderpropaganda machten die Gleichschaltung zwischen Kirche und Welt offenkundig, und die zahllosen Multi-Kulti-Dialogveranstaltungen mit Muslimen zeigten, wohin die Reise geht: in den Religionsmischmasch.
Jedem nur halbwegs wachsamen Beobachter wird aber auch auffallen, wie massiv in Freikirchen inzwischen der Zeitgeist die geistige Herrschaft ausgeweitet hat. Ein Symptom für diese Entwicklung ist die weitgehende Offenheit, ja Akzeptanz für weibliche Pastoren, also Pastorinnen: Nach zweitausend Jahren kommen angesichts des Emanzipations- und Feminismusdenkens nun also auch so genannte evangelikale Christen auf die Idee, Derartiges in ihren Gemeinden einzuführen.
Ein weiteres Krankheitszeichen dafür, wie sich die Trends der Zeit in Gemeinden eingefressen haben, ist die Vertauschung der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus zugunsten von emotional-orientierten Event-Veranstaltungen. Von derartigen Spektakeln versprach und verspricht man sich offenkundig „gesellschaftliche Relevanz“ oder sogar Beifallskundgebungen durch die Welt. In Wahrheit aber zeigt man dadurch nur, wie massiv sich inzwischen diesseitig-humanistische Ideologien in die Gemeinden Gottes eingefressen haben.
Trotz allem aber gibt es sie noch: gläubige Christen, die sich nicht von solchen Strömungen mitreißen lassen, sondern sich ihnen entgegenstellen. Ihr Widerstand aber macht sie häufig in ihren Gemeinden einsam.
Dazu kommt: Wenn diese Christen in ihrer Umgebung herumblicken, bleiben sie selbst nicht selten mit dem Empfinden zurück, dass Gott kaum noch etwas mit ihren Lebensumständen zu tun hat. Oder formulieren wir es vorsichtiger: Es scheint ihnen immer weniger zu gelingen, eine Verbindung zwischen einerseits der eigenen Erfahrungswelt und andererseits Gott zu erkennen: Wo ist eine Nahtstelle zwischen unserer Lebenswirklichkeit und Gott?
Wo ist in dem globalen Weltgeschehen, wie es uns die Medien vermitteln, Gott wahrzunehmen? Wenn wir auf die Handlungsweisen von Politikern wie Merkel, Trump, Putin, Erdoĝan, Assad, Rohani, Kim Jong-Un, Maduro usw. achten, kommt uns dann nicht häufig alles wie ein geradezu bizarres, überspanntes Schauspiel vor? Wo kommt Gott da noch vor? Besteht zwischen dem weltpolitischen Spektakel und Gott eine Verbindung? Wenn ja, wo ist sie?
Blicken wir auf unser eigenes Land: Haben wir überhaupt noch die geistige Kraft, uns darüber klar zu werden, dass das, was noch vor wenigen Jahren juristisch unter das Urteil von Pädophilie oder Exhibitionismus fiel und damit ein klarer Fall für die Gerichte war, heutzutage nicht nur als gesellschaftsfähig angesehen wird, sondern dass Derartiges in öffentlichen Schulen unter dem Banner der Genderisierung und der Frühsexualisierung offensiv propagiert wird? Diejenigen, die sich dem widersetzen, laufen Gefahr, wegen Diskriminierung angezeigt zu werden oder irgendeine Psycho-Phobie angehängt zu bekommen.
Im vorliegenden Artikel wollen wir verfolgen, was Gott einmal seinem Volk für eine Lehre erteilte, als es vor ähnlichen Fragen stand, wie sie heute bei uns aufbrechen: Wie handelt Gott in dieser Welt, nicht zuletzt im politischen Bereich? Wo ist angesichts der verwirrenden Weltgeschehnisse Gott? Wie steht es um Gottes Allmacht und seine Allwissenheit?
Bereits in der Zeit des Alten Bundes stellten sich Angehörige des Volkes Gottes entsprechende Fragen. Es war zu einer Zeit, als Gott eine einschneidende Weichenstellung vornahm. Auf das, was Gott dazu einmal offenbart hat, wollen wir im Folgenden hören. Es geht um einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja, und zwar um Kapitel 44,24 bis 45,13.[1] Im Zentrum dieser Weissagung steht der mächtige persische Gewalthaber Kyros II. (Cyrus, Kores).
- Kyros – Eroberer und Tempelbauer
Wer war Kyros II.? Wenn man sich aus Geschichtsbüchern über diesen Mann informiert, erfährt man, dass er um das Jahr 550 vor Christi Geburt im heutigen Südwest-Iran, in der Provinz Parsa zur Herrschaft gelangt war. Sein bis dahin nicht besonders bedeutsames Geschlecht, die Teispiden, hatte diese Region weitgehend unter seine Kontrolle gebracht.
Nachdem Kyros II. die Regentschaft übernommen hatte, gelang es ihm zunächst, die nördliche Region um Susa, dem alten Zentrum der Elamer, in seine Hand zu bringen. Dann gewann er die Herrschaft über die Meder. Als der lydische König Kroisos die Absicht hegte, von dem Gebiet des darniederliegenden medischen Reiches ein Stück an sich zu reißen, geriet er ebenfalls in einen Konflikt mit Kyros. Der persische Kriegsheld entschied auch diese Auseinandersetzung für sich, sodass die Perser das gesamte Lydische Reich annektierten und bis in dessen Hauptstadt Lydiens, Sardes, das unweit der Westküste Kleinasiens liegt, vordrangen.
Damit nicht genug: Im Anschluss daran eroberte Kyros das Babylonische Reich (539). Er zerschlug damit jenes Weltreich, das unter Nebukadnezar den Jerusalemer Tempel zerstört und die Bevölkerung Judas in die Gefangenschaft verschleppt hatte. Von dieser Eroberung Babylons berichtet die Heilige Schrift in Daniel 5,26-30. Daraufhin setzte Kyros über diese zentrale Region den König Darius, den Meder (Dan. 6,1.29).
Kurzum: Innerhalb von zwei Jahrzehnten erstreckte sich das Herrschaftsgebiet des Kyros von der Westküste Kleinasiens bis in die Gegenden, die heute zu Afghanistan und Pakistan gehören. In Nord-Süd-Richtung reichte sein Reich vom Kaukasus bis an die Grenzen Ägyptens. Somit krempelte Kyros innerhalb weniger Jahre die gesamte politische Landkarte des Orients um.
Diese Geschehnisse hatte Gott bereits dem Propheten Jesaja mitgeteilt, als er über Kyros verkündete: Ich habe dessen rechte Hand ergriffen, um Völker niederzuwerfen und die Lenden der Könige zu entgürten, um Türen vor ihm zu öffnen und Tore, damit sie nicht geschlossen bleiben: Ich selbst will vor dir herziehen und das Hügelige eben machen. Ich will eherne Türen zerbrechen und eiserne Riegel zerschlagen, und ich will dir verborgene Schätze geben und versteckte Reichtümer (Jes. 45,1-3a). Das Aufbrechen der ehernen Tore und das Zerbrechen der ehernen Riegel deutet zweifellos auf die Tore und Riegel der enorm befestigten Stadt Babylon hin.
Diese positive Aussage Jesajas über Kyros können zunächst verwundern. Denn insgesamt wird in der Heiligen Schrift das Persische Reich als ein Teil der Weltmächte verstanden, die dem Reich Gottes entgegenstehen. Dies kommt besonders im Buch Daniel zum Ausdruck. In dem Traum Nebukadnezars schaute der babylonische Machthaber ein Standbild, zu dem auch das Persische Reich gehörte (Dan. 2). Die Gegnerschaft zwischen Persien und dem Reich Gottes wird noch offenkundiger durch einen Traum, den Daniel selbst hatte. Darin sah der Prophet vier große Tiere aus dem (Völker-)Meer emporsteigen, unter anderem das Persische Reich, das er als einen fressgierigen Bären schaute (Dan. 7,5).
Wie feindlich das Persische Reich gegenüber dem Reich Gottes eingestellt war, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass sich der (Engel-)Fürst von Persien dem von Gott gesandten Engel und dessen Aufträgen kriegerisch entgegenstellte (Dan. 10,13.20).
Aber Kyros II. ist eben nicht nur als ein gewalttätiger Eroberer in die Geschichte eingegangen, dem niemand widerstehen konnte (Dan. 8,1-7), sondern auch als derjenige, der den Erlass ausfertigte, dass die Juden aus der Babylonischen Gefangenschaft heimkehren und den Tempel wiederaufbauen sollten (2Chr. 36,22.23; Esr. 1,1-4; vergleiche auch Esr. 6,1-5). Hinzu kam seine Anweisung, die einst von den Babyloniern geraubten Tempelgeräte wieder den Juden zurückzugeben (Esr. 1,7).
Von dieser Rückkehr hatte der Prophet Jeremia geweissagt (Jer. 29,10-14), und davor war sie auch bereits von dem Propheten Jesaja verkündet worden (Jes. 44,26-28).
- Jesajas Botschaft
Der Prophet Jesaja lebte zur Zeit der jüdischen Könige Ussija, Jotam, Ahas und Hiskia (Jes. 1,1). Er trat also gerade in der Zeit auf, als die Assyrer das Nordreich (Israel, Ephraim) eroberten und dessen Bevölkerung nach Mesopotamien verschleppten, bzw. – wie sie es formulierten -, „umsiedelten“ (722/721).
Auch das Südreich (Juda) wurde von den Assyrern sehr hart bedrängt (Jes. 5,26-30; 7,18-25; 8,5-8; 9,8-12; 10,5.6.28-34). Schließlich war außer Teilen Jerusalems, namentlich der Tempelberg, das gesamte Territorium ebenfalls unter ihre Kontrolle gekommen (Jes.1,8.9; 36,1). Erst im scheinbar letzten Augenblick griff Gott in wunderbarer Weise ein, und die Assyrer mussten sieglos von Jerusalem abziehen (2Kön. 19,14-38; Jes. 10,16-22; 17,14; 31,8.9; 37,33-38). Dann aber verkündete der Prophet Jesaja auch den Untergang der Assyrer (Jes. 10,5-34; 14,24-27).
Er weissagte ferner das darauf folgende Emporsteigen des Babylonischen Reiches (Jes. 39,6-8) sowie auch dessen Zusammenbruch (Jes. 13,1 – 14,23; 21,5-9; 47,1-15). Jesaja sagte auch voraus, dass das Volk Gottes von den Babyloniern furchtbar unterdrückt und versklavt würde, dann aber auch befreit würde (Jes. 42,18 – 43,28).
In diesem Zusammenhang verkündete er den grandiosen Aufstieg des Persisch-Medischen Reiches (Jes. 13,17.18). Besonders hat er dabei Kyros im Blick: Wer hat vom Aufgang her den erweckt, dem Gerechtigkeit begegnet auf Schritt und Tritt? Wer gibt Völker vor ihm hin und unterwirft ihm Könige? Er machte sie wie Staub vor seinem Schwert, wie verwehte Stoppeln vor seinem Bogen. (Jes. 41,2). Kurz darauf weissagte Jesaja über den persischen König: Ich habe einen von Norden her erweckt, und er ist von Sonnenaufgang her gekommen – einer, der meinen Namen ruft [oder: der in meinem Namen ruft]. Er wird über Fürsten kommen wie über Lehm und wird sie zertreten wie ein Töpfer den Ton (Jes. 41,25). Etwas später lesen wir: Ich berufe von Osten her einen Raubvogel und aus fernen Ländern den Mann meines Ratschlusses. Ja, ich habe es gesagt, ich führe es auch herbei. Ich habe es geplant, und ich vollbringe es auch (Jes. 46,11). Schließlich heißt es über Kyros: Er, den der Herr liebhat, er wird sein Wohlgefallen an Babel vollstrecken und die Chaldäer seinen Arm fühlen lassen (Jes. 48,14).
Am ausführlichsten und am direktesten ist jedoch die Prophezeiung über Kyros, die wir in Jesaja 44,24 bis 45,13 lesen. Hier wird sogar der Name „Kyros“ zweimal ausdrücklich genannt (Jes. 44,28; 45,1).
Diese rund zweihundert Jahre vor den eingetroffenen Ereignissen gegebenen Prophezeiungen erfüllten sich dermaßen genau, dass die schriftkritische Theologie daraus die Schlussfolgerung zog, die ihren Voraussetzungen entspricht. Sie vertrat und vertritt die Ansicht, weil das alles niemals der Prophet Jesaja, der Sohn des Amoz (Jes. 1,1), habe wissen können, konnte er es auch nicht voraussagen. Denn kein Mensch sei in der Lage, so lange im Voraus dermaßen genau die Ereignisse, ja sogar den Namen des persischen Herrschers anzukündigen.
Gerade die namentliche Erwähnung von Kyros galt und gilt der Schriftkritik als schlagender Beweis dafür, dass diese Kapitel erst später abgefasst wurden. Mit anderen Worten: Aus der Vorausverkündigung machten die historisch-kritisch argumentierenden Theologen eine „Nachherverkündigung“, ein sogenanntes vaticinium ex eventu [Weissagung aus (= nach) dem Ereignis].
Sie räumten zwar ein, die Kapitel seien so formuliert worden, dass beim Leser der Eindruck entstehe, sie würden über Zukünftiges sprechen, aber, so die Schriftkritiker, in Wirklichkeit habe ein fiktiver Verfasser die Kapitel 40 bis 66 abgefasst. Man nennt ihn heutzutage den „Zweiten Jesaja“ („Deuterojesaja“). Allerdings ging, nachdem man einmal mit einer solchen Schriftaufsplitterung angefangen hatte, die Fragmentisierung des Buches Jesaja munter weiter.[2]
Als Antwort auf dieses schriftkritische Denkgebäude sei darauf hingewiesen, dass selbstverständlich kein Mensch von sich aus zweihundert Jahre vorher einen zukünftigen persischen Herrscher mit Namen ankündigen kann. Aber bei der Heiligen Schrift haben wir es eben nicht mit von Menschen stammenden Darlegungen zu tun, sondern mit der von Gott inspirierten Offenbarung. Gott aber, der Autor der Heiligen Schriften, kennt nun einmal von Ewigkeit her jeden Menschen. Also ist es ihm selbstverständlich auch möglich, Jahrhunderte vorher den konkreten Namen von jemandem anzugeben.
In der Regel offenbarte Gott den Propheten die Zukunft allgemein. Häufig verstanden die Empfänger der Offenbarung selbst nicht (vollständig), was sie verkündeten, und sie konnten es zeitlich auch nicht einordnen (1Petr. 1,11.12). Aber gelegentlich kam es vor, dass Gottes Propheten Jahrhunderte vorher Menschen mit Namen ankündigten (1Kön. 13,2; 2Kön. 23,16). Es widerspricht also keineswegs dem „Wesen der Prophetie“, wenn Gott gelegentlich auch genaue Zeit-, Orts- oder Personenangaben macht.
- „Ich bin der Herr und sonst ist keiner“
Hinzu kommt, dass es in diesem Abschnitt, in dem Kyros namentlich genannt wird, nicht um irgendein beliebiges Ereignis geht.
Abgesehen von dem Auszug aus Ägypten war für das alttestamentliche Volk die Heimkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft das Rettungsereignis schlechthin. Es stand so zentral, dass gerade im Blick darauf jedem Angehörigen des Volkes Gottes unbedingt klar werden sollte, dass die Rückkehr aus dem Exil kein Glücksfall der Geschichte ist. Sie ist nicht erklärbar durch innerweltliche Faktoren oder zufällige Konstellationen.
Vielmehr ist der, der die Rückkehr aus der Gefangenschaft bewirkt, niemand anderes als der allmächtige und allwissende Gott. Die Rettung aus Babylon ist nicht Schicksal, sondern sie ist Gottes Werk. So stellt sich Gott gerade im Blick auf dieses Ereignis in seiner Einzigartigkeit vor.
Jesajas Zeitgenossen mussten es mit eigenen Ohren anhören, wie die Assyrer den Gott Israels mit Hohn und Spott übergossen und seine Unvergleichlichkeit nicht akzeptieren wollten (2Chr. 32,10-19; Jes. 10,7-11; 36,2-21). Aber Gott besteht darauf: Ich bin der Herr und sonst ist keiner, denn außer mir gibt es keinen Gott. Ich habe dich gegürtet, ohne dass du mich kanntest, damit vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang erkannt werde, dass gar keiner ist außer mir. Ich bin der Herr und sonst ist keiner (Jes. 45,5.6).
Die Nennung des Namens „Kyros“ illustriert also gerade, dass Gott alles weiß und jedes Detail der Geschichte in seiner Hand hat und lenkt. Darum verwundert es nicht, dass gerade die Kapitel, in denen es um die Befreiung aus dem Babylonischen Exil geht, von dem Thema, wer Gott ist, gefüllt sind: Ich bin der Herr, der alles vollbringt – ich habe die Himmel ausgespannt, ich allein, und die Erde ausgebreitet durch mich selbst […], der das Wort seines Knechtes bestätigt und den Ratschluss ausführt, den seine Boten verkünden… (Jes. 44,24-26; siehe ferner Jes. 40,18-31; 41,4.21-29; 43,9-13; 44,6-8; 45,12; 46,9-11; 48,3-15).
Josephus, ein aus dem Judentum stammender Schriftsteller, der im ersten Jahrhundert lebte, und aus nächster Nähe den Jüdischen Krieg schilderte und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 miterlebte, weiß zu berichten: Nachdem Kyros erfuhr, dass Jesaja die Zerstörung des Tempels [durch die Babylonier] und dann die Rückkehr aus dem Exil einschließlich der Nennung seines eigenen Namens vorausgesagt hatte, er von der Allmacht und der Allwissenheit dieses Gottes so überwältigt war, dass er gerade deswegen die Rückführung des Volkes und den Wiederaufbau des Tempels anordnete. Josephus schreibt: „Als Kyros es [das, was Jesaja über ihn prophezeit hatte] gelesen hatte, bewunderte er Gottes Vorsehung und wurde von regem Eifer erfüllt, dasjenige auszuführen, was geschrieben stand. Er ließ daher die vornehmsten Juden in Babylon zusammenkommen und sagte ihnen, er gebe ihnen die Erlaubnis, in ihr Vaterland zurückzukehren, um die Stadt Jerusalem und den Tempel Gottes wieder aufzubauen. Gott selbst werde sie dabei unterstützen. Er aber wolle seinen Beamten und Satrapen in den an das Land der Juden grenzenden Provinzen schreiben, dass sie ihnen Gold und Silber zum Tempelbau wie auch Vieh zu den Opfern lieferten“.[3]
- Kyros, der Gesalbte und der Hirte Gottes
Der Prophet Jesaja bezeichnet den persischen Herrscher in diesem Abschnitt als meinen Hirten (Jes. 44,28), als Gesalbten, das heißt als Messias (Jes. 45,1). Das sind zweifellos Ehrentitel (Jes. 45,4).
Mehr noch: Es sind Aussagen, die auf Jesus Christus hindeuten. Sie weisen also über Kyros hinaus auf den wahrhaftigen Retter, der nicht aus einer menschlichen Sklaverei errettet hat, sondern aus ewiger Schuld und Sünde. Indem Gott Kyros für die Rettung seines Volkes aus der Babylonischen Gefangenschaft eingesetzt hat, ist dieser Herrscher in gewissem Sinn eine Abschattung des wahrhaftigen Retters Jesus Christus.
Manche Aussagen in diesem Abschnitt weisen darum deutlich über Kyros hinaus. So zum Beispiel die Aufforderung: Träufelt, ihr Himmel, von oben herab, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit. Die Erde tue sich auf, und es sprosse Heil hervor und Gerechtigkeit wachse zugleich. Ich, der Herr, habe es geschaffen (Jes. 45,8).
Zu Beginn seines Buches hatte der Prophet Jesaja ebenfalls Himmel und Erde zu Zeugen aufgerufen. Dort waren sie Zeugen davon, wie weit das Volk Gottes von Gott abgewichen war (Jes. 1,2). Hier aber sind Himmel und Erde Zeugen des Rettungshandelns Gottes: Die gesamte Schöpfung ist aufgerufen, damit die Welt aus ihrer Nichtigkeit in ein Paradies verwandelt wird.
Diese Verheißung stellt somit eine Umkehrung der Sintflut dar. Damals hatten sich die Wassermassen über die Welt ergossen, und aus der Erde brachen die Quellen der Tiefe auf (1Mos. 7,11). Aber einmal werden aus Himmel und Erde Heil und Gerechtigkeit sprossen (siehe auch Jes. 49,13).
Offensichtlich möchte der Heilige Geist, dass wir in Kyros eine Vorabschattung auf Christus erkennen: Beide Retter kommen von außerhalb.
Der Aspekt, dass Kyros auf Christus hinweist, ist im Buch Jesaja wichtig. Er soll aber jetzt nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr wollen wir zu dem persischen Herrscher zurückkehren.
- Kyros – ein Ärgernis für die Juden
Man könnte meinen, die Juden hätten auf die angekündigte Befreiung durch Kyros mit großer Freude und Dankbarkeit reagiert. Aber offenkundig war das Gegenteil der Fall. Die Hörer reagierten auf die Weissagung mit Unwillen, Kritik und Ablehnung. Mehr noch: Sie meinten, Gott wegen dieser beabsichtigten Maßnahme Vorhaltungen machen zu sollen und ihn maßregeln zu dürfen.
Ihre ablehnende Reaktion war nicht dadurch motiviert, dass sie Zweifel an der Verwirklichung dieser Weissagung hegten. Die Juden nahmen den Inhalt der Weissagung Jesajas sehr ernst. Für sie stellte gerade der Inhalt der Botschaft ein gewaltiges Ärgernis dar.
Sie hatten an Jesajas Weissagung auszusetzen, dass es Gott eingefallen war, einen von außen kommenden Herrscher für sein Rettungswerk einzuschalten: Es war Gott doch tatsächlich in den Sinn gekommen, dass ein Nicht-Davidide einmal von Jerusalem sprechen werde: Es werde aufgebaut! und vom Tempel: Er werde gegründet! (Jes. 44,28).
Zweimal hatte Gott doch selbst gesagt: Dieser Kyros wird jemand sein, der mich nicht kennt (Jes. 45,4.5). Was also fällt Gott ein, über einen heidnischen [!] Machthaber zu sagen, er sei mein Hirte (Jes. 44,28), er führe all mein Wohlgefallen aus, er sei der Gesalbte Gottes (Jes. 45,1)?
Sämtliche dieser Titel hatte Gott einst David gegeben. Über ihn hatte Gott gesagt, dass er der Gesalbte Gottes ist (1Sam. 16,12; Ps. 89,21), dass er dem Herzen Gottes entspricht und sein Wohlgefallen ausführt (1Sam. 13,14; Apg. 13,22). Gott hatte David als den von Gott berufenen idealen Hirten angekündigt (Hes. 34,23). Es war David, von dem es auch heißt, dass Gott ihn bei seiner Hand ergriffen hat (Ps. 89,22).
Also alle Attribute, die Gott hier dem Heiden Kyros zuweist, waren ursprünglich auf David bezogen. Sie galten dem, dessen ureigenes Lebenswerk es war, der Bundeslade eine Wohnstätte zu bereiten.
David hatte sich mit höchster Energie für den Bau des ersten Tempels eingesetzt (Ps. 132) zumal er wusste, dass dies das eigentliche Ziel des Auszugs aus Ägypten war (2Mos. 15,17.18). Über diesen Ort hatte Gott durch Mose ausdrücklich gesprochen (5Mos. 12,1-14).
Was die Juden an dieser Botschaft Gottes durch Jesaja erboste, war, dass der allmächtige Gott jemanden für sein Rettungswerk einschaltete, der nicht aus dem Volk Gottes kam. Es war ein nicht-jüdischer Herrscher: Will Gott so jemanden einsetzen, um Mächte niederzutreten, eherne Tore zu öffnen und seinem Volk Befreiung zu bringen? Sollen die Attribute, die einst dem David galten (und später dann auch gern von den Nachkommen Davids in Anspruch genommen wurden), jetzt auf einen Regenten übergehen, der Gott gar nicht kennt?
In der bis dahin dunkelsten Stunde des Volkes Gottes, als die Assyrer die Bevölkerung des Nordreiches in die Gefangenschaft vertrieben und auch das Südreich (Juda) bis auf geringfügige Teile Jerusalems niedergewalzt hatten, ausgerechnet da verkündigte Gott durch seinen Propheten, von nun an würden heidnische Herrscher in seinen Dienst genommen werden, und zwar nicht mehr nur als Gerichtswerkzeuge, sondern auch, um seinem Volk einen positiven Dienst zu erweisen.
Mit einer solchen Weissagung wollte sich das Volk Gottes nicht abfinden. Es reagierte darauf mit Empörung, unwilliger Verbitterung und heftigen Vorhaltungen. Für die Juden war diese Perspektive ein durch und durch berechtigter Grund, mit ihrem Schöpfer zu hadern (Jes. 45,9). Mit Fragen wie Warum zeugst du? Warum gebierst du? (Jes 45,10) provozierten sie Gott, indem sie wie rotzfreche Kinder ihre Eltern herausforderten im Sinn von: „Gott, was machst du denn da?“ „Was fällt dir ein?“ „Was bekommen wir von dir vorgesetzt?“ Aber mit solchen Fragen zogen sie auch ihre eigene Identität in Zweifel.
- Rückblick auf die Zeit der Davididen
Bis zu dem Zeitpunkt, als die Assyrer Israel und Juda erobert hatten, war der Horizont, in dem sich das Leben des Volkes Gottes abspielte, der eigene Stamm und die eigene Nation. Der Lebens- und Handlungsraum Israels erstreckte sich im Großen und Ganzen von Dan (im Norden) bis Beersheba (im Süden). Im Norden bildeten Tyrus, der Libanon und Syrien die Grenze, im Süden lag Ägypten. Im Osten war die natürliche Grenze durch den Jordan vorgegeben, an dessen gegenüberliegendem Ufer die Ammoniter, Moabiter und Edomiter lebten, und im Westen an der Mittelmeerküste, war ihr Lebensraum durch die Philister abgezäunt.
Innerhalb dieses überschaubaren Gebietes ging es keineswegs idyllisch zu. Was in den Jahrhunderten ablief, nachdem Josua das Land Kanaan erobert hatte, erfahren wir aus dem Richterbuch bis hin zum zweiten Chronikbuch.
Wir hören, dass es nach dem Ende der Königsherrschaft Salomos zur Teilung zwischen dem Nordreich (Israel, Ephraim) und dem Südreich (Juda) kam. In den darauffolgenden Jahrhunderten gab es nicht nur harte kriegerische Auseinandersetzungen mit den heidnischen Nachbarn, auch zwischen den beiden Völkern Gottes kam es mehrfach zu Intrigen, heftigen Gefechten und nicht selten zu erbarmungslos geführten Kriegen. Dabei scheute sich keine Hälfte des geteilten Volkes Gottes, sich mit heidnischen Nationen zu verbünden, wenn sie sich davon für sich selbst Vorteile versprach.
Zwischendurch gab es allerdings auch immer wieder Allianzen zwischen dem Nord- und dem Südreich. Keineswegs immer entsprachen jedoch diese dem Willen Gottes. Vielfach waren diese Bündnisbestrebungen nicht durch Gehorsam gegenüber Gott motiviert, sondern durch taktische und diplomatische Überlegungen. Wiederholt erteilte Gott solchen Einigungsbestrebungen eine klare Absage, zum Beispiel die Verbindung zwischen Ahab und Josaphat (2Chr. 19,1.2).
Bekanntlich wucherte während dieser Jahrhunderte im Volk Gottes viel Baalsdienst. Andererseits schenkte Gott in dieser Zeit auch Erweckungen und Reformationen, sodass das Volk Gottes, oder zumindest Teile desselben, immer wieder zu Gott und seinem heiligen Wort umkehrten. An der Wiedereinführung des rechten Gottesdienstes waren auch immer wieder die weltlichen Obrigkeiten beteiligt. Denken wir an die Könige Jehu (Nordreich) sowie an Hiskia (Südreich) oder an Josia.
Diese Jahrhunderte waren auch begleitet von weltflüchtig-separatistischen Bestrebungen, wie etwa bei den Rechabitern (Jer. 35). Andererseits aber kam es von Seiten der weltlichen Obrigkeit auch zu Übergriffen auf den geistlichen Bereich, wie etwa bei König Usia (2Chr. 26,16-21), in dessen Todesjahr der Prophet Jesaja seine Tempelvision erhielt (Jes. 6,1ff.).
Kurzum: Die Jahrhunderte bis zum Erscheinen der Assyrer waren für das Volk Gottes alles andere als lauschig. Aber im Vergleich zu den Wirrnissen und Geschichtsstrudeln, in die das Volk Gottes durch die Assyrer geriet mit deren brutalen Erstürmungen, unbarmherzigen Vernichtungen und Verschleppungen, mussten den Juden die Jahrhunderte davor geradezu beschaulich vorgekommen sein. Es war für sie eine Zeit, in der die davidischen Könige, also die weltliche Macht, mit der Tempelpriesterschaft, also der geistlichen Macht, eng zusammenarbeiteten und sich gegenseitig unterstützten.
- Ausblick auf die neue Epoche
Der Prophet Jesaja aber kündet nun eine andere Zeit an. Von nun an wird das Volk Gottes zerstreut leben und immer wieder unter die Mühlsteine heidnischer Machthaber und Gewalten geraten.
Denn gemäß der von Gott geoffenbarten Botschaft wird das, was die Assyrer dem Volk Gottes antun, erst der Anfang sein. Wer angesichts des Wütens dieser streitlüsternen Draufgänger meinte, schlimmer geht‘s nimmer, dem verkündete Jesaja, dass danach die Babylonier kommen werden. Und was der babylonische Machthaber Nebukadnezar dem Volk Gottes antun wird, wird noch schrecklicher ausfallen: Das Haus Gottes wird in Flammen aufgehen. Und auch nach den Babyloniern wird das weltliche Regiment bei Heiden verbleiben. Dann werden die Perser auftreten.
Das Kernproblem, das die Juden mit diesem Ausblick hatten, war, dass die weltliche Gewalt, auf Herrscher übergeht, die Gott nicht kennen: Was macht Gott da? Will er tatsächlich die bisherige enge Beziehung von weltlicher und geistlicher Gewalt voneinander trennen oder gar spalten?
Mit dieser Botschaft Jesajas reißt Gott sein Volk aus einer Illusion. Es ist der Traum, als ob es nur möglich wäre, Gottesdienste mit wohlwollender Unterstützung der weltlichen Gewalt zu feiern. Dazu erklärt Gott seinem Volk: Ihr werdet euch an Heiden als weltliche Gewalten gewöhnen müssen. Gelegentlich wird dann auch so jemand wie Kyros dabei sein, ein Heide, der eure Heimkehr veranlassen und den Bau des Tempels fördern wird.
Die Grundlage für diese Botschaft Jesajas ist, dass Jahwe der einzige Gott ist. Er herrscht nicht nur über das Gebiet von Dan bis Beersheba, sondern über die gesamte Welt. Seine Machtvollkommenheit erstreckt sich auch über die anderen Nationen, und er kann auch Herrscher aus diesen Völkern zu weltlichen Obrigkeiten über das Volk Gottes einsetzen.
Damit ist das Volk Gottes aufgerufen, über den Tellerrand seines bisherigen „Volks-“ und „Staatskirchentums“ zu blicken. Auf diese Weise macht Gott seinem Volk deutlich, dass es ihm nicht um Israel und dessen Wohl an sich geht, sondern es geht ihm um das Heil für die gesamte Welt (Jes. 45,22; 49,6; 52,10). Sein Volk sollte für die anderen Völker eine Nation von Priestern sein (2Mos. 19,6). Bekanntlich hatte es darin total versagt (Jes. 42,18-25).
Im Auftrag Gottes besteht Jesaja nun darauf, dass es bei dieser Weichenstellung, die mit den Assyrern einsetzt, nicht darum geht, dass das Volk Gottes die Auflösung der engen Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einfach nur hinnimmt. Die Juden sollen sich mit dieser epochalen Veränderung nicht einfach nur abfinden, wie man sich mit schlechtem Wetter abfindet. Es handelt sich dabei auch nicht um eine Tragödie, in die man sich notgedrungen einfügen muss. Vielmehr besteht Jesaja darauf, dass es Gott selbst ist, der diese Veränderung bewirkt. Auf diese Weise scheucht der allmächtige Gott seine Leute aus ihrer Beschaulichkeit auf, in die sie sich seit Jahrhunderten behaglich eingenistet hatten.
Von nun an wird Gott die weltliche Gewalt auf heidnische Herrscher übertragen. Er wird sie einsetzen als Gerichtswerkszeuge wie Sanherib (2Kön. 18 und 19; 2Chr. 32; Jes. 10,5.6) oder Nebukadnezar (2Kön. 24 und 25; 2 Chr. 36; Jer. 25,9; 27,6-8: mein [!] Knecht). Aber er wird aus ihnen auch Initiatoren für den Tempelbau erwecken wie Kyros.
Gott formuliert es sehr pointiert: der ich das Licht und die Finsternis schaffe (Jes. 45,7). Diese Aussage will nicht zum Ausdruck bringen, dass Gott der verantwortliche Verursacher von Sünde und von dem Bösen ist. Die Sünde und das Böse kamen nicht durch Gott in diese Welt, sondern durch die Übertretung Adams (Röm. 5,12), als die ersten Menschen sich von ihrem Schöpfer abwandten und der Schlange zuhörten (1Mos. 3,1-7). Gott ist nicht der, der unsere Übertretungen und Sünden verursacht, sondern er ist der, der sie tilgt (Jes. 44,22; 43,25).
Mit der Aussage, der ich das Licht und die Finsternis bilde, bleibt also die Wahrheit unangetastet: Gott ist Licht, und in ihm ist keinerlei Finsternis (1Joh. 1,5).
Was Gott mit dieser Feststellung über sich zum Ausdruck bringt, ist Folgendes: In seiner Souveränität schaltet Gott auch Heiden ein und gebraucht auch Katastrophen, die uns Menschen als Finsternis erscheinen.
Was er mit den Begriffen Licht und Finsternis meint, wird auch gleich darauf erläutert: der ich den Frieden gebe und das Unheil schaffe (Jes. 45,7). Gott ist auch der Herr des Unfriedens, der Kriege, der dunklen Tage, der Unstetigkeiten und Verwerfungen in unserem Leben. Er regiert auch dann, wenn über das Volk Gottes Unglücke kommen (Am. 3,6).
Alles dient Gott. Auch die Mächte der Finsternis stehen nicht außerhalb von seiner Herrschaft. Sie stehen ihm zu Diensten, wenn natürlich auch gegen ihren eigenen Willen. Bekanntlich hatte Satan mit seinen Kohorten anderes im Sinn, als er in der Stunde der Gewalt der Finsternis (Luk. 22,53) dafür sorgte, dass Jesus Christus ans Kreuz genagelt wurde. Aber Gottes Weisheit triumphiert stets über die Weisheit dieser Welt (1Kor. 2,6-9).
Der Prophet Jesaja vergleicht Gott hier mit einem Töpfer und dementsprechend die weltlichen Gewalten mit Tonscherben: Wehe dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht wohl der Ton zu seinem Töpfer: „Was machst du?“ und dein Werk: „Er hat keine Hände!“ (Jes. 45,9). Nein, die Herrscher erschaffen sich nicht selbst. Vielmehr ist es Gott, der nach seinem Willen die Geschichte knetet, massiert, walzt, formt und modelliert.
Damit sind dann aber auch alle menschlichen Vorbehalte und Bedenken gegen sein Geschichtshandeln abgeschnitten. Es steht niemandem von uns Menschen zu, Kritik daran zu üben, wenn Gott die geistliche und die weltliche Gewalt nicht mehr so eng einander zuordnet, wie er es in der Vergangenheit Jahrhunderte lang getan hatte, sondern wenn er sie nun entkoppelt und (mehr) voneinander scheidet.
Anstatt sich über ein solches Wirken Gottes aufzuregen oder darauf ärgerlich zu reagieren, tut man gut daran, wenn man auf die Frage hört, die Gott damit seinem Volk stellt: „Bist du bereit, dem Gott zu vertrauen, der nach seinem Willen wie ein Töpfer den Ton formt, auch wenn uns dieses Walken aus unserer Perspektive wie Chaos und wirres Durcheinander vorkommt?“
Indem der Prophet Jesaja uns das Bild eines Vaters und einer Mutter vor Augen führt und dazu die ernste Warnung ausspricht: Wehe dem, der zum Vater spricht: „Warum zeugst du? und zur Frau: „Warum gebierst du?“ (Jes. 45,10), verlangt er, dass wir bei all unserem Fragen über Gottes Wege niemals den Respekt und die Achtung vor ihm außer Acht lassen. Gott selbst ist der Heilige, der sein Volk in diese Welt gesetzt hat und der es auffordert, auf ihn ihr Vertrauen zu setzen: Wegen der Zukunft befragt mich! (Jes. 45,11).
In seiner Machtvollkommenheit wird er seinem Volk Gerichtswerkzeuge wie Sanherib oder Nebukadnezar schicken. Er wird aber auch Männer schicken wie Kyros, die einen Dienst für den Bau des Tempels Gottes leisten.
Diese „Kyrosse“ verrichten in der Regel ihr Werk für das Reich Gottes, ohne dass sie sich selbst Gott willentlich unterordnen, häufig sogar, ohne dass sie Gott überhaupt kennen. Möglicherweise aber haben sie manchmal eine Ahnung (oder vielleicht sogar mehr), dass sie bei ihren Entscheidungen im Dienst eines Höheren stehen, nämlich des Gottes des Himmels (Esr. 1,1-4). Hier mussten Herrscher wie Nebukadnezar einiges lernen (Dan. 2,47-49; 4,1-34), und auch Darius der Meder erhielt entsprechende Lektionen (Dan. 6,26-29).
- Probleme mit David und den Davididen
Aber trotzdem: Gerade wenn wir davon überzeugt sind, dass Gott in den Turbulenzen und Wirren der Weltgeschichte niemals die Übersicht verliert, sondern dass er bis in alle Details alles wunderbar lenkt, gerade dann kann ja die Frage bei uns aufbrechen: Warum macht Gott das so mit der Entflechtung von weltlicher und geistlicher Gewalt? Ist dieses Handeln des Töpfers nicht doch eher als Verlust zu bewerten? Was ist der Gewinn, sozusagen der Mehrwert dieser Entkoppelung? Was ist das Plus davon, dass Gott nun einen heidnischen Herrscher dazu nimmt, den Tempelbau in Jerusalem in die Wege zu leiten?
Wenn wir unter dieser Fragestellung noch einmal die Zeit vor dem Auftreten der Assyrer bedenken, fällt uns ein Problem der bisherigen Geschichte des Volkes Gottes auf. Es ist die Gefahr, die immer bei einer allzu großen Nähe zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt auftritt.
Erinnern wir uns an den König David. Dass David beide Gewalten miteinander zu kombinieren suchte, das Weltliche und das Geistliche, das Kriegsführen und das Tempelbauen (2Sam. 5 – 8), war keineswegs unproblematisch. Bezeichnenderweise versagte Gott ihm wegen des Ersteren die Ausführung des Letzteren (1Chr. 22,8; 28,1-3).
Natürlich kann man die Gegenfrage stellen, was David denn Anderes hätte machen sollen, als in der einen Hand das Schwert zu tragen und in der anderen die Mörtelkelle. Immerhin war es Gott selbst, der Davids Kriege wollte (2Sam. 5,6-10.22-25; 2Sam. 8,6.14; Ps. 18,18.30). Aber dann ist eben darauf hinzuweisen, dass David dem Willen Gottes diente in seinem Geschlecht (Luther übersetzt: in seiner Zeit) (Apg. 13,36).
Mit anderen Worten: Es gibt für uns keinen Grund, Davids Einsatz sowohl für den Tempel als auch sein Kriegführen in Bausch und Bogen zu verurteilen. Aber umgekehrt besteht auch kein Grund, die Zeit Davids zu favorisieren und zu idealisieren (wie es rückblickend offensichtlich die Juden zur Zeit Jesajas taten).
Die enge Verwobenheit von weltlicher und geistlicher Gewalt war durchaus problematisch. Die Vermischungen führten zu Verwirrungen.
Im Übrigen ist zu bedenken: David war ein König nach dem Herzen Gottes. Danach bestiegen Männer den Thron, die politisch und taktisch dachten und vielfach aus solchen Erwägungen den Götzenkult mit dem entsprechenden Bilderdienst der Nachbarvölker übernahmen. Diese Regenten förderten die „kulturellen“ Verschlingungen und Verknotungen mit ihrer Umwelt.
Im Nordreich gehörte die Bilderverehrung in den Städten Bethel und Dan zur Tagesordnung. Aber war es im Südreich grundlegend besser? Auch hier hatten die Thronfolger Davids mehrfach (nicht nur Manasse) die Gräuel der Heidenvölker eingeführt, vor denen Gott so nachdrücklich gewarnt hatte (3Mos. 18,24-30; 5Mos. 18,9-14; 2Chr. 33,2).
Auf jeden Fall macht der Prophet Jesaja, aber auch andere Propheten wie Hosea, Amos, Micha oder Zephanja, deutlich, dass einmal eine andere Zeit anbrechen wird. Es wird eine Zeit sein, in der das Zusammengehen von Regenten und Priestern, von Politikern und Gottesdienstleitern, von Thron und Altar, nicht mehr so eng gestaltet sein wird, wie es bis dahin der Fall war.
In geistlicher Hinsicht stellt diese Entwicklung für das Volk Gottes einen Fortschritt, eine Verbesserung dar.
Tatsächlich fungierte die Babylonische Gefangenschaft für das Volk Gottes als eine Art Läuterungsofen. Dort im Exil kapierte das Volk Gottes endlich, dass die kulturellen Verknotungen weitestgehend die Aufnahme heidnischer Gräuel bedeuten und dass es so nicht weitergehen konnte.
Die deutliche (Unter-)Scheidung zwischen dem weltlichen Bereich und dem geistlichen Bereich ist also eine positive Errungenschaft dieser finsteren Zeiten, in der die weltliche Gewalt von Mächten wie den Assyrern, den Babyloniern den Persern und später den Griechen, den Ptolemäern, den Seleukiden und den Römern ausgeübt wurde.
Dass das Volk Gottes in dieser Zeit lernte, in einem von Gottlosigkeit und Heidentum bestimmten Umfeld zu leben, ohne sich dem anzupassen, war Gewinn. Es war ein Segen.
Ja, auch in der zweiten Tempelperiode lief wieder vieles schief. Auch in diese Zeit drang das Heidentum (in Form des Hellenismus) nach Israel ein. Und auch die Abschottung der Pharisäer mit ihrer zur Schau gestellten, scheinheiligen Selbstgerechtigkeit entsprach keineswegs dem Willen Gottes.
Aber die Idee, von der Umwelt so viel wie möglich zu übernehmen, oder gar das Begehren, wie die Heiden zu leben, war nach dem Exil nicht mehr konsensfähig.
Heute würden wir vielleicht sagen: Die Vorstellung, die Gemeinde Gottes habe vor allem gesellschaftsrelevant zu sein, hatte sich prinzipiell erledigt.
Serubbabel, ein Nachkomme Davids (Mt. 1,12), war vom politischen Geschäft (weitgehend) entlastet. Wenn Probleme oder Widerstände politischer Art auftraten, konnte er sie an die persische Macht abgeben (Esr. 5,4 – 6,22). Indem ihm das Schwert, der politische Bereich, abgenommen war, konnte er sich auf den Bau des Tempels konzentrieren (Esr. 5,1-3; Hag. 1,12 – 2,9).
Im Vergleich zu Davids Bemühungen um den Tempelbau war Serubbabels Wirken insgesamt mehr vertikal ausgerichtet. Bei ihm ging es geistlicher zu: Nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist (Sach. 4,6-10).
Mit anderen Worten: Gott zeigt, dass er in dieser Welt auf zwei deutlich zu unterscheidende Weisen handelt. Einerseits wirkt Gott durch seine politischen Werkzeuge für sein Reich, wenn auch auf eine mehr indirekte, verborgene Weise. So ist Gott Handeln in der Politik vielfach nur schwer zu entdecken. Gelegentlich ist es offensichtlich wie bei Kyros. Aber das ist nicht die Regel. Auf der anderen Seite wirkte Gott am Bau seines Tempels von nun an unverhüllter.
Auf diese Weise rückt der Neue Bund mit der Erfüllung des Tempelbaus einen Schritt näher. Wenn er dann gekommen ist, wird es nicht mehr um ein steinernes Gebäude gehen, sondern um den Tempel, in dem Gott eine Wohnstätte im Geist schaffen wird (Joh. 4,23; 1Kor. 3,9-17; 2Kor. 6,16; Eph. 2,20-22; 1Petr. 2,4-8).
- Was heißt das für uns?
Egal, wie wir die Zeit deuten, in der wir heute leben: als Ende des christlichen Abendlandes, als Ergebnis der gottlosen Französischen Revolution, als liberale Säkularisation, die man als Christ irgendwie dialektisch zu bewältigen hat, als Übergang des Konstantinischen Zeitalters in eine nachkonstantinische Epoche. Eines können wir aus diesem Abschnitt des Propheten Jesaja für uns mitnehmen: Gott ist und bleibt in jeder Zeit derselbe. Darum dürfen wir auch in unseren unstrittig finsteren Tagen darauf vertrauen, dass Gott regiert, dass er diese, unsere Zeit lenkt und für seine Gemeinde seinen Weg durch diese Welt hindurch bahnt.
Vermutlich wird die weitere Entwicklung für uns heißen, dass die Gemeinde Gottes ihre bisherigen tausendfältigen Verflechtungen mit der Welt immer mehr löst. Wenn wir das nicht wollen und stattdessen einer Vergangenheit hinterher trauern, wird Gott schon dafür sorgen, dass die Ablösung kommt.
Aber dabei ist wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, in welcher Weise diese Entflechtung erfolgen soll. Es geht dabei nicht um ein krampfhaftes Auseinanderreißen von Politik und Reich Gottes. Es geht nicht darum, dass man als Christ sich gar nicht mehr um Politik kümmert oder sogar mit seinem Nicht-zur-Wahl-Gehen kokettiert. Die angebliche Weisheit, dass Politik den Charakter verderbe, ist genauso geistreich wie die Ansicht, der christliche Glaube sei so etwas Abgehobenes, dass er nur etwas für den Sonntag ist, während am Montag andere Regeln zu gelten haben. Das ist Unsinn.
Gerade in diesem Bibelabschnitt sehen wir, dass der allmächtige Gott nicht nur über seine Gemeinde regiert, sondern auch den politischen Bereich lenkt und ihn für sein Reich in den Dienst stellt. Alles dient seinem Reich, oder wie Jesaja es formuliert: Um Jakob, meines Knechtes und Israels meines Auserwählten willen habe ich dich [Kyros] bei deinem Namen gerufen (Jes. 45,4).
Wenn also angesichts der gegenwärtigen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wirrnisse die Gemeinde Gottes sich fragt, wohin der Weg denn geht, den Gott in dieser Welt einschlägt, dann mag sie sich darauf einstellen, dass die Entflechtung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt angesagt ist, aber dass Gott immer auch den einen oder den anderen „Kyros“ zu erwecken vermag. Auf jeden Fall darf sie sich im Glauben an Gottes Verheißung klammern: Meine Kinder und das Werk meiner Hände lasst mir anbefohlen sein (Jes. 45,11).
[1]) Bitte lesen Sie vorher den Abschnitt Jesaja 44,24 - 45,13 in einer guten Bibelübersetzung. Hier wird nach der Schlachter 2000-Übersetzung zitiert. [2]) Siehe zur Einheit des Propheten Jesaja: Lanz, Eddy, Der ungeteilte Jesaja. Neues Licht auf eine alte Streitfrage. Wuppertal [Brockhaus] 2004. [3]) Josephus, Altertümer (Antiquitates) XI,1,2.