Die Sünder der Vergebung (Teil 3): Sich selbst vergeben?

Die Sünder der Vergebung (Teil 3): Sich selbst vergeben?

Kann ich mir selbst vergeben?

Haben Sie schon einmal den Satz gehört: „Ich kann mir einfach nicht vergeben!“? Oder haben Sie das schon einmal selbst gedacht und für richtig gehalten? Dann ist es an der Zeit, diese Aussage anhand der Heiligen Schrift zu prüfen. Die biblische Lehre der Vergebung wird von mehr als nur ein paar falschen Lehren angegriffen. Die Lehre von der Selbstvergebung ist eine davon. Während die Bibel lehrt, dass Gott uns vergibt und dass wir einander vergeben sollen, sind manche Menschen fälschlicherweise davon überzeugt, dass es biblisch ist, sich selbst zu vergeben. Wenn Gottes Vergebung das eigene Gewissen nicht entlastet und auch der Zuspruch der Vergebung durch andere Christen keinen Frieden gibt, wendet man sich häufig an sich selbst, um Vergebung zu erlangen. Von daher ist der Satz „Ich kann mir einfach nicht vergeben“ auch unter ernsthaften Christen nicht unüblich.

Schreckliche Schuld

Aber ist das so falsch? Manche Sünden haben so unvorstellbare Folgen, dass ein Mensch zu dem Gedanken neigt, mehr als Gottes Vergebung zu brauchen, um Frieden zu finden.

Da ist zum Beispiel der verheiratete Mann, der sich bei der Arbeit zu einer anderen ebenfalls verheirateten Frau hingezogen fühlt. Auch sie fühlt sich zu ihm hingezogen und so begehen die beiden Ehebruch. Seine Ehe überlebt, ihre aber nicht. Ihr Mann lässt sich von ihr scheiden, und ihre Kinder sind so wütend, dass sie wegen der Sünde ihrer Mutter nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Mit seiner dummen und selbstsüchtigen Tat hat der Mann eine Familie zerstört. Bald tut es ihm aufrichtig leid, er glaubt auch, dass Gott ihm vergibt. Seine Frau vergibt ihm ebenfalls, aber er kann sich selbst nicht vergeben – so denkt er zumindest. Er lebt den Rest seines Lebens mit dieser schweren Last: Ich habe eine Familie zerstört.

Die Rückenschmerzen einer Mutter verleiten sie dazu, eine Schmerztablette mehr zu nehmen als vom Arzt verschrieben. Im Laufe des Tages erliegt sie der Versuchung, einen kleinen Schnaps zu trinken, bevor sie ihre Töchter vom Klavierunterricht abholt. Auf dem Heimweg mit dem Auto übersieht sie ein Stoppschild und kollidiert mit einem Lastwagen. Die eine Tochter stirbt bei dem Unfall, während die andere für immer verkrüppelt ist. Es tut der Mutter leid, sie glaubt, dass Gott ihr vergibt, sie findet Vergebung bei ihrem Ehemann und der überlebenden Tochter, aber sie kann sich selbst nicht vergeben – so denkt sie: „Wie kann ich mit dieser Schuld weiterleben?“, fragt sie sich.

Man kann sich viele andere Albträume vorstellen, ebenso viele reale wie hypothetische, die von Katastrophen erzählen, die nicht repariert werden können, von Wunden, die nicht geheilt werden können, von Schmerzen, die nie vergehen werden, von Schulden, die niemals bezahlt werden. Und man selbst war die Ursache für all das. Gott mag einem ja vergeben, aber kann man jemals selbst wieder mit sich im Reinen sein?

Unser christlicher Glaube hat Antworten auf diese Fragen. Denn die Lehre von der Vergebung wird gerade in solchen Situationen wirklich praktisch. Und es ist sehr wichtig, die richtigen Antworten auf diese Fragen zu geben.

Der Ursprung der Selbstvergebung

Es wäre interessant zu erfahren, wo der Ursprung der Lehre von der Selbstvergebung zu finden ist. In christlichen Kreisen hat sie vor allem Lewis B. Smedes‘ Buch Vergeben und Vergessen: Über die heilende Kraft der Vergebung populär gemacht (deutsche Ausgabe erschienen bei: Francke [Marburg] 2001). Es wurde 1984 erstmals in den USA veröffentlicht, zwölf Jahre später nachgedruckt und über 500.000 Mal verkauft. Smedes ist in reformierten Gemeinden aufgewachsen und später auch dort ausgebildet worden. Von 1957 bis 1970 lehrte er am Calvin College in Grand Rapids/US-Bundestaat Michigan und anschließend 25 Jahre lang am Fuller Theological Seminary in Pasadena/US-Bundesstaat Kalifornien, wo er zwei Generationen von jungen Menschen und zukünftigen Pastoren die Lehre von der Selbstvergebung beibrachte.

Es ist nicht immer leicht zu verstehen, was Menschen mit der Aussage „sich selbst zu vergeben“ genau meinen, denn die meisten verwenden den Ausdruck, ohne ihn zu definieren. Aber wir können von Smedes lernen. Für ihn bedeutet Selbstvergebung nicht, sich selbst daran zu erinnern, dass Gott einem alle Schuld auf Grundlage der Gerechtigkeit Christi vergeben hat. (Das wäre zwar lobenswert, wird aber nirgends in der Bibel „sich selbst vergeben“ genannt), sondern es ist „Ihre Entscheidung, so zu leben, als ob Ihre Sünden von gestern irrelevant wären“. Sich selbst zu vergeben, bedeutet nicht, auf das gnädige Urteil eines barmherzigen Gottes zu hören, sondern „die Anklage gegen sich selbst zu ignorieren“. Sich selbst zu vergeben bedeutet, „das Drehbuch deines Lebens neu zu schreiben“, als ob deine Sünde nicht geschehen wäre. Wenn ein Mensch sich selbst vergibt, erfährt er eine „Befreiung, indem er entdeckt, dass seine schreckliche Vergangenheit irrelevant ist für das, was er jetzt ist und in Zukunft sein wird. Er ist frei von seinem eigenen Urteil“. Smedes ist zuversichtlich, dass „selbst die Schlimmsten unter uns die Kraft finden können, sich zu befreien“. Er urteilt, dass Selbstvergebung „beinahe das ultimative Wunder der Heilung“ ist. Weil Selbstvergebung das Werk des Menschen ist, vollbringt der Mensch dieses ultimative Wunder.

Warum Smedes irrt

Der Irrtum dieser falschen Lehre wird erstens deutlich, wenn wir in die Bibel schauen, denn der Ausdruck Selbstvergebung ist dort nicht zu finden. Es wird nicht mit einem Wort erwähnt. Diese Lehre lässt sich auch nicht mithilfe von „guter und notwendiger Schlussfolgerung aus der Schrift ableiten“[1]. Dass die Bibel kein Wort über die Selbstvergebung sagt, sollte genügen, um die Idee zurückzuweisen. In Smedes‘ Buch glänzt die Bibel durch Abwesenheit.

Die Heilige Schrift lehrt nicht, dass ich mich selbst rechtfertige, sondern dass Gottes gerechter Knecht mich rechtfertigen wird (Jes 53,11). Die Schrift lehrt nicht, dass mein Schuldgefühl dadurch beseitigt wird, dass ich meine Vergangenheit vergesse, sondern dass Gott meine Sünde „in die Tiefen des Meeres“ wirft (Mi 7,19). Ich finde in der Bibel keine Stelle, die mir sagt, dass eine Entscheidung über meine Vergangenheit mir Frieden gibt, sondern es ist der Glaube, der das bewirkt (Röm 3,28.30; 5,1). Sogar Kinder wissen, dass der Schrecken ihrer Vergangenheit nicht durch eine eigene Entscheidung ausgelöscht wird, sondern erst dann, wenn Gott sagt, dass er „sich nicht mehr daran erinnert“ (Jer 31,34). Der Zuspruch, den ich brauche, kommt nicht aus mir selbst, sondern sie kommt von Gott, wenn ich ihn bitte, mir seine Gerechtigkeit zu schenken.

Zweitens liegt der Fehler der Selbstvergebung in den Definitionen von Smedes. Niemand kann „das Drehbuch seines Lebens umschreiben“, genauso wenig wie man leugnen kann, wo man geboren und aufgewachsen ist. Jemanden aufzufordern, „die Entscheidung zu treffen, so zu leben, als wären die Sünden von gestern irrelevant“, ist so, als würde man eine Frau auffordern, so zu leben, als wäre es irrelevant, dass sie weiblich ist. Wer kann irgendjemanden, geschweige denn sich selbst, davon überzeugen, dass „seine schreckliche Vergangenheit irrelevant ist für das, was er jetzt ist und in Zukunft sein wird“?

Drittens und am schwerwiegendsten ist der Fehler der Selbstvergebung deswegen, weil sie Gott seiner Ehre beraubt. Gott hat Sie niemals aufgefordert, Ihre Schuld loszuwerden oder eine Entscheidung zu treffen, damit Sie sich selbst von Ihrer Vergangenheit befreien. Uns zu vergeben ist seine Sache, nicht unsere. Er hat seinen Sohn gesandt, um unsere Schuld zu beseitigen, uns mit seinem Blut zu bedecken und uns zu erklären, dass er keine Sünde in uns sieht, sondern nur die vollkommene Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi. Dürfen wir wirklich die Entscheidung treffen, dass dies nicht ausreicht, um unser schlechtes Gewissen zu beruhigen?

Vielleicht kommen wir zu dem Schluss, dass wir unsere eigene Unschuldserklärung brauchen? Ist Gottes Vergebung zwar gut, aber eben nicht genug? Die falsche Lehre der Selbsterlösung könnte nicht deutlicher zum Vorschein kommen als in der falschen Lehre der Selbstvergebung. Der Mensch will Gott die Ehre nehmen und sie sich selbst geben, er möchte Gottes Vergebung auf einen zweitrangigen Platz reduzieren und seine eigene in den Vordergrund rücken.

Es ist furchtbar, wenn jemand sagt, er könne nicht leben, ohne sich selbst zu verzeihen. Aber es ist noch schlimmer, wenn jemand es wagt, sich das zu nehmen, was nur Gott gehört.

Der richtige Umgang mit Schuldgefühlen

Was nun? Es ist relativ einfach zu sagen, dass Selbstvergebung falsch ist. Viel schwieriger ist es, den schweren Kummer desjenigen zu lindern, der das Leben eines anderen zerstört hat. Die Lehre der Selbstvergebung wurde nicht aus dem Ärmel geschüttelt, als ein Theologe in seinem Elfenbeinturm saß und dort beschlossen hat, sich falsche Lehren auszudenken. Nein, diese Überzeugung ist das Ergebnis eines großen Kampfes im Herzen großer Sünder, die mit der Frage ringen, wie man mit einem guten Gewissen vor Gott und im Einklang mit der Umgebung leben kann. Smedes und andere haben die falsche Antwort auf diese Frage gegeben. Aber was soll man einer aufgewühlten Seele sagen, die angesichts der eigenen Schuld einfach keine Ruhe findet?

Erstens – und das ist das Wichtigste – müssen wir uns im Glauben daran erinnern, dass das vollkommene Opfers Christi für alle unsere Sünden vollständig bezahlt hat. Jemand, der unter seiner Sünde leidet, muss hören: Schau genau hin und erkenne deutlich, was der Herr Jesus Christus ertragen hat, als er kam, um vollkommene Genugtuung für alle deine Sünden zu leisten. Die Kraft, im Leben weiterzugehen, liegt darin, sich das zu eigen zu machen, was Jesus für Sie getan hat und weiterhin tun wird. Schauen Sie auf Jesus, nicht auf sich selbst. Sie sollen nicht Ihre Vergangenheit als irrelevant umdeuten, sondern Jesus Christus und Ihre Beziehung zu ihm bedenken. Genießen Sie die Wahrheit, dass er sein Leben damit verbracht hat, die Last Ihrer Schuld und Schande zu tragen … nicht nur die Schuld und Schande kleiner Vergehen, sondern die Schuld und Schande von Menschen, die ihre Eltern quälen, die andere gewaltsam berauben, in schwerer sexueller Sünde leben oder auf andere Art schwerwiegend gegen Gott rebellieren (s. 1Tim 1,9.10). Leben Sie unter dem Schatten seines Kreuzes, an dem er hing – beladen mit unserer Schande und Schmach. Nehmen Sie das „Schmuck- und Ehrenkleid“ seiner Gerechtigkeit an, die er zu Ihrer vollkommenen Errettung bereitgestellt hat. Erfreuen Sie sich am Licht seiner Gegenwart, wenn er Ihnen mit der Liebe in die Augen schaut, die ihn für Sie ans Kreuz gebracht hat. Wir brauchen Christus. Er reicht aus für all unsere Schuld.

Wenden Sie sich deshalb nicht der Selbstvergebung zu. Denn: Auf Golgatha wurde Ihnen die Last abgenommen. Es ist ein herrlicher Gedanke: Meine Sünde – nicht nur ein Teil, sondern jede einzelne Sünde – ist ans Kreuz genagelt, und ich trage sie nicht mehr selbst. Nie mehr!

Zweitens: Wir müssen die schreckliche Sünde in ihrer ganzen Tiefe erfassen. Hier gehen wir einen Schritt zurück. Es kann durchaus möglich sein, dass ein Mensch Christus voll und ganz annimmt und trotzdem nicht zur Ruhe kommt. Selbst dann darf er sich nicht in Selbstvergebung üben. Was soll man in diesem Fall tun?

Es ist möglich, dass die Reue zwar echt ist, aber nur bis zu einem gewissen Punkt reicht. Sie geht nicht so weit und so tief, wie es nötig wäre, weil man die Weite und Tiefe der Sünde nicht begreift. Die Reue über die Sünde ist zwar echt, reicht aber nicht aus, weil wir weder das Ausmaß des angerichteten Schadens noch die sündigen Verhaltensmuster durchdacht haben, die es uns ermöglicht haben, in diese Sünde zu fallen. Daher haben wir noch nicht die ganze Fülle der Vergebung von unserem gnädigen Gott erfahren. Wir haben nur einen Teil des Splitters entfernt, der in unserem Fleisch steckt.

Der Mann, dessen Ehebruch eine andere Familie zerstört hat, hat nicht nur die Tat begangen, sondern auch viele andere Sünden. Das Sündenbekenntnis könnte für ihn das Eingeständnis einer Vielzahl von Sünden beinhalten: ein sündhafter Mangel an Liebe zu seiner eigenen Frau, mangelnde Liebe zum Ehemann und zur Familie der anderen Frau, vielleicht Nachlässigkeit im Umgang mit Alkohol oder das Vernachlässigen der Beziehung zu Gott. Die Frau, die eine ihrer Töchter getötet und die andere fürs Leben gezeichnet hat, kann die Sünde einer zusätzlichen Tablette und eines törichten Drinks vor dem Autofahren bekennen. Und doch könnten noch viele andere Dinge zu der Schmerztablette und dem Schnaps geführt haben. Vielleicht erkennt sie auch nicht, wie tief der Schmerz ist, den sie ihrem Mann zugefügt hat. Wenn die Erkenntnis der Sünde wächst, wenn unsere Trauer darüber tiefer und unser Hass auf sie leidenschaftlicher wird, dann wird der Berg der Gnade Gottes in unseren Augen größer und kostbarer werden. Was in dieser Situation kontraintuitiv erscheinen mag, kann genau das sein, was der belastete Sünder braucht, damit er Christus klarer sieht.

Drittens: Wir müssen uns in Demut üben. Das heißt nicht, dass wir in Schuldgefühlen leben sollen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem Festhalten an Schuld und dem Festhalten an Demut. Ein demütiges Gespür für unsere bleibende Sündhaftigkeit ist gesund. Das ständige Bewusstsein, wie schädlich die Sünde ist, kann heiligend sein. Es bringt uns dazu, dass wir nie wieder in die Nähe einer solchen Sünde kommen wollen. Wir erkennen, dass wir – wenn wir uns selbst überlassen wären – wie ein Hund zu seinem Erbrochenen zurückkehren würden. Deswegen ist es wichtig, sich in Demut zu üben.

Viertens: Das anhaltende Bewusstsein, dass die Sünde bleibenden Schaden anrichtet, führt dazu, dass wir uns nach Christus sehnen. Das Gefühl, dass das, was zerbrochen ist, diesseits der Ewigkeit nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wird uns dazu bringen, uns noch intensiver auf das zweite Kommen Christi zu freuen. Denn dann wird er alle Dinge neu machen und aus der Finsternis dieses Lebens wird endlich Licht.

„Komm, Herr Jesus!“


[1] Dieses Auslegungsprinzip lehrt das Westminster-Bekenntnis in Artikel 1,6.