Die bleibende Botschaft des Buches Daniel

Die bleibende Botschaft des Buches Daniel

Wer eine Reise nach Paris plant, kommt um einen Besuch der Champs Élysées nicht herum. Allerdings gibt es unterschiedliche Perspektiven auf die Prachtstraße der französischen Hauptstadt: Man kann diese Straße entlanglaufen, die einzelnen Läden besuchen und wenn es der Geldbeutel zulässt, sogar etwas kaufen. Man kann aber auch auf diese Straße herunterblicken, indem man den Triumphbogen besteigt. Bei dem Blick von oben entdeckt man etwas, was man beim Gang auf der Straße nicht zu sehen bekommt: Man erkennt die zentrale Position des Triumphbogens und man sieht, wie zwölf Straßen gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen von diesem einen Punkt wegführen. Das ist eine einmalige Perspektive auf die Stadt der Liebe.

Unser Umgang mit biblischen Büchern lässt sich mit einer Städtereise vergleichen. Manche Bibelleser bevorzugen im übertragenen Sinne den Gang auf der Straße. Kapitel für Kapitel, Vers für Vers wird ein biblisches Buch im Detail untersucht. Andere Bibelleser genießen eher den Blick von oben auf das Buch. Sie fragen nach der Gesamtaussage.

Wir sollten beide Vorgehensweisen nicht gegeneinander ausspielen, denn beides gehört zusammen und bewahrt uns vor Einseitigkeit. Wer nur jedes Detail untersucht, läuft Gefahr, vor lauter Bäume den Wald nicht zu sehen. Wer jedoch nur das große Ganze sieht, verpasst all die Perlen, die Gott in seinem Wort bereithält.

Unter der Überschrift Die bleibende Botschaft des Buches … wollen wir einen Blick von oben auf biblische Bücher des Alten Testaments wagen. Dabei liegt der Fokus auf dem Wort bleibend. Wir fragen uns: Welche bleibende Botschaft vermittelt das Buch dem Leser damals wie heute ? Dafür gehen wir jeweils in drei Schritten vor:

  1. Was ist der Inhalt des Buches?
  2. Was ist das Thema des Buches?
  3. Was ist die Botschaft des Buches?

Beginnen wollen wir mit dem Buch Daniel. Dieses Buch übt seit jeher eine Faszination auf Bibelleser aus. Allerdings scheint dieses Buch bei Kindern beliebter zu sein als bei Predigern. Das liegt auch daran, dass die zwölf Kapitel des Buches eine Kombination sind aus historischer Erzählung aus dem 6. Jahrhundert vor Christus und apokalyptischen Visionen über die damalige, aber auch heutige Zukunft. Wie passt das alles zusammen?

1. Was ist der Inhalt des Buches?

Worum geht es in diesem Buch? Wagen wir einen Schnelldurchgang.

Die Geschichten

Der erste Teil (Kapitel 1-6) erfreut sich großer Beliebtheit in Kindergottesdiensten, denn er enthält die spannenden Geschichten aus dem Leben von Daniel und seinem Umfeld:

  • Kapitel 1 berichtet über Daniel und seine drei Freunde, die es als Gefangene und Auszubildende am königlichen Hof in Babylon wagen, sich den Anordnungen des Königs zu widersetzen, es aber durch ihr Gottvertrauen im fremden Land zu Ruhm und Ehre bringen.
  • In Kapitel 2 befähigt Gott Daniel, sodass er dem König Nebukadnezar dessen Traum berichten kann. Anschließend deutet er ihn auch, was keinem der babylonischen Weisen gelungen ist.
  • Das 3. Kapitel beschreibt Gottes wundersame Errettung von Daniels Freunden. Der König Nebukadnezar hatte sie in einen Feuerofen werfen lassen, weil sie nicht bereit gewesen waren, vor seinem Standbild niederzufallen.
  • Dieser König wird in Kapitel 4 als ein arroganter Herrscher beschrieben. Daraufhin lässt Gott ihn so tief fallen, dass er wie ein Tier gedemütigt wird.
  • Im 5. Kapitel hält sein Nachfolger, König Belsazar, ein rauschendes Fest. Aber Gott stört diese Feier, indem eine Handschrift an der Wand erscheint. Wieder ist es Daniel, der dem König die Botschaft überbringen muss: Das Ende deines Königsreiches ist beschlossen.
  • Das 6. Kapitel ist vermutlich die bekannteste Geschichte im Buch und schließt den ersten Teil ab: Daniel lässt sich trotz des königlichen Verbots nicht vom Beten abhalten. Daraufhin wird er in die Löwengrube geworfen, aber Gott rettet ihn.

Man könnte meinen, dass sich dieser Teil des Buches leicht predigen lässt. Aber leider werden diese Geschichten im Buch häufig auf moralische Anwendungen reduziert: „Sei nicht arrogant wie Nebukadnezar“, „Sei nicht ignorant wie Belsazar“, „Sei dagegen treu und mutig wie Daniel und seine Freunde“. Auch wenn diese Anwendungen an sich nicht unbedingt unbiblisch sind, berücksichtigen sie zu wenig die Gesamtaussage des Buches und die Absicht des inspirierten biblischen Autors.

Die Visionen und Prophezeiungen

Aber es ist vor allem der zweite Teil des Buches (Kapitel 7-12), der einige Pastoren vor dem Predigen dieser Kapitel zurückschrecken lässt. Das ist auch ein Grund, warum die meisten Predigtserien zum Buch Daniel bei Kapitel 6 enden. Wieder andere Prediger werden dagegen von diesen Kapiteln der Bibel fast magisch angezogen. Dieser Teil enthält nämlich Prophezeiungen über die Zukunft, die Daniel erhalten hatte:

  • In den Kapiteln 7 und 8 erhält Daniel Visionen über den Aufstieg und den Fall von Königreichen. Monsterähnliche Tiere sind die dominierenden Bilder dieser Kapitel.
  • Das Kapitel 9 ist eine Aufzeichnung eines langen Gebets von Daniel um die Befreiung seines Volkes aus der Gefangenschaft, weil er weiß, dass Gott durch den Propheten Jeremia die Rückkehr aus dem Exil angekündigt hat. Die Antwort auf das Gebet sind die sogenannten 70 Jahrwochen, die bis heute Spekulationen um die Zeiträume während der Endzeit auslösen.
  • In den Kapiteln 10 bis 12 erhält Daniel einen Einblick in himmlische Realitäten, die hinter menschlichen Konflikten stehen. Hier finden wir auch bereits einen Hinweis im Alten Testament auf die Auferstehung der Toten zu einem ewigen Leben am Ende der Tage.

In der Vergangenheit hat man gerade diesen zweiten Teil des Buches immer wieder missbraucht, um das Ende der Welt auf bestimmte Tage vorherzusagen.

Der falsche Umgang mit dem Buch sollte uns aber nicht dazu verleiten, dem Buch auszuweichen. Denn das Buch will mehr sein als der erhobene Zeigefinger (mit den ersten sechs Kapiteln) oder als der detaillierte Fahrplan für das Ende der Welt (mit den letzten sechs Kapitel). Weder Moralismus noch Endzeitspekulationen werden dem Buch gerecht.

2. Was ist das Thema des Buches?

Das Buch enthält also verschiedene Erzählungen und Visionen. Was aber hält den gesamten Inhalt des Buches zusammen? Die historischen Berichte (Kapitel 1-6) stellen nämlich keine zusammenhängende Biografie von Daniel oder seinen Freunden dar. Sie sind auch nicht lückenlose Berichte über die Geschichte Israels unter babylonischer oder persischer Herrschaft. Sie sind lediglich eine Auswahl an Begebenheiten. Eine lückenlose Darstellung der Geschichte würde weit mehr enthalten müssen.

Vielmehr dienen die historischen Details (die konkreten Personen, Zeiten und Orte) einer theologischen Botschaft. Dasselbe gilt auch für den zweiten Teil des Buches (Kapitel 7-12): Auch sie sind Zusammenstellungen von Visionen mit einer bestimmten Absicht. Und deshalb gibt es einen roten Faden, der alle diese Berichte und Visionen zusammenhält. Was also ist das übergeordnete Thema? Es ist die Souveränität Gottes. Oder in anderen Worten: In seiner Erhabenheit herrscht Gott über alle menschlichen Königreiche. Darüber hinaus dominieren zwei weitere Personengruppen die zwölf Kapitel: Gottes Nachfolger und Gottes Gegner. Diese Personengruppen verbinden auch die zwei unterschiedlichen Textgattungen im Buch miteinander. Denn das, worum es in den Kapitel 1-6 in den Geschichten geht, ist dasselbe, worum es in den Visionen der Kapitel 7-12 geht. Die folgende Tabelle soll dies verdeutlichen:

Verbindet man nun die drei Personengruppen und ihre Themen miteinander, lässt sich das Thema des Buches mit einem Satz zusammenfassen:

Weil Gott souverän über alles herrscht, können Gottes Nachfolger treu zu seinen Geboten stehen, denn Gott wird sie in den Angriffen von Gottes Gegnern erretten.

3. Was ist die Botschaft des Buches?

Der letzte Schritt zur Beantwortung der Frage nach der Botschaft des Buches beginnt damit, die Situation der damaligen Leser zu erfassen: Wer waren die ersten Leser und in welcher Lage steckten sie?

3.1. Für Gottes Volk: Trost und Ermutigung

Vermutlich richtete Daniel das Buch an die Juden im babylonischen Exil, bevor ein Überrest von ihnen ab 538 v.Chr. in das verheißene Land zurückkehrte. Psalm 137,1 fängt diesen Moment der Juden gut ein: An den Strömen Babels saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.

Was brauchte Gottes Volk in dieser Lage? Es waren zwei Dinge: Trost und Ermutigung.

3.1.1 Trost

Der babylonische König Nebukadnezar dominierte die damalige Welt. Das warf die Frage auf, wer die absolute Kontrolle hatte. War es Nebukadnezar und die Könige, die ihm folgten? Oder der Gott Israels? Trotz der Eroberung von Gottes Volk und der Herrschaft menschlicher Könige macht der Autor deutlich: Gott sitzt immer noch auf seinem Thron und herrscht über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Bereits früh im Buch wird deutlich: Die Eroberung von Jerusalem durch Nebukadnezar wird nicht mit der militärischen oder strategischen Überlegenheit begründet, sondern mit Gottes Zustimmung: Gott gab Jerusalem in die Hände des babylonischen Königs (Dan 1,2). Auch das Ende von menschlicher Herrschaft geschieht nicht einfach, sondern ausdrücklich wird erwähnt, dass es Gott ist, der Könige ein- und absetzt (Dan 2,34.45). Die Visionen der Kapitel 7-12 machen deutlich: Gott schreibt die Geschichte der Zukunft. Er kennt sie und ordnet sie an. Deshalb kann Gott Daniel offenbaren, was geschehen wird.

Ja, Gottes souveräne Herrschaft dominiert das Buch Daniel. Aber wir sollten uns erinnern: Dieses Buch wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als Gottes Herrschaft für sein Volk nicht sichtbar war. Menschliche Herrscher saßen auf ihrem Thron und unterdrückten Gottes Kinder. Wo war Gott?

Das Buch erinnerte das Volk: Während menschliche Könige kommen und gehen, bleibt der ewige König und wird eines Tages sein ewiges Reich vollenden. Auch das, was außerhalb der Kontrolle Gottes scheint, muss „über seinen Tisch“. Gott behält die vollständige Kontrolle über die Geschichte.

Der Gott, der die Geschicke menschlicher Herrscher kontrolliert, wird auch sein eigenes ewiges Königreich aufrichten (Dan 2,44). Das musste auch der damalige mächtigste König der Welt anerkennen und fiel vor Daniel, seinem Gefangenen, auf die Knie (Dan 2,46). Nebukadnezar musste wiederholt bekennen, dass Gott der souveräne Herrscher ist (Dan 3,29; 4,34). Auch sein Nachfolger Belsazar musste dies erfahren (Dan 5,17-21) und ebenso bekannte der persische König Darius, dass Gottes Herrschaft niemals enden wird (Dan 6,27). Das war im Leben von Daniel so und das wird auch in der Zukunft des Volkes Gottes so sein. Die Vision der vier Tiere und der anschließenden Gerichtsszene in Kapitel 7 offenbaren: Jede menschliche Herrschaft wird am Ende durch Gottes Königreich abgelöst.

In den Kapitel 10-12 vernichten die Heere des Himmels den antichristlichen Weltherrscher der Endzeit, der sich gegen Gott erhoben hat. Und so wird den letzten und schlimmsten Königen der Erde der souveräne Gott ihre Grenzen aufzeigen (Dan 11,45).

Hier stellt sich die Frage: Teilen wir heute die Situation mit den ersten Lesern? Daniel richtete seine Botschaften damals an Gottes Volk im Exil, während westliche Gemeinden (noch) in relativer Freiheit leben. Allerdings sollten wir nicht übersehen, dass wir als Gottes Volk auch heute gewissermaßen im Exil leben. Die sündige Welt ist nicht unser Zuhause. Paulus erinnert uns, dass unser Bürgerrecht im Himmel ist (Phil 3,20), auch wenn wir uns Bürger eines Landes nennen. Und die Apostel Petrus (1Pt 1,1) sowie Jakobus (Jak 1,1) richten ihre Briefe an Gottes Volk in der Zerstreuung. Selbst wenn die heutigen Gemeinden im Westen nicht unter offenkundiger Verfolgung leiden, so leiden sie dennoch unter den Folgen des Lebens auf dieser Erde. Auch wir leiden unter Machtmissbrauch und Willkür, zerbrochenen Beziehungen und Gewalt. Auch in unserer Welt sieht es vordergründig so aus, als hätten politische Machthaber, weltweit agierende Konzerne oder antichristliche Ideologien die eigentliche Macht in den Händen.

Daher sind die tröstenden Botschaften Daniels auch für die heutige Gemeinde relevant und lebensspendend. Denn obwohl dieses Reich Gottes, das Daniel wiederholt ankündigt, mit dem ersten Kommen von Jesus bereits eingeleitet wurde (Mt 10,7), wird es erst bei der Wiederkunft von Jesus vollendet werden. Eines Tages wird sich jedes Knie vor Christus beugen müssen (Phil 2,10). Und dann wird Gottes Volk endgültig gerettet werden.

3.1.2    Ermutigung

In der Zwischenzeit braucht Gottes Volk die Ermutigung dranzubleiben. Während Gottes Volk im Buch Daniel unter der Herrschaft von verschiedenen Königen stand, war es unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt. Im ersten Kapitel standen die Juden in der Gefahr, Kompromisse beim Essen einzugehen. Manche mögen Daniel und seinen Freunden hier eine gewisse Engstirnigkeit vorwerfen und mehr Realismus als Idealismus empfehlen. Aber Daniels Herzensentschluss (Dan 1,8) war entscheidend. Denn: In den folgenden Kapiteln wurden die Bedrohungen nur noch schlimmer. In Kapitel 1 stand „nur“ ihre Karriere auf dem Spiel, die Entscheidungen der Kapitel 2-6 bedrohten ihr Leben. Hätten Daniels Freunde nicht einfach vor der Statue des Königs niederfallen können, ohne mit dem Herzen anzubeten (Dan 3)? Hätte Daniel nicht auf seine Gewohnheit verzichten können und zu Gott in seinem Herzen beten können und gleichzeitig das Gebot des Königs einhalten können (Dan 6)? War es das wirklich wert? Ja, die Kompromisslosigkeit von Daniel und seinen Freunden wurde immer wieder belohnt und Gott beweist seinerseits seine Treue zu ihnen. Und auch in den Kapiteln 7-12 wird beschrieben, wie Gottes Volk immer wieder bedroht wird. Deshalb wird Gottes Volk in Daniel 12,12 ermutigt: Wohl dem, der ausharrt.

Gottes Kinder wurden mit diesem Buch daran erinnert, dass menschliche Herrscher totale Loyalität verlangen, die aber im Widerspruch zu Gottes Geboten steht. Daher benötigten sie den Trost, dass Gott in all diesen wechselhaften Zeiten die absolute Kontrolle behält. Und so wurden sie ermutigt, selbst in herausfordernden Zeiten, treu zu Gottes Geboten zu stehen.

Aber Daniel und seine Freunde blieben nicht nur Gott treu, sondern sie liefern auch ein hervorragendes Beispiel für einen Nachfolger Gottes, der das Beste seines Landes suchte. Der Prophet Jeremia gab den nach Babylon Weggeführten in Jeremia 29,7 folgten Anweisung: Und sucht den Frieden der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Frieden werdet auch ihr Frieden haben!

Daniels Treue Gott gegenüber verleitete ihn nicht dazu, willkürlich oder auch taktlos gegenüber menschlichen Herrschern aufzutreten. Rücksichtsvoll machte er einen Vorschlag für einen akzeptablen Ernährungsplan (Dan 1,8-16). Er bat taktisch klug um Aufschubzeit und konnte so das Leben seiner Freunde retten (2,12-49). Sein Einsatz für das Babylonische Reich war über jeden Zweifel erhaben (Dan 6,4) und so gewann er wiederholt Gunst bei den Königen, denen er diente. Ja, Daniel stand fast sein ganzes Leben im Dienst menschlicher Weltherrscher.

Daniels Auftrag war also ein doppelter: Treue gegenüber Gott bei gleichzeitigem Dienst an den Menschen. Damit vermied er die zwei Gefahren: Anpassung und Rückzug.

Denselben Auftrag haben wir als Gottes Nachfolger noch heute. In der Bergpredigt erinnert Jesus seine Jünger in Matthäus 5,13-16 an diesen zweifachen Auftrag, sowohl Salz (keine Anpassung) als auch Licht (kein Rückzug) zu sein.

3.2       Für menschliche Herrscher: Warnung

Aber das Buch Daniel hatte nicht nur das Volk der Juden im Blick. Mit diesem Buch wollte Gott auch heidnischen Herrschen Einblick in das gewähren, was geschehen sollte. Daniel brachte Nebukadnezar gegenüber in Dan 2,27-28 zum Ausdruck, dass Gott sich an den menschlichen Herrscher wendet: Das Geheimnis, nach dem der König fragt, können Weise, Wahrsager, Traumdeuter oder Zeichendeuter dem König nicht verkünden; aber es gibt einen Gott im Himmel, der Geheimnisse offenbart; der hat den König Nebukadnezar wissen lassen, was am Ende der Tage geschehen soll.

Ein weiteres Argument dafür, dass dieses Buch menschliche Könige im Blick hat, ist das wiederholte Muster, das in diesem Buch auftaucht. Menschliche Königreiche stehen im Konflikt mit Gottes Königreich. In jedem einzelnen Kapitel des Buches geht es um einen menschlichen König oder um ein menschliches Königreich und es geht um das göttliche Reich (um Gott oder um sein Volk). Es beginnt mit dem babylonischen König Nebukadnezar. Seine Herrschaft war geprägt von Macht und Pracht, sowohl militärisch als auch kulturell. Unter Nebukadnezar erreichte das Babylonische Reich eine Größe, die es bis dahin nicht hatte und nach ihm nicht mehr haben sollte. Bis heute sind noch seine prächtigen Bauten wie die berühmten Hängenden Gärten von Babylon bekannt. Wir bekommen in Daniel 4,27 einen Einblick in das stolze Herz dieses Mannes, der zu sich selbst sprach: Ist das nicht das große Babel, das ich mir erbaut habe zur königlichen Residenz mit meiner gewaltigen Macht und zu Ehren meiner Majestät?

Schon früh im Buch sehen wir, wie sein Anspruch der Herrschaft mit Gottes Herrschaftsanspruch in Konflikt geriet. Er eroberte Jerusalem und ließ Geräte aus dem Haus Gottes in die Schatzkammer seines Gottes bringen (Dan 1,2). Damit brachte er zum Ausdruck, dass sein Gott den Gott Israels erobert habe. Von Daniels Freunden verlangte er, dass sie seinen Gott (oder was das Standbild aus Daniel 3 auch darstellen sollte), anbeten sollten. Aber auch die Herrscher, die Nebukadnezar folgten, kamen auf verschiedene Weise in Konflikt mit Gottes Reich. Belsazar maß sich an, aus Gottes heiligen Gefäßen zu trinken (Dan 5,3-4). Und die Beamten unter König Darius forderten die sichere Tötung von Gottes treuem Diener Daniel (Dan 6,14-16). Ebenso zeigen uns die Visionen aus dem zweiten Teil des Buches diesen Konflikt: Die Tiere aus Kapitel 7 sowie das Standbild aus Kapitel 7 und auch die Vision vom Widder und der Ziege in Kapitel 8 stellen Königreiche dar, die sich gegen Gottes Volk erheben. Ebenso bekräftigen die Kapitel 10-12 dieses Muster.

Für die heidnischen Herrscher als angesprochene Leser spricht vor allem die sprachliche Aufteilung des Buches. Durch die Einfügung eines Abschnitts in aramäischer Sprache (der damaligen Weltsprache) kommt es zu einer Dreiteilung des Buches:

Gerade in dem aramäischen Mittelteil wendet sich Gott an die weltlichen Herrscher. In ihrer eigenen Sprache wird ihnen bezeugt, wer der eigentliche Herrscher ist. Denn jeder menschliche König kann nur so weit herrschen, wie Gott es ermöglicht. Ausdrücklich wird erwähnt, dass Gott sein Volk in die Hand des babylonischen Königs gab (Dan 1,2). Und jedes menschliche Königreich hat einmal ein Ende. Nebukadnezar und Belsazar wurden von Gott gedemütigt (Dan 4 und 5) und ihrer Macht wurde ein Ende gesetzt. Die menschlichen Königreiche des Standbildes (Dan 2) wurden vom rollenden Stein zerstört und auch die Herrschaft der Tiere aus Kapitel 7 wird durch die ewige Herrschaft des Menschensohns abgelöst (Dan 7,12-14). Ein unbenannter zukünftiger Herrscher, der in Daniels Visionen als Horn dargestellt wird, würde ebenfalls eine große Selbsterhöhung zeigen (Dan 7,8; 11,36–37), die ihm Gottes Urteil einbringen würde (Dan 7,11; 11,45). Gott setzt Autoritäten ein und ab (Dan 2,21; 4,31-32). Dreimal müssen menschliche Herrscher Gottes Herrschaftsanspruch anerkennen, nachdem Gott in die Geschichte eingriff und seine Nachfolger aus der Not befreite. Dies tun sie jeweils ausdrücklich mit einer sogenannten Doxologie („Lobpreis Gottes“):

Im ganzen Buch geht es um die Konfrontation zwischen Gottes Reich und menschlichen Reichen. Damit ist das Buch eine Warnung an menschliche Herrscher: Gottes Herrschaft müssen selbst Gottes Gegner anerkennen.

Wenn wir also selbst in einer Machtposition sind, erinnert uns dieses Buch daran, dass wir uns von unseren Errungenschaften und unserer Autorität nicht blenden lassen dürfen. Unsere Autorität ist nur eine verliehene Autorität und wir werden einmal zur Verantwortung gezogen werden. Wenn wir nach Macht streben, erinnert uns das Buch daran, dass Gott den Gebrauch dieser Macht einmal beurteilen wird.

Boris Giesbrecht ist Studienleiter der Akademie für Reformatorische Theologie, wo er im Bereich der Biblischen und Praktischen Theologie lehrt. Gemeinsam mit seiner Frau Maria und den drei Kindern gehört er zur Bekennenden Ev.-Ref. Gemeinde in Gießen.