Vor einigen Jahren wurde ein Video einer neu gegründeten Kirchengemeinde veröffentlicht, in dem sie ihre Arbeit vorstellte. Darin fragte man Menschen, was sie sich von einer Kirche wünschen. Eine Dame sagte, dass darauf geachtet werden solle, dass die Kirche allen Spaß mache. Groß und Klein sollten Freude an ihr haben. Andere meinten, die Kirche dürfe nicht weltfremd sein. Was dort besprochen werde, müsse in den Alltag der Menschen sprechen. Wieder andere wünschten sich eine liebevolle Gemeinschaft. Weil wir in einer Zeit leben würden, in der jeder für sich allein bleibe, solle die Kirche zu einer Stätte werden, an der Menschen einander begegnen können.
Alle diese Erwartungen entsprechen natürlichen Bedürfnissen: Ohne Freude verkümmern wir. Jeder von uns muss sich der Realität stellen. Einsamkeit können wir nicht lange ertragen. In der Kirche treffen sich Menschen mit ihren Bedürfnissen.
Die Kirche in der Zeit
Üblicherweise meinen wir, heutzutage in einer anderen Welt zu leben als die Menschen vor 500 Jahren. Damals wütete die Pest in den Städten. Die Mächtigen kämpften um Vorherrschaft und führten Kriege. Vor den Toren Wiens standen die Türken, und man fürchtete nicht nur das Ende des Abendlandes, sondern meinte, dass das Ende der Zeit gekommen sei. Den Leuten, denen ständig der Tod ins Angesicht blickte, hatte die Kirche gewiss etwas zu bieten. Sie konnte ihnen beistehen und ihnen vermitteln, dass das Leben auf der Erde nicht die letzte Wirklichkeit ist, sondern dass nach dem Erdenleben eine bessere Welt auf jene wartet, die mit Gott im Reinen sind.
Aber was kann die Kirche denjenigen bieten, die im Großen und Ganzen ein ausgefülltes Dasein haben? Genau diese Frage haben sich bereits Menschen zur Zeit Martin Luthers gestellt. Insgesamt war das Ende des Mittelalters nicht so düster, wie wir das meinen. Trotz der Bedrohung durch die Türken und durch die Pest herrschte Aufbruchsstimmung. Im Süden Europas machten Maler, Bildhauer und Architekten von sich reden. Sie knüpften an das Weltbild und an das Schönheitsideal der Antike an. Sie ermutigten ihre Zeitgenossen, sich am Leben zu erfreuen. Die Wissenschaft florierte. Die Natur wurde sorgfältig beobachtet. Der neu entwickelte Buchdruck ermöglichte es, dass Entdeckungen und Gedanken, mit denen man sich an einer Universität beschäftigte, zügig in ganz Europa verbreitet werden konnten. Man konnte also an allen möglichen Orten an erzielte Forschungsergebnisse anknüpfen und Ideen weiterentwickeln. Nicht nur die Gelehrten, sondern auch das gemeine Volk lernte lesen und erfuhr von den neuen Erkenntnissen. Durch den florierenden Handel gelangte das Bürgertum zu Einfluss und Reichtum. Die Welt blieb nicht ausschließlich in den Händen des Adels. Reiche Kaufleute importierten Rohstoffe und ließen sie von der Landbevölkerung veredeln. In den Stuben der Bauern wurden Stoffe gewoben und kleine Drucksachen angefertigt. Durch Fleiß, kluges Wirtschaften und Sparsamkeit konnte die einfache Bevölkerung bescheidenen Reichtum erlangen.
So betrachtet glich die Zeit der Reformation in vielerlei Weise unserer Lebenssituation. Auch heute wird Wert auf Kultur gelegt. Man zieht Schönheit der Wahrheit vor, den Genuss der Notwendigkeit und die Vorstellung der Realität. Die Wissenschaft macht beeindruckende Fortschritte. Die Erklärungen der Kirche zur Welt sind scheinbar nicht mehr erforderlich. Die Kommunikation hat eine neue Dimension erreicht. Neuigkeiten verbreiten sich in Windeseile. Informationen der ganzen Welt stehen öffentlich zur Verfügung. Wir brauchen keine teuren Bücher zu kaufen und können uns den Weg in die Bibliothek sparen. Das Wissen, das in diesem Augenblick die Welt bewegt, ist nur einen Mausklick weit entfernt – per Smartphone sind wir imstande, überall und zu jeder Zeit darauf zuzugreifen.
In den westlichen Ländern genießen wir den Wohlstand. Wieder ist es möglich, durch Fleiß, kluges Wirtschaften und Sparsamkeit Reichtum zu gewinnen. Darum stellt sich heute erneut die Frage, die die Menschen im ausgehenden Mittelalter beschäftigte: Was hat die Kirche mir zu bieten? Es ist schlicht unnötig, von einem herrlichen Jenseits zu träumen, wenn man die Gegenwart in vollen Zügen genießen kann. Niemand will ein Weltbild aufrechterhalten, das das Leben in der Antike prägte. Stattdessen wollen wir heute erfahren, was die Welt zusammenhält. Was hilft der Kirche in solchen Umständen, dass sie nicht in die Bedeutungslosigkeit versinkt? Was kann sie bieten, damit die Zeitgenossen sich für den Glauben an den ewigen Gott interessieren? Wie muss sie gestaltet sein, damit Menschen zu ihr gehören wollen?
Die Gestalt der Kirche
Immer wieder meint die kirchliche Obrigkeit, ihrer Gemeinschaft eine Gestalt geben zu müssen, die von den Zeitgenossen beachtet wird. In einer Zeit, in der überall herrliche Bauwerke errichtet und nach antikem Vorbild prunkvoll geschmückt wurden, gab Papst Julius II. den Auftrag, die größte Kirche der Welt zu bauen. Das alte Gotteshaus in Rom war baufällig geworden, und es war bekannt für seine Mückenplage. Ein solcher Ort konnte nicht für die Herrlichkeit des christlichen Glaubens stehen. Der Bau des Petersdomes wurde in Angriff genommen. Er sollte dem Bischof von Rom eine angemessene Grabstätte bieten. Der Kirchenfürst meinte, auf diese Weise Mitmenschen beeindrucken zu können.
In der Auseinandersetzung mit der Wissenschaft zog man sich auf geistliche Themen zurück. Anstatt zu den Entdeckungen der Geometrie, der Mathematik, der Botanik und der Anatomie Stellung zu nehmen, sprach man unverständlich von den Geheimnissen des Glaubens, die die Sinne nicht erfassen könnten.
Eine dieser Lehren war der Schatz oder der Gnadenschatz der Kirche. Nach römischem Dogma habe Christus es möglich gemacht, dass den Menschen die Strafe für ihre Sünden erlassen werde. Damit seine Gnade wirksam werde, müsse sie durch gute Werke fruchtbar gemacht werden. Die Gläubigen beschäftigte die Frage, wie viele Werke sie zu leisten hätten, um nach dem Tod nicht für eine lange Zeit im Fegefeuer für ihre Verfehlungen zu leiden.
Die römische Kirche vertritt noch heute dieselbe Lösung: Es gebe Menschen, die Heiligen, namentlich Maria, die während ihres Erdenlebens mehr gute Werke getan hätten, als sie benötigten, um dem reinigenden Fegefeuer zu entgehen. Diese guten Werke würden nicht verlorengehen, sondern auf einem Konto gutgeschrieben werden. Das sei der Schatz, den die Kirche zu verwalten meine. Der überschüssige Verdienst könne den Gläubigen angerechnet werden. Der fromme römische Christ, der täglich in seinem Gebet Maria grüßt und von ihr sagt, dass sie voller Gnade sei, solle hoffen, dass ihm ihre Werke gutgeschrieben werden. Selbst wenn ein Sünder nicht von Herzen bereut, werde der Verdienst, den Maria erwirkt habe, es am Ende als Gnade richten.
Wie die Lehre der Kirche, die Umstände der Zeit und die Bedürfnisse der Menschen zusammenpassen können, wird am Ablasshandel deutlich. Dieser wurde bekanntlich gerade in der Zeit Luthers vorangetrieben. Einerseits war da die Kirche, die unbedingt das größte und herrlichste Gebäude der Welt bauen wollte, und die die Gläubigen lehrte, sie müssten am Gnadenschatz Anteil bekommen, um nach dem Tod nicht für lange Zeit gequält zu werden. Andererseits konnten die Gläubigen, die durch ihre Arbeit einen gewissen Reichtum erlangt hatten, sich etwas leisten. Unter diesen beiden Voraussetzungen war es möglich, den Leuten Ablassbriefe zu verkaufen. Durch das Siegel des Papstes wurde ihnen bescheinigt, dass dem Besitzer die Strafe des Fegefeuers ganz oder teilweise erlassen werde. Wer besonders wohlhabend war, leistete es sich, auch seine Eltern und Großeltern von ihrem Elend loszukaufen. Dieser Handel kam den Menschen gelegen. Sie mussten nicht mehr hingehen und ihre Sünden bekennen und danach Buße leisten. Sie konnten es sich ersparen, lange Gebete zu verrichten oder eine Wallfahrt zu unternehmen. Stattdessen erledigten sie die Sache mit einer Zahlung und widmeten sich ihren Tagesgeschäften.
Wie zur Zeit der Reformation wird heutzutage an vielen Orten versucht, die Bedürfnisse der Zeit für die Interessen der Kirche zu nutzen. Gotteshäuser und Gottesdienste werden so gestaltet, dass Menschen von ihnen beeindruckt sind. Einst feierte man Andachten in zweckmäßigen Gebäuden. Heute wird an vielen Orten weit über das Notwendige hinausgegangen. Bereits beim Eintreten in die Kirche soll man erkennen können, dass hier vom größten Gott gesprochen werde. Es wird gezeigt, dass er kein armer Herr ist, sondern alle reich segnet, die sich zu ihm stellen.
Die Musik, die genauso jeden Tag im Radio zu hören ist, schafft im Gottesdienst ein vertrautes Umfeld. Von der Bühne sind persönliche Erfahrungen zu hören, die mit Christus erlebt werden können. Der Glaube ist zu einem Angebot verkommen, das man ergreifen kann, um mit Hilfe von Gottes Segen ein gelingendes Leben zu führen. Ein solcher Gottesdienst und solche Gedanken passen vortrefflich in unsere Zeit.
Heutzutage setzt sich der Glaube selten mit der Wissenschaft, der Technik oder der Philosophie auseinander. Er hat sich zu einer individuellen Sache entwickelt. Man erklärt, die Spiritualität, mit der man seinem Schöpfer begegnen will, könne nicht verordnet werden, sondern sei etwas durch und durch Subjektives. Folglich gilt jede Art von Dogma als anrüchig und als einengend. Bereits der Versuch, den Glauben oder Gott und den Zugang zu ihm zu definieren, wird von vielen abgelehnt. Es sei eine Angelegenheit des Herzens, hört man, und nicht des Verstandes. So wird der Glaube wieder zu etwas, worüber man höchstens in unverständlichen Phrasen spricht. Allerdings wird Wert auf Gemeinschaft gelegt. Das Credo vieler christlicher Gemeinden lautet: Die Kirche soll ein Ort sein, an dem eine verbindliche Gemeinschaft gepflegt wird, in der es genug Offenheit gibt, Gott auf unterschiedliche Art und Weise zu erfahren. Das ist die Gestalt, die die Kirche an vielen Orten angenommen hat. Sie scheint in unsere Zeit zu passen und angemessen auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen.
Fragen an die Kirche
Nicht alle Zeitgenossen Luthers waren blind für die Machenschaften ihrer Glaubensgemeinschaft. Darum wurden, wie es in den 95 Thesen heißt, viele vorwitzige Fragen gestellt. Der Reformator war immer noch überzeugt, dass das kirchliche Oberhaupt in Rom nichts davon ahnte, wie das Geld für sein Bauvorhaben zusammengetragen wurde. Darum schrieb er: „Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablassprediger wüsste, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde“ (These 50).
Gottes Kinder haben es nicht nötig, beeindruckt zu werden. Vielmehr mussten sie von den Machenschaften der Ablasshändler geschützt werden, die ihren Hörern das Fegefeuer heiß machten, um möglichst viele Briefe verkaufen zu können. Das Wirken jener Reiseprediger entsprach der christlichen Lehre in keinem Stück. Darum ging der Reformator noch davon aus, dass der Papst nicht im Bilde ist, was in Deutschland getrieben wurde. Offenbar hatten nicht alle seine Zeitgenossen eine so hohe Meinung vom Oberhaupt der Kirche. Sie hielten dem Bischof von Rom vor: „Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Krösus, nicht wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen?“ (These 86)
Der Bischof von Rom wollte sich durch den Bau des Petersdomes ein Denkmal setzen. Dieses Streben erinnerte seine Zeitgenossen an den lydischen König, der seinen Untertanen seine Herrlichkeit demonstrierte. Sie waren nicht bereit, den Geltungsdrang des kirchlichen Oberhauptes zu unterstützen.
Die Lehre, dass die Kirche den Gnadenschatz verwalte, war offensichtlich mit dem Bauvorhaben in Rom verbunden. Dies nahm Luther nicht mehr widerspruchslos hin: „Warum räumt der Papst nicht das Fegefeuer aus um der heiligsten Liebe und höchsten Not der Seelen willen – als aus einem wirklich triftigen Grund –, da er doch unzählige Seelen loskauft um des unheilvollen Geldes zum Bau einer Kirche willen – als aus einem sehr fadenscheinigen Grund?“ (These 82). Mit anderen Worten: Wenn der Papst sich wirklich um das Heil und das Wohlergehen der Gläubigen kümmern würde, unternähme er doch alles, um den Menschen die Qual des Fegefeuers zu ersparen. Warum gibt die Kirche jenen Menschen, die sich nach Erlösung sehnen, nicht frei an ihrem Schatz Anteil? Wenn das Heil, das Christus erworben hat, bereits fruchtbar ist, warum kann es zurückgehalten werden? Wenn Maria und die Heiligen überreich an Gnade und guten Werken sind, warum können die Christen sich nicht daran erfreuen, dass für sie genug getan wurde?
Genau wie die Gestalt, die die Menschen der Kirche am Ende des Mittelalters gegeben haben, wird die heutige Form hinterfragt. Hier einige Fragen, die unsere Zeitgenossen stellen: Warum sollte ich in die Kirche gehen, um die Musik zu hören, die mir gefällt? Warum kann ich nicht genauso gut mit meinen Freunden, die meinen Glauben nicht teilen, ein säkulares Konzert besuchen? Wenn die Kirche meint, eine besondere Gemeinschaft bieten zu können, warum gibt es dann so viele Auseinandersetzungen und Streitigkeiten in ihren Reihen? Warum sollte ich mich stattdessen nicht einem Verein anschließen, in dem ich Leute finde, die meine Interessen sowie meine Weltsicht teilen? Wie kann die Kirche mich in meiner Spiritualität unterstützen? Kann ein indischer Guru oder ein anderer spiritueller Ratgeber diesen Dienst nicht ebenso gut leisten? Wenn die Christen tatsächlich von Gott gesegnet sind, warum gibt es dann noch Kranke unter ihnen? Warum leiden einige Gläubige auf der Welt Hunger oder gar Verfolgung?
Wir hören hier ähnlich vorwitzige Fragen zur aktuellen Gestalt der Kirche, wie sie zur Zeit Luthers gestellt wurden. Wieder sind diese Anfragen vielen Christen irgendwie peinlich. Ihr Bild vom Leben und vom Glauben, das sie sich so sorgfältig aufgebaut haben, wird hinterfragt. Das Papsttum, das mit dem Bau eines beeindruckenden Gotteshauses, dem Verwalten eines geheimnisvollen Schatzes und dem Handel mit dem Ablass beschäftigt war, konnte auf die vorwitzigen Fragen keine Antwort geben. Luther schrieb: „Diese äußerst peinlichen Einwände der Laien nur mit Gewalt zu unterdrücken und nicht durch vernünftige Gegenargumente zu beseitigen heißt, die Kirche und den Papst dem Gelächter der Feinde auszusetzen und die Christenheit unglücklich zu machen“ (These 90).
Das Evangelium ist die Antwort
Die Wahrheit muss ans Licht. Es muss klargestellt werden, was das Christentum ausmacht. Was ließ einst die vorwitzigen Fragen verstummen? Wie kann die Kirche Glaubwürdigkeit gewinnen? Luther hatte eine überraschend einfache Antwort, und sie hat heute weder an Gültigkeit noch an Aktualität eingebüßt: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ (These 62).
Das Evangelium unterscheidet die Kirche von allen anderen Gemeinschaften. Es ist mit keiner anderen Lehre oder Philosophie zu vergleichen. In ihm wird offenbart, dass der Schöpfer der Welt herrlich ist. Er ist absolut heilig. Das heißt, dass er in allen seinen Wesensarten vollkommen ist. In ihm sind keine Fehler und keine Bosheit. Er kennt keinen Mangel, noch hat er es nötig, dass irgendjemand ihm hilft. Er lässt sich von nichts und niemandem hinters Licht führen und kennt die Wahrheit in allen Dingen. Dieser Gott beurteilt die Welt und wird alle Menschen richten – auch dabei wird er keinen Fehler machen.
Was ist der Maßstab der Gerechtigkeit, an dem der Ewige seine Geschöpfe beurteilen wird? Er hat ihn in der Bibel offenbart. In den Zehn Geboten hat Gott seinem Volk eine Zusammenfassung überreicht, die an vielen Stellen der Heiligen Schrift ausführlicher erklärt wird. Durch die Geschichte Israels erfahren wir, was es heißt, das Erste Gebot zu übertreten, und welche Auswirkungen der Götzendienst hat. Menschen erdachten sich ein eigenes Bild von Gott und täuschten sich damit selbst. Christus lehrte seine Jünger, dass jener Mensch bereits mordet, also das Sechste Gebot bricht, der Zorn gegen einen Mitmenschen in seinem Herzen hegt. Bereits lustvolle Blicke gehören zur Unreinheit, die Gott verachtet, und nicht erst der vollzogene Ehebruch. Wer diesen Maßstab der Gerechtigkeit auf sein eigenes Leben anwendet, muss wie der Apostel Paulus zum Schluss kommen: Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte (Röm. 3,23). Während Gott herrlich und vollkommen ist, fehlt diese Eigenschaft jedem Menschen von Geburt an. Das erklärt, warum wir von unserem Schöpfer getrennt sind. Vor ihm können wir nicht bestehen.
Im allerheiligsten Evangelium erfahren wir nicht nur von der Herrlichkeit Gottes, sondern auch von seiner Gnade. Es ist gerade darum eine gute Nachricht, weil es jenen Menschen, die wegen ihrer Sünde von ihrem Schöpfer getrennt sind, einen Ausweg aus ihrer aussichtslosen Lage aufzeigt. Von den Sündern, die alle Herrlichkeit verloren haben, schrieb der Apostel Paulus weiter: [Sie] werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist (Röm. 3,24).
Die Gnade Gottes kann nicht erworben werden. Weder durch eine Spende an die Kirche noch durch irgendwelche frommen Leistungen wird das Wohlwollen des heiligen Gottes gewonnen. Der Glaube allein ist es, der reuigen Sündern die Gerechtigkeit schenkt, die ihnen fehlt, um vor ihrem Schöpfer bestehen zu können. Das Evangelium ruft Menschen auf, auf das zu vertrauen, was Christus getan hat. Er ist der Sündlose, das vollkommene Opfer, der die Strafe für die Ungerechtigkeit der Menschen auf sich nahm. Wer auf ihn vertraut, gewinnt Anteil an seinem Werk. Es braucht nicht das Mitwirken anderer Menschen, die das Heil des Erlösers verwirklichen. Kein Mensch kann leisten, was Christus vollbracht hat. Darum muss die Kirche die Botschaft schlicht und einfach verkündigen, dass bei Christus alles gefunden wird, was zum Heil erforderlich ist. Das ist der wahre Schatz der Kirche.
Es ist eine Täuschung, wenn die Kirche meint, beeindrucken zu müssen, um helfen zu können. Alles, was auf Erden bewundert wird, kann von Menschen erreicht werden. Wer sich Mühe gibt und klug wirtschaftet, kann sich Schönheit und jede Art von Glück leisten, das die Welt bieten kann. Alle diese irdischen Dinge sind himmelweit von der Glückseligkeit entfernt, zu der das Evangelium führt. Es ist eine Täuschung, Menschen aufzurufen, auf das Vermögen von Geschöpfen zu vertrauen. Der Psalmist lehrt Gottes Volk: Es ist gut, auf den Herrn zu vertrauen und nicht sich zu verlassen auf Menschen (Ps. 118,8). Wenn alle Menschen Sünder sind und die Herrlichkeit verloren haben, die Gott ihnen zugedacht hat, ist es allen unmöglich, die Gerechtigkeit zu erfüllen.
Gottes Wort macht den Schwindel deutlich: Es ist offensichtlich gelogen, wenn behauptet wird, einige Menschen hätten mehr getan, als für ihre eigene Seligkeit nötig wäre. Es ist eine Täuschung, zu meinen, Gottes Gnade könnte auf irgendeine andere Art gewonnen werden als allein durch den Glauben. Der Prophet Samuel verkündete dem König Saul, der sich nicht an Gottes Weisung hielt: Siehe, Gehorsam ist besser als Opfer und Aufmerken besser als das Fett von Widdern (1Sam. 15,22).
Gott hat versprochen, dass er jeden retten wird, der auf seinen Sohn vertraut. Weil er der Wahrhaftige ist, dürfen wir uns auf sein Wort verlassen, und weil er der Ewige und Allmächtige ist, kann niemand und nichts seinen Ratschluss zunichte machen. Es ist auch eine Täuschung, wenn bloß die Gnade verkündigt und die Herrlichkeit Gottes verschwiegen wird. Damit Menschen den Schatz der Kirche erkennen können, müssen sie von ihrer Bedürftigkeit wissen. Sie zu schonen heißt, ihnen den Grund zu nehmen, an Christus zu glauben. Es ist ebenfalls eine Täuschung, den Menschen vorzugaukeln, dass sie in erster Linie menschliche Gemeinschaft, Unterstützung und den Zuspruch nötig hätten, um ein glückliches Leben zu führen. Das alles kann das zentrale Bedürfnis des Menschen nicht stillen, von dem in der Bibel die Rede ist.
Die Kirche kann nur dann Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie von dem spricht, was ihr anvertraut worden ist: das Evangelium von Jesus Christus. Das gilt auch, wenn die Menschen, die die gute Nachricht hören, sie nicht verstehen oder sich sogar über die Herrlichkeit und die Gnade Gottes ärgern. Wer den Segen des Evangeliums empfangen will, muss bekennen, alles Recht verloren zu haben, um von Gott angenommen zu werden. Genau dieser Schritt fällt niemandem leicht. Es ist grausam, wenn die Kirche, um ihre Mitmenschen nicht zu verärgern, ihnen ihre wahre Lage vor dem Schöpfer verschweigt! Falls sie rät, auf eine Täuschung zu hoffen, weist sie ihren Zeitgenossen nicht den Weg zum Heil, sondern verführt sie. Eine Kirche, die das tut, hat nach den Worten des Herrn ein strenges Gericht zu erwarten (Luk. 17,1.2). Wenn sie das Evangelium vernachlässigt, hat sie ihren Auftrag verraten, den sie von ihrem Herrn erhalten hat. Damit hat sie ihren Herrn verlassen und den wahren Schatz verloren, den Gott ihr durch die Botschaft seiner Herrlichkeit und Gnade anvertraut hat.
Thesen zum Nutzen der Kirche
Die folgenden abschließenden drei Thesen sind zugleich die Antwort auf die Frage, was die Kirche – und ich meine damit jene Gemeinschaft, die ihre Mitmenschen nicht verführt, sondern auf das Heil in Christus hinweist – ihren Zeitgenossen zu bieten hat:
- Die Kirche muss ihren Schatz kennen, um anderen dienen zu können. Sie muss die Botschaft verstehen, die ihr anvertraut worden ist. Statt sich mit sozialer Gerechtigkeit, dem Weltfrieden oder der Frage nach einem behaglichen Leben zu beschäftigen, hat ihr erstes Interesse dem Evangelium von Jesus Christus zu gelten. Das ist keine einmalige Aufgabe, die rasch erledigt werden kann. Die Botschaft, dass im Glauben an Christus vollkommene Vergebung aller Sünden und vollständige Gerechtigkeit zu finden ist, will unser gesamtes Dasein prägen. Wirklich verstanden wird das Evangelium nur dann, wenn aus ihm das Leben geführt wird.
- Die Kirche muss das Evangelium verkündigen. Gerade dann, wenn die gute Botschaft von der Herrlichkeit und der Gnade des Herrn Jesus Christus auf taube Ohren zu stoßen scheint, muss sie weitergesagt werden. Gerade dann, wenn sich Menschen über das Urteil des Evangeliums ärgern, darf nicht davon abgerückt werden. Es ist ein verheerender Fehler, wenn Bedürfnisse der Zeitgenossen der Kirche ihre Form aufdrücken. Die Kirche muss zu jeder Zeit so gestaltet sein, dass die Menschen das Evangelium klar und deutlich zu hören bekommen.
- Die Kirche muss auf alle Dinge verzichten, die Menschen äußerlich beeindrucken können. Stattdessen muss sie Sorge dafür tragen, dass die Menschen die Herrlichkeit des Herrn erkennen und auf seine staunenswerte Gnade vertrauen. Eine neue Bescheidenheit und Schlichtheit sind nötig. Statt sich selbst groß zu machen, muss in der Kirche bezeugt werden, dass sich in ihr verlorene Sünder sammeln, die allein auf die Gnade Gottes in Christus hoffen. Darum nehmen Gottes Kinder gerne gemeinsam an den Füßen ihres Herrn Platz. Seinem Wort wollen sie vertrauen. Mehr kann kein Mensch tun. In dieser Schlichtheit wird allerdings das Beste erkannt: das Heil in dem herrlichen Herrn.
Nur dann, wenn die Kirche diese drei Thesen beherzigt, wird sie den Menschen nützen – nützlich sein, das Heil der Seelen zu finden. Sie wird damit Erwartungen einiger Menschen enttäuschen. Aber das ist besser, als wenn sie ihre Zeitgenossen täuscht und ihnen eine falsche Seligkeit vorgaukelt. Der Herr der Kirche gebe uns Weisheit und Kraft, bei der Wahrheit des Evangeliums von Jesus Christus zu bleiben und sie auch in unserer Zeit zu seiner Ehre unzweideutig zu verkündigen.
[1]) Im vergangenen Herbst veranstaltete die Evangelisch-Reformierte Kirche, Westminster Bekenntnis (ERKWB) zwei „Reformationstage“. Einer der dort gehaltenen Vorträge ist die Grundlage dieses Artikels.