Selbstverständlichster Mittelpunkt
Dass der Mensch sich selbst als sein selbstverständlichster Mittelpunkt ansehe, stellte bereits der Zürcher Theologe Emil Brunner (1889-1966) vor bald 100 Jahren fest. Diese Entwicklung hatte unter anderem der Gelehrte René Descartes in Gang gesetzt, indem er das Selbst zur letzten und einzigen Instanz gegen den Zweifel erklärte. Was damals im 17. Jahrhundert begann, erwies sich nach der schrittweisen Verabschiedung von einem Gott aus dem öffentlichen Leben als der scheinbar letzte Halt.
Trotz der Ernüchterungen des 20. Jahrhunderts besteht heute ein ungebrochen reges Interesse am Menschen und an der Frage, was ein gutes Leben ausmacht.
Den Anstoß zu dieser Reflektion erhielt ich durch Carl Trueman (* 1967), einen britischen Kirchenhistoriker mit Lehrtätigkeit in den USA. Er befasste sich intensiv mit dem grundlegenden Wandel in der Deutung der inneren Befindlichkeit des Menschen. Es geht dabei nicht um die von Gott geschaffene Fähigkeit des Menschen, zu sich selbst auf Distanz zu gehen und über sich selbst nachzudenken. Diese kann und soll Bestandteil unseres Lebens sein, wie es die Psalmen zeigen. Wir denken vor Gott über uns selbst nach, wie beispielsweise die Söhne Korahs, die sich selbst fragten, warum sie in Unruhe waren und sich dann erneut auf Gott besannen (siehe der Refrain in Psalm 42,5.11 sowie 43,5). Vielmehr geht es um den andauernden Abgleich mit der inneren Befindlichkeit, die den heutigen Menschen im Westen als Teil seiner Identitätsbildung ständig beschäftigt.
In diesem Beitrag wird es darum gehen, diesem starken Fokus auf die innere Passung und Stimmigkeit nachzugehen. Dabei wenden wir uns zuerst der Diagnose zu. Was prägt das Innenleben des typischen Menschen im Westen? Auf welchem gedanklichen Boden konnte dieser Zustand gedeihen?
Zuerst beschäftigen wir uns mit prägenden Merkmalen im Leben des Einzelnen und anschließend mit der gesellschaftlichen „Luft“, die diese Beschaffenheit begünstigt.[1]
Individuelle Diagnose: Das nachmoderne Selbst
Für die Beschreibung verwende ich Begriffe, die auf den kanadischen Religionssoziologen Charles Taylor (* 1931) zurückgehen.[2] Dieser stellte fest, dass bestimmte Ideen, die zunächst bloß in den Köpfen der Bildungselite steckten, sich über einen langen Zeitraum in der breiten Masse der Bevölkerung festsetzen konnten. Dieser komplexe Prozess, wie Ideen in die Köpfe breiter Bevölkerungsschichten gelangen und dort irgendwann als „normal“ gelten, nannte Taylor Sozialimagination. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Art und Weise des heutigen Selbstverständnisses seit längerer Zeit bereits durch einige wenige Vordenker geprägt worden ist.
Eine fundamentale Verschiebung durch diesen Prozess betrifft die Art und Weise, wie wir auf die vorgefundenen Bedingungen unserer Außenwelt reagieren. (Wenn ich jetzt die Wir-Form benutze, schließe ich mich als Autor ein.) Während die Menschen sich in früheren Epochen ohne Nachdenken an den sozialen Bedingungen ihrer Vorväter orientierten und sich daran anpassten, betreibt der Einzelne heute eine andere Art des Umgangs: Er begreift die ihn umgebenden Bedingungen nicht als Pflicht, sich in diese einzufügen. Vielmehr sieht er sie als Gelegenheit, um sie selbsttätig zu gestalten und ein eigenes Lebensgebilde daraus zu schmieden. Hierfür werden die beiden Begriffe Mimesis (griechisch für „nachahmen“) und Poiesis (griechisch für „erschaffen“) verwendet. Während man früher nachahmte (Mimesis), erschafft man heute die eigene Identität selbst (Poiesis). Es handelt sich um eine fundamentale Verschiebung des Lebensgefühls und -verständnisses.
Dieses schlägt sich in einer anderen Art und Weise des Selbstausdrucks nieder. Taylor fasst dies mit dem Begriff expressiver Individualismus zusammen. Der Einzelne sieht sich aufgefordert, die Kreation seiner „Lebenscollage“ nach außen zu tragen. Die eigenen Empfindungen sollen nicht im Innern bleiben, sondern der Außenwelt kommuniziert werden. Erst dann, wenn er sich öffentlich ausdrücken kann, lebt er im Einklang mit dem, was die Gesellschaft erfordert. Wir erkennen zwei zentrale Mittel für diesen Selbstausdruck: Einerseits die Therapieangebote, die den Einzelnen in der Erschaffung der eigenen Lebenswelt unterstützen und begleiten sollen, andererseits die sozialen Medien, die als Plattform für diesen Selbstausdruck dienen.
Verbunden mit dem Ideal, sich seine eigene Lebenswelt zu erschaffen und der Pflicht, diese nach außen darzustellen, ist eine Art öffentliche „Beglaubigung“. Es entsteht der Bedarf nach dauernder Fremdreferenz. Das vom Einzelnen auf dessen momentanes Befinden abgestützte Selbstbild bedarf der wiederholten Bestätigung von außen. Wir erkennen die Möglichkeit der „Likes“ in den sozialen Medien als wichtiges – und von Sozialingenieuren absichtlich eingeführtes – Mittel zur Befriedigung genau dieses Bedürfnisses.
Was im Ideal einiger Gelehrter seinen Ausgang genommen und heute in den breiten Bevölkerungsschichten Eingang gefunden hat, gilt als neues Sittlichkeitsideal. Ein „Sittenverfall“ bedeutet demnach nicht, dass es kein neues Ideal mehr geben würde. Es bedeutet vielmehr, dass ein neues Ideal entstanden ist. Kurz gefasst lautet dieses: Ich erschaffe mir eine eigene Lebenswelt, die ich nach außen tragen muss, um von anderen Menschen Bestätigung einzuholen.
Christliche Gemeinden als Plattformen des Selbstausdrucks
Fragen wir uns jetzt, wie sich dieses neue Selbstverständnis auf die christlichen Gemeinden auswirkt.
Zunächst stellen wir fest, dass wir alle, die wir der „Luft“ dieses Selbstverständnisses ausgesetzt sind, dieses unbewusst übernehmen. Wir halten uns in den sozialen Netzwerken auf, schauen Filme, durchlaufen Schulen und Ausbildungen. Wir stehen also mitten in diesem Strom der Zeit, den Paulus als diesen Weltlauf bezeichnet (Römer 12,2). Das innere Ideal der Erschaffung einer eigenen Lebenswelt und der Möglichkeit, dies nach außen auszudrücken, ist demnach auch der (vielleicht unbewusste) Maßstab eines Gemeindeglieds, um mit seiner Gemeinde zufrieden zu sein.
Wer steht der Entfaltung des Einzelnen im Weg? In erster Linie ist das die Familie, weil diese die Funktion der Primärsozialisation, also die grundlegende Prägung eines Menschen, übernimmt. Gemäß dem neuen Denken soll sie jedoch nicht mehr prägende Instanz sein, sondern als Plattform zur Realisierung des eigenen Selbst dienen. Auf diese Weise verwandelt sich die Familie in einen „Mikrokosmos“ von unabhängigen Einzelwesen. Statt dass diese eine gegebene Ordnung übernehmen, dient die Familie als Basis zur Verwirklichung der eigenen Wünsche und Vorstellungen. Die Folgen daraus sind absehbar: Beziehungen werden schwierig mit dem Resultat, dass die Familien häufig an den Idealen des Einzelnen zerbrechen.
Ähnlich ist es um die Institution der Kirche bestellt. Wo das Neue Testament das Einfügen in die von Gott eingesetzte Ordnung als Liebesbeweis sieht, betrachtet heute der Einzelne die Gemeinde häufig als Plattform für den Ausdruck seiner momentanen Gefühlsverfassung. Die Gemeinschaftsbildung, die ganz wesentlich durch das gegenseitige (Er)Tragen geprägt ist, tritt in den Hintergrund. Im Gottesdienst geht es um die Aktualisierung der eigenen Gefühle. Diese wird empfindlich gestört, wenn etwa Ermahnung an die Stelle der dauerhaften Bestätigung tritt. Eine Folge ist, dass auch eine transzendente, das heißt vom göttlichen Geber her verstandene Ethik als Hindernis zur Selbstentfaltung angesehen wird.
Wie wirkt sich dies auf eine Gemeinschaft aus, die sich auf der Grundlage eines Bekenntnisses zur Heiligen Schrift trifft? Da die Mitglieder von den neuen Maßstäben geprägt sind, entsteht über die Zeit Druck, die ethischen Maßstäbe der Gemeinde an die von der Mehrheit der Gesellschaft gelebte Ethik anzupassen.[3]
Die Luft der Postmoderne
Nachdem wir uns überlegt haben, wie der Einzelne sein Innenleben als vorrangige Bewertungsinstanz ansieht, stellt sich die Anschlussfrage: Welches sind die gesellschaftlichen Bedingungen, unter welchen diese Innenorientierung zum Kennzeichen des Menschen wurde?
Mit Moderne wird der tiefgreifende kulturelle Wandel in den Jahren 1870 bis ca. 1950 bezeichnet. Diese Zeit war geprägt durch die Industrialisierung, den Aufstieg der repräsentativen Demokratie, dem Zeitalter der Wissenschaften und der felsenfesten Überzeugung, dass der frühere abergläubische Zustand der Gesellschaft durch die Vernunft abgelöst worden sei. Eine wesentliche Änderung im Leben der Einzelnen war die erstmalige Einführung individueller Freiheiten.
Nach der desaströsen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und unter dem Eindruck des Kalten Kriegs und der atomaren Aufrüstung veränderte sich das Denkklima in den 1950ern und 60ern erheblich. Einige Vordenker befürchteten, dass die Gesellschaft zu einer künstlichen, hedonistischen, kapitalistischen, konsumorientierten Welt der Fantasie und des Spiels verkomme. Der überschäumende Fortschrittsglaube war einem Pessimismus gewichen. Es breitete sich Furcht vor menschlicher Selbstüberschätzung auf der einen Seite und dem Verlust von Bedeutung und Authentizität auf der anderen aus.[4]
Aus diesem Denkklima heraus entstand die sogenannte Post- bzw. Nach-Moderne. Diese lebt im Wesentlichen von den Bedingungen der Moderne und denkt sie in mancher Hinsicht zu Ende. Pluckrose und Lindsay benennen zwei wesentliche Prinzipien:
1. Postmodernes Erkenntnisprinzip: Es entstand eine radikale Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit von objektivem Wissen oder Wahrheit. Dagegen wurde das Bekenntnis zum kulturellen Konstruktivismus an oberste Stelle gesetzt. Das heißt: Jede Gesellschaft konstruiert ausgehend von ihren Lebensbedingungen und Perspektiven, was sie als wahr ansieht. Letztlich handle es sich jedoch um Mythen oder zumindest um Annahmen innerhalb des eigenen Kulturkreises und der eigenen Zeit.
2. Postmodernes politisches Prinzip: Mit dem kulturellen Konstruktivismus verknüpft war der Glaube, dass die Gesellschaft sich aus Machtsystemen und Hierarchien zusammensetze. Die jeweils herrschende Elite bestimme darüber, was und wie sich Erkenntnis vollziehe und welchen Erzählungen Glauben geschenkt werden könne.
Merkmale der Postmoderne
Aus diesen beiden Grundannahmen heraus entwickelten sich vier charakteristische Merkmale der Postmoderne.
- Verwischen von Grenzen: Wenn Wissen eine Frage der kulturellen Prägung darstellt, die durch eine Elite gesteuert wird, dann ist das Misstrauen gegenüber allen Grenzen und Kategorien, die frühere Denker weitgehend als wahr akzeptierten, eine logische Folge. Es erstaunt nicht, dass in den letzten Jahrzehnten fast jede gesellschaftlich bedeutsame Kategorie absichtlich zum Problem gemacht worden ist (z.B. die traditionelle Familie).
- Macht der Sprache: Wenn Wahrheit und Wirklichkeit laufend (neu) konstruiert werden, dann muss der Sprache eine Schlüsselstellung zukommen. Sie kann die Gesellschaft und das Denken kontrollieren. Wir erkennen unschwer die Um- und Neudeutungen der Sprache als Konsequenz dieser Annahme.
- Kultureller Relativismus: Jede sinnvolle Kritik an den Werten und der Ethik einer Kultur aus einer anderen Kultur heraus ist unmöglich und von vornherein abzulehnen. Einzelne Menschen sind Träger von Machtdiskursen. Ihre Position ist abhängig davon, in welchem Verhältnis sie zur Machtelite stehen.
- Ablehnung des Universellen und des Individuellen: Die Vertreter der Postmoderne lehnen sowohl die kleinste Einheit der Gesellschaft – das Individuum – als auch die größte – die Menschheit – ab. Welcher Fokus bleibt übrig? Das Interesse beschränkt sich auf kleine, lokale Gruppen als Produzenten von Wissen, Werten und Diskursen.
Christliche Gemeinden als Überreste vergangener Machtdiskurse
Erneut ziehen wir einige Schlussfolgerungen aus den beschriebenen Kennzeichen der Moderne bzw. Nachmoderne und beziehen sie auf die christlichen Gemeinden.
- Verlorenes Metanarrativ: Während bis ins 20. Jahrhundert die Menschen von einer großen Geschichte ihrer Welt und ihrer Kultur ausgingen, ist dieser Horizont drastisch eingeschränkt worden. Ja noch mehr: Die Menschen sind von ihrer Geschichte abgeschnitten; sie spielt in den Überlegungen und Entscheiden kaum mehr eine Rolle. In dieser Haltung betreten Menschen auch die Gemeinde. Sie denken im kleinen Rahmen ihres eigenen Daseins bzw. ihrer nächsten Lebens-Etappenziele. Die Vorstellung, dass jeder Einzelne in Gottes großer Geschichte eingebunden ist, wirkt fremdartig bzw. wird von der Lebenswirklichkeit losgelöst.
- Ethischer Relativismus: Die Vorstellung, dass die Ethik vom aktuellen Konsens (bzw. Zeitgeist) abhängt, hat sich in den Köpfen festgesetzt. Wir tun uns schwer, übergeordnete Normen zu akzeptieren. Solange dies ein allgemeines christliches Bekenntnis betrifft, mag das noch gehen; sobald es jedoch einen konkreten Fall oder gar unser eigenes Leben betrifft, kommt die Anwendung dieses Bekenntnisses ins Wanken.
- Emotivistische Begründungsmuster: In Gesprächen ist auf die Frage, weshalb eine Entscheidung getroffen wurde, ja sogar in Debatten über Sachfragen, oft die unwillkürliche Antwort zu hören: „Ich denke, dass…“ In frommer Verpackung klingt dies dann eher so: „Mein Herz sagt mir, dass…“ Der schottische Moralphilosoph Alasdair MacIntyre (* 1929) sprach vom Emotivismus – die momentan vorhandenen Empfindungen werden zum Maßstab.
- Verständigungsschwierigkeiten: Wann immer Vertreter mit einer absoluten Überzeugung auf Vertreter des Relativismus treffen, tun sich grundsätzliche Gräben zur Verständigung auf. Was sich an einer konkreten Fragestellung – aktuell z.B. zur Sexualethik – entzündet, hat tiefere Wurzeln, da unterschiedliche Grundannahmen vorliegen. Diese einander gegenüberzustellen, ist jedoch kaum Bestandteil des Austausches, obwohl es dringend notwendig wäre.
- Kultur des Vergessens: Wer die Vergangenheit abwertet und ohne Interesse an ihr vorübergeht, bewegt sich – im Bild gesprochen – in einem anscheinend luftleeren Raum, der in Wirklichkeit von zahllosen Traditionen (Ergebnissen von Suchprozessen in der Vergangenheit) gefüllt ist. So ist er gezwungen, Spannungen und Schwierigkeiten in der Gegenwart mittels einer neuen Erklärung aus dem Weg zu schaffen. Heutzutage geschieht das beispielweise mit einer Geschichtsdeutung, die vergangene Zeiten als Kette der Unterdrückung pauschal verurteilt.
Ausblick
Wer sich diese Diagnose durchliest, wird mit Recht deprimiert sein. Manche Gesellschaftsanalytiker – zu denen ich beispielsweise die atheistischen Denker James Lindsay und Helen Pluckrose zähle – sind in der Lage, die Konturen sehr scharf zu zeichnen. Was ihnen jedoch fehlt, ist die Zuversicht einer feststehenden Offenbarung als Grundlage unseres Denkens und Handelns. Aus diesem Grund werden wir im zweiten Teil mit biblisch begründeten Antworten eines erlösten Menschen auf dieses neue Selbstverständnis eingehen.
Hanniel Strebel ist studierter Betriebswirt und promovierter Theologe. Beruflich begleitet er seit über 20 Jahren Lern- und Entwicklungsprozesse in Unternehmen. Mit seiner Frau Anne Catherine hat er fünf Söhne. Er gehört zur Presbyterianischen Gemeinde in Zürich.
[1] Dafür greife ich auf Carl Truemans Buch Der Siegeszug des modernen Selbst (Bad Oeynhausen [Verbum Medien] 2022) zurück, das im weiteren Verlauf dieses Heftes näher vorgestellt wird. Für den zweiten Teil dieses Artikels greife ich auf die ausgezeichnete Studie Zynische Theorien: Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles stellt – und warum das niemandem nützt von Helen Pluckrose und James Lindsay zurück (München [C.H. Beck] 2022).
[2] Das monumentale Werk Ein säkulares Zeitalter (Frankfurt [Suhrkamp] 2009; die deutsche Übersetzung ist überragend geraten) bildet eine der Hauptquellen für Carl Truemans Buch.
[3] Insofern ist der Titel von Michael Dieners Buch Raus aus der Sackgasse (Asslar [adeo] 2021) ein Ausdruck der nachträglichen Anpassung der Theologie. Gemäß dem neuen Denken hat Theologie sich aktuellen ethischen Maßstäben zu beugen.
[4] Wer etwas von dieser Stimmung mitbekommen möchte, dem sei die Lektüre des bereits 1938 erschienenen Erstlingsromans Der Ekel von Jean-Paul Sartre empfohlen.