Das Buch Esther (Teil 2): Drei Phasen in Esthers Lebensweg

Das Buch Esther (Teil 2): Drei Phasen in Esthers Lebensweg

Im ersten Teil der Serie zum Buch Esther ging es um die Frage: Warum wird Gott in diesem Buch kein einziges Mal erwähnt? Beim ersten Lesen des Buches dominiert die mächtige Gestalt eines menschlichen Königs die Handlungen. Das Buch Esther fordert den Leser aber auf, einen zweiten Blick auf die Geschichte zu wagen und nach Gottes Handeln Ausschau zu halten. Dann wird offensichtlich: Gott hat jedes Detail von langer Hand geplant. Die Antwort lautet demnach: Gott wird in dem Buch nicht erwähnt, weil seine Souveränität alle Ereignisse des Lebens umfasst, selbst dann, wenn sein Name nicht ausdrücklich erwähnt wird. Kurzum: Gott handelt hinter den Kulissen.

Eine weitere herausfordernde Frage an das Buch Esther betrifft den Vorbildcharakter der Hauptperson des Buches: Wie ist das Verhalten von Esther zu beurteilen? Die Entwicklung der Person Esther durch das ganze Buch hindurch kann in einer einzigen Aussage zusammengefasst werden: Von einem Mädchen, das nicht weiß, wo es hingehört, zu einer mutigen Frau, die genaue Vorstellungen hat.

In drei Schritten soll diese Entwicklung beschrieben werden und dabei auch jeweils die Frage beantwortet werden: In welcher Beziehung stehen diese menschlichen Handlungen zu Gottes Souveränität?

1. Fragwürdige Kompromisse (Est. 2)

Die Juden lebten während des 5. Jahrhunderts vor Christi Geburt als religiöse Minderheit im persischen Großreich. Wegen einer Kleinigkeit hatte der herrschende König Ahasveros seine Königin Vasthi absetzen lassen (Est. 1,12). Seine Diener waren danach auf die Suche nach einer neuen Königin gegangen. Schön und jungfräulich sollte sie sein (Est. 2,2). Und so stießen die Diener des Königs auf die Jüdin Esther (Est. 2,8). Im ganzen Buch ist Esther die einzige Person, die zwei Namen trägt (Est. 2,7). Sie war auch Hadassa (hebr. Myrte), die Jüdin. Aber sie war eben auch Esther, die Perserin, vermutlich abgeleitet vom persischen Gott Ishtar. Namen hatten zur Zeit des Alten Testaments eine große Bedeutung. Sie beschrieben die Identität einer Person. Der Erzvater Jakob erhielt von Gott einen neuen Namen: Israel. Denn er sollte das Ringen mit Gott nie vergessen (1Mos. 32). Daniel und seinen Freunden wurden zwecks besserer Integration neue Namen gegeben (Dan. 1,7). Zwei Namen aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturkreisen sind ein Hinweis darauf, dass sich eine Person zwischen zwei Welten bewegt. Genau das war Esthers Lage: Sie lebte in zwei Welten. Da war die jüdische Welt, in der sie aufgewachsen war, und da war die pompöse Welt des persischen Hofes, in die sie hineingestoßen wurde. Wer war Esther eigentlich? Wo gehörte sie hin?

Esther kam in eine Situation, da konnte sie nicht mehr beide Identitäten leben. Sie musste ihr Zuhause bei Mordechai verlassen und wurde unter die Verantwortung von Hegai gestellt (Est. 2,8). Dieser Mann war dafür zuständig, dass der sexuelle Appetit des Königs gestillt wurde. Dafür bereitete er diese Frauen vor. Mit Esther schien es dieser Hofbeamte nicht schwer zu haben. Ihm gefiel Esther (Est. 2,9), und so wurde sie von ihm auf die entscheidende Nacht mit dem König bevorzugt vorbereitet. Diese Vorbereitung umfasste eine sechsmonatige Behandlung mit Myrrenöl und weitere sechs Monate mit Balsamölen und anderen Schönheitskosmetika (Est. 2,12). Die Nacht mit dem König sollte dann alles entscheiden (Est. 2,14). Würde sie dem König nicht gefallen, dann wartete ein Leben ohne Heirat oder Liebe auf sie, abgeschieden von der Außenwelt im Harem des Königs. Würde sie aber dem König gefallen, so tat sich ihr eine neue Welt auf. Sie könnte zur Königin Persiens werden. Ein Leben in Reichtum und Ehre lagen dann vor ihr. Vermutlich entstand unter den Frauen ein Wettbewerb, wer dem König mehr gefallen würde. Vielleicht sangen einige oder tanzten vor dem König. Andere ließen sich möglicherweise mit einer besonderen Kleidung ausstatten (Est. 2,13). Was dachte sich wohl Esther aus, um die Gunst des Königs zu gewinnen? Sie vertraute diesbezüglich ganz den Empfehlungen von Hegai (Est. 2,15). Schließlich kannte er den König am besten, und er wusste genau, was dem König gefiel. Sie schien für Hegai die perfekte Kandidatin zu sein. Für alles, was er wollte, stand sie zur Verfügung. Und die Rechnung ging auf: Der König erwählte sie zur Königin (Est. 2,17). Esther schien den Wettbewerb gegen alle anderen Frauen gewonnen zu haben.

Aber Halt: Hatte sie wirklich gewonnen? Sie schien eher etwas verloren zu haben, nämlich ihre jüdische Identität. Zweimal erwähnt das Kapitel ausdrücklich, dass Mordechai sie anwies, ihre jüdische Herkunft zu verschweigen (Est. 2,10.20). Daran schien sie sich auch gehalten zu haben. Aber wie war das möglich? Wie konnte eine Jüdin verheimlichen eine Jüdin zu sein? Um ihre jüdische Identität zu verheimlichen, müsste sie auf so vieles verzichten, was das Jüdisch-Sein ausmachte. Wie sollte sie am Hof des persischen Königs die jüdischen Essensvorschriften und das Sabbatgebot einhalten, ohne aufzufallen? Wie konnte sie als Jüdin unverheiratet sein und dann noch mit einem Nichtjuden ins Bett steigen? Das war ein klarer Verstoß gegen Gottes Gebot (5Mos. 7,3). Damit war für jeden Juden die rote Linie überschritten. Vergleicht man Esther mit anderen Personen aus dem jüdischen Volk, die zu jener Zeit lebten, schneidet sie nicht gut ab.

Nehmen wir zum Beispiel Daniel. Er wollte sich unter keinen Umständen mit dem Essen an der Tafel des Königs verunreinigen (Dan. 1,8). Esther schien sich darum nicht gekümmert zu haben.

Oder denken wir an Esra und Nehemia. Die beiden Männer kämpften verzweifelt in ihrem Volk gegen die Mischehen mit Nichtjuden, und sie bestanden sogar auf Scheidung dieser Ehen (Esr. 9–10). Esther dagegen verbrachte unverheiratet mit einem Heiden eine Nacht. Die genannten Männer schienen dagegen bereit zu sein, eher den Tod zu riskieren, als ihren Gehorsam gegenüber Gott zu gefährden. Esther aber riskierte, ihren jüdischen Glauben zu verlieren.

Natürlich kann man versuchen, Esthers Verhalten zu entschuldigen. Hatte sie denn realistisch eine andere Wahl als mitzumachen? Ihr Vormund Mordechai hatte es doch empfohlen? Und wie sollte sie denn in diesem machtbesessenen Umfeld überleben, wenn sie sich nicht anpasste? Ja, Esther war das Opfer eines Despoten und seiner Umgebung.

Aber dagegen könnte man einwenden: Warum rebellierte sie nicht? Warum ließ sie es einfach geschehen? Warum schwieg sie? Warum leistete sie keinen Widerstand? Sie wirkt eher passiv. Sie scheint nicht einfach nur ein Opfer gewesen zu sein. Nein, sie machte falsche Kompromisse mit ihrem Glauben.

Bevor man jetzt mit Esther hart ins Gericht geht, sollte man bedenken: An keiner Stelle verrät die Bibel die Gedanken Esthers. War sie mit ihrer Ehe mit König Ahasveros einverstanden? Fragte sie sich, wie Gott so etwas Schreckliches mit ihr geschehen lassen konnte? Freute sie sich über diese Gelegenheit, zu Reichtum und Ehre zu kommen? Hatte sie ein schlechtes Gewissen? Auf alle diese Fragen gibt das Wort Gottes keine Antworten. Darum ist es praktisch unmöglich, Esthers Verhalten als moralisches Vorbild zu bewerten.

Stattdessen beschreibt das Buch Esther einfach, wie es war. Und so gilt beides: Esther war traumatisiert, aber sie war auch kompromissbereit. Ist das nicht häufig eine passende Beschreibung für unser Leben in dieser Welt, die seit dem Sündenfall nicht mehr das ist, was sie sein sollte? Auch wir sind heute eingeschüchtert und kompromissbereit. Die Bibel lobt hier nicht menschliches Fehlverhalten. Esther ist hier keine Heldin. Die Geschichte zeigt uns vielmehr, wie Gott sich trotz dieser Fehler zu ihr verhielt. Er gebrauchte Esthers fragwürdiges Verhalten, um daraus etwas Gutes zu machen, denn die Geschichte Esthers ist hier nicht zu Ende. Zum Schluss des Buches wird klar: Weil Esther Königin war, konnte sie eingreifen und die Vernichtung der Juden verhindern. Aber Königin wurde sie aufgrund ihrer Kompromisse.

Gottes souveränes Handeln mit Esthers fragwürdigen Kompromissen sind in einem gewissen Sinn auch für uns eine hilfreiche Nachricht: Denn wie oft sind wir wie Esther bereit, Kompromisse einzugehen, weil wir nicht bereit waren, die Konsequenzen für das Richtige zu tragen? Wie oft haben wir uns selbst eingeredet, dass wir keine andere Wahl haben? Wie oft haben wir uns entschieden, uns dem kulturellen Druck anzupassen, um dazuzugehören? Die hilfreiche Nachricht der Heiligen Schrift lautet nicht, dass es Gott egal ist, welche Entscheidungen wir treffen. Die hilfreiche Nachricht der Bibel lautet, dass es keine Fehlentscheidungen gibt, aus denen Gott nicht etwas Gutes machen kann. Falsche Entscheidungen werden deshalb nicht zu guten Entscheidungen. Gottes souveränes Handeln ist auch keine Rechtfertigung für unsere Fehler der Vergangenheit. Gottes souveränes Handeln darf uns aber zuversichtlich machen, dass Gott auch auf krummen Linien gerade schreibt und dass er selbst aus unseren Fehlern etwas Gutes machen kann.

2. Zaghafte Entscheidungen (Est. 4)

Fünf Jahre waren seit ihrer Einsetzung als Königin vergangen. Der König hatte sich durch seinen engsten Berater dazu hinreißen lassen, die Vernichtung des jüdischen Volkes zu beschließen (Est. 3). Nun prallten Esthers zwei Identitäten erneut aufeinander. Wie würde sie sich dieses Mal verhalten?

Zunächst schien sie von diesem vernichtenden Beschluss gar nichts mitbekommen zu haben. Während bei den Juden Trauer herrschte (Est. 4,3), war Esther ahnungslos, was ihr eigener Mann beschlossen hatte. Sie musste erst in Erfahrung bringen, warum sich Mordechai in Sack und Asche kleidete und den Hoffrieden störte (Est. 4,5). Es war Mordechai, der sie über das neue Gesetz in Kenntnis setzte, das ihre Vernichtung besiegelte. Er forderte sie auf, ihre Beziehung zum König zu nutzen, um sich für das jüdische Volk einzusetzen.

Damit hatte Esther ein Problem. Denn um diese Anweisung zu erfüllen, musste sie ungefragt beim König erscheinen. Darauf stand die Todesstrafe. Niemandem war es erlaubt, ungefragt vor den König zu treten, es sei denn, der König streckte sein Zepter nach dieser Person aus (Est. 4,11). Das persische Recht war in diesen Dingen unerbittlich. Ein König musste Privatsphäre und Schutz haben. Allerdings hatte der König schon 30 Tage lang Esther nicht rufen lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie beim König nicht erwünscht war, war hoch.

Aber etwas Anderes war entscheidender. Wenn Esther zum König ging, um zugunsten ihres Volkes zu appellieren, musste sie offenbaren, dass sie Jüdin war. So stand sie vor der Frage: Jüdin oder Perserin? Wer bin ich eigentlich? Die Überlebenschancen standen nicht gut: Esther war klar, wie der König auf Frauen reagiert hatte, die ihn nicht uneingeschränkt respektierten. Sie wusste, dass er eine sehr kurze Zündschnur hatte. Sie hatte dem König etwas verheimlicht. Nichts deutete darauf hin, dass ein ungebetenes Betreten des Thronsaals einen guten Ausgang nehmen werde.

Das alles teilte sie Mordechai mit, möglicherweise verbunden mit der Hoffnung, Mordechai möge seine Bitte noch einmal überdenken. Aber Mordechai wollte davon nichts wissen. Er stellte ihr gegenüber klar: Denke nicht in deinem Herzen, dass du vor allen Juden entkommen würdest, weil du im Haus des Königs bist! Denn wenn du jetzt schweigst, so wird von einer anderen Seite her Befreiung und Rettung für die Juden kommen, du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen. Und wer weiß, ob du nicht gerade wegen einer Zeit wie dieser zum Königtum gekommen bist?(Est. 4,13.14).

Mordechai führte ihr ihre Alternative vor Augen: Du wirst möglicherweise sterben, wenn du zum König gehst, aber du wirst garantiert nicht zum Volk Gottes gehören, wenn du jetzt nicht handelst. Die Situation verlangte, dass Esther eine Entscheidung traf, eine Entscheidung darüber, wer sie wirklich war: Jüdin oder Perserin. Ihr Volk zu retten würde heißen, auch ihre eigene Identität preiszugeben. Sie würde zugeben müssen, dass sie nicht so gelebt hatte, wie eine fromme Jüdin zu leben verpflichtet war. Und sie würde damit kundmachen, dass auch sie unter dem Urteil stand, das beschlossen worden war, nämlich alle Juden zu töten.

Solange Esther den Eindruck erweckte, eine Perserin zu sein, wurde sie von ihren Umständen kontrolliert. Sie war inaktiv, sie initiierte keine Aktionen, sondern folgte dem Weg des geringsten Widerstands. Aber dann kam der Moment, in dem sie einer Entscheidung nicht ausweichen konnte: Identifiziere ich mich mit dem Volk Gottes oder nicht? Zum ersten Mal ließ Esther sich nicht nur passiv im Strom der persischen Kultur treiben. Jetzt war sie bereit, gleichsam flussaufwärts zu schwimmen. Sie fasste den Entschluss, das Richtige zu tun. Sie akzeptierte nicht mehr nur das, was Mordechai ihr gesagt hatte, sondern sie ergriff zum ersten Mal die Initiative und sagte Mordechai, was er tun solle: So geh hin, versammle alle Juden, die in Susa anwesend sind, und fastet für mich, drei Tage lang bei Tag und Nacht, esst und trinkt nicht. Auch ich will mit meinen Mägden so fasten, und dann will ich zum König hineingehen, obgleich es nicht nach dem Gesetz ist. Komme ich um, so komme ich um!(Est. 4,16).

Damit verwandelte Esther sich von einer schönen jungen Frau mit einem angepassten, schwachen Charakter zu einer tapferen Frau. Es war eine mutige Entscheidung, auch wenn es zaghaft klingt. Was hatte ihr bei dieser Entscheidung geholfen? Sie hatte keine Stimme vom Himmel gehört. Sie hatte keinen brennenden Busch gesehen. Sie hatte keinerlei Zeichen und Wunder erlebt. Und sie wusste auch nicht, wie alles ausgehen würde und ob sie den vor ihr nun eingeschlagenen Pfad überleben würde. Was brachte sie also zu dieser mutigen Entscheidung? Es war nicht das Wissen darüber, wie Gott handeln würde, sondern das Vertrauen, dass Gott handeln würde, wenn sie im Glauben handelt. Gott würde wirken, und zwar unabhängig davon, wie sich Esther entscheiden würde. Das hatte Mordechai angedeutet, als er sagte, dass dann die Rettung von einem anderen Ort kommen würde. Die für Esther entscheidende Frage lautete, ob sie sich Gott zur Verfügung stellt und ob sie bereit ist, das Richtige im Vertrauen auf Gott zu tun. Sie wusste, was Gott von ihr verlangte. Nun konnte sie keine Kompromisse mehr eingehen. Aber sie ging diesen Weg, ohne eine ausdrückliche Zusage Gottes, sie zu beschützen und auch ohne eine Verheißung, dass ihre Mission erfolgreich enden würde. Sie wusste: Sie war nicht für das Ergebnis verantwortlich, sondern dafür, die richtige Entscheidung zu treffen.

Kennen wir solche Esther-Momente? Situationen, in denen wir uns entscheiden müssen, wer wir sind: Nachfolger Gottes oder Kinder dieser Zeit? Dann stehen wir vor nicht leichten Entscheidungen. Manchmal sind wir eher zögerlich als mutig bei der Beantwortung dieser Frage. Es scheint menschlich zu sein, dass wir manchmal nur dann das Richtige tun, wenn es allzu schmerzhaft wird, weiterhin das Falsche zu tun. Entscheidend ist dann nicht das Wissen, wie die Sache ausgehen wird, sondern das Vertrauen, dass Gott in seiner Souveränität am Werk ist. Wir müssen dann nicht Gottes geheime Pläne kennen, sondern uns an Gottes geoffenbarten Willen halten. Tapfer, wenn auch voller Zaghaftigkeit, dürfen wir dann vertrauen, dass der allmächtige Gott die Situation in seiner Hand hält. Denn vielleicht hat Gott uns gerade mit dieser Absicht genau dorthin gestellt, wo wir uns im Moment befinden.

3. Planerische Überlegungen (Est. 5 und 7)

Esthers Entscheidung, sich mit dem Volk Gottes zu identifizieren, war die Weichenstellung für ihre weiteren Handlungen. Während die Königin Vasti ihr Leben riskierte, als sie sich weigerte, vor dem König zu erscheinen, riskierte Esther ihr Leben, als sie es wagte, ungebeten vor den König zu treten. Nachdem Mordechai, die Juden und sie selbst gefastet hatten, konnte sie es wagen. Sie handelte aber nicht naiv, sondern bereitete sich sorgfältig vor. Sie bemühte sich, alles zu tun, um die Gunst des Königs zu gewinnen. Sie zog königliche Gewänder an (Est. 5,1); sie zeigte eine umsichtige Sensibilität, indem sie im Innenhof darauf wartete, dass der König sie bemerkte, bevor sie den Thronsaal betrat (Est. 5,1.2); sie hielt ihre Bitte geschickt zurück, und sie lud den König lediglich zu einem Festessen ein, obwohl der König bereits seine Bereitschaft zur Erfüllung ihrer Wünsche deutlich gemacht hatte (Est. 5,3.4). Esther war in ihrem Glauben mutig, aber sie war gleichzeitig besonnen. Ihr Glaube an Gottes Souveränität schaltete ihre Überlegungen nicht aus. Sie wusste, dass der König ein Genießer war, und so wollte sie ihre Bitte in einem geeigneteren Moment äußern. Als der König und Haman zum Festessen gekommen waren, schien der geeignete Moment da zu sein. Der Wein war serviert, und der König war in großzügiger Stimmung (Est. 5,6).

Als Leser halten wir den Atem an, als Esther das Wort ergreift: Meine Bitte und mein Begehren ist: Habe ich Gnade gefunden vor dem König, und gefällt es dem König, mir meine Bitte zu gewähren und meinen Wunsch zu erfüllen… (Est. 5,7.8). Aber dann folgte lediglich eine Einladung zu einem weiteren Festessen.

Warum hatte Esther diese Gelegenheit vorbeigehen lassen? Hatte der Mut sie verlassen? Hatte sie die Nerven verloren? Es gibt eine bessere Erklärung. Esther bereitete den König auf ihre Bitte vor. Immer mehr verschob sich die Macht von König Ahasveros zur Königin Esther. Bisher war Esther auf Wunsch des Königs zum König gekommen. Anfangs gewann sie seine Gunst, indem sie sein Schlafzimmer betrat. Dann betrat sie den Thronsaal, und gewann weiter seine Gunst und auch die Möglichkeit ihre Bitte zu äußern. Aber inzwischen hatte sich die Situation entscheidend geändert. Nun war es Esther, die Gastgeberin war, und der König sowie Haman hatten auf ihren Wunsch hin ihren Raum betreten. Die Macht verlagerte sich ganz subtil auf Esther. Von nun an war sie diejenige, die die Ereignisse steuerte und die Fäden spann.

Beim zweiten Festessen fragte der König erneut nach ihrem Anliegen. Die Neugierde schien ihn nicht losgelassen zu haben. Nun ließ Esther die Bombe platzen, und sie flehte um ihr Leben (Est. 7,3). Esthers Anliegen war kein leichtes Unterfangen. Ihre Herausforderung bestand darin, Haman zu belasten, aber gleichzeitig den König nicht anzuklagen, der ja dieses Gesetz genehmigt hatte. Sie musste einen Keil zwischen den König und seinen Freund und engsten Berater treiben, ohne den Zorn des Königs auf sich zu ziehen. Sie verband ihr persönliches Schicksal mit dem Schicksal des Volkes, ohne jedoch einen Schuldigen zu benennen. Dann fuhr sie fort: Denn wir sind verkauft, ich und mein Volk, um vertilgt, erschlagen und umgebracht zu werden. Wenn wir nur zu Knechten und Mägden verkauft würden, so wollte ich schweigen; obwohl der Feind nicht imstande wäre, den Schaden des Königs zu ersetzen (Est. 7,4). Das war ein kluger Schachzug. Esther behauptete damit, dass eine Verschwörung gegen den König im Gange sei. Jemand versuche, dem König die Macht zu entreißen. Sie setzte weiter nach: Als Sklaven verkauft zu werden, würde ihre Bitte nicht rechtfertigen, denn schließlich sollte der König ja nicht gestört werden. Wie Haman mit dem Wohl des Königs argumentiert hatte (Est. 3,8.9), so argumentierte auch Esther mit den möglichen Nachteilen für den König. Ihr Plan ging auf: Der Zorn des Königs war geweckt, und ein Schuldiger musste her (Est. 7,5): Die Tage Hamans, des Feindes des Volkes Gottes, waren gezählt.

Esther hatte ihren Plan sorgfältig durchdacht und klug umgesetzt, aber inmitten all ihrer Bemühungen und Gedanken gab es etwas Größeres, das den König einlenken ließ. Esthers Erfolg war eindeutig nicht nur das Ergebnis ihrer listigen Überlegungen. Viele Ereignisse hatte sie gar nicht in der Hand. Die vielen „Zufälle“ in Kapitel 6, die im ersten Teil der Serie aufgelistet worden waren, zeigen Gottes Souveränität in Perfektion: Gott ist am Werk, und er leitet mit seiner unsichtbaren Hand die Gedanken und Pläne Esthers gemäß seinen größeren Absichten.

Wie hängen Gottes Souveränität und das menschliche Handeln zusammen? Die Untersuchung der Person Esthers lässt sich in drei Schlussfolgerungen zusammenfassen:

Gottes Souveränität schenkt uns Hoffnung, dass Kleinglauben und Fehlentscheidungen in der Vergangenheit nicht das letzte Wort über unser Leben haben. Natürlich dürfen wir unsere falsche Kompromissbereitschaft nicht mit Gottes Souveränität rechtfertigen. Aber wir dürfen die Zuversicht haben, dass Gott selbst unsere falschen Wege zu einem guten Abschluss führen kann.

Gottes Souveränität gibt uns Mut, in schwierigen Zeiten Glaubensentscheidungen zu treffen, und zwar ohne dass wir wissen, ob wir am Ende damit Erfolg haben oder nicht. Wir müssen nicht nach Gottes verborgenem Willen suchen, sondern dürfen seinem geoffenbarten Willen folgen.

Gottes Souveränität stellt uns in die Verantwortung, in Weisheit vorzugehen und kluge Pläne zu schmieden und bedachte Schritte zu gehen.