Carl Trueman: Der Siegeszug des modernen Selbst

Carl Trueman: Der Siegeszug des modernen Selbst

„Die Ursprünge dieses Buches liegen in meiner Neugierde. Ich wollte wissen, wie es sein kann, dass folgende Aussage heute stimmig erscheint: Ich bin eine Frau, die im Körper eines Mannes gefangen ist. Mein Großvater starb vor weniger als 30 Jahren, im Jahr 1994. Ich habe wenig Zweifel daran, dass er diesen Satz, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre, als Unsinn abgetan hätte. Heute betrachten viele diese Aussage nicht nur als sinnvoll, sondern als so bedeutsam, dass man als dumm, unmoralisch oder Träger einer irrationalen Phobie dasteht, wenn man sie in irgendeiner Weise hinterfragt oder ablehnt. Dies betrifft nicht nur Studenten, die Hochschulseminare über die Queer-Theorie oder den französischen Poststrukturalismus besucht haben, sondern ganz normale Menschen. […]

Kurz gesagt: Um vom durchschnittlichen Denken der Welt meines Großvaters in die Welt von heute zu gelangen, waren allerlei gravierende gedankliche Verschiebungen nötig. Die Geschichte der Verschiebungen – oder besser gesagt ihrer Hintergründe – möchte ich in den folgenden Kapiteln darlegen.

Zentraler Punkt des Buches ist folgende Überzeugung: Die sogenannte sexuelle Revolution der letzten sechzig Jahre […] kann erst dann richtig verstanden werden, wenn man sie im Kontext der umfassenden Veränderungen dessen betrachtet, wie die Gesellschaft den Menschen sieht. Die sexuelle Revolution ist sowohl Symptom als auch Ursache für die Kultur, die uns heute überall umgibt, von den Sitcoms bis hin zum Parlament. Kurz gesagt ist die sexuelle Revolution einfach ein Ausdruck der größeren Revolution des „Selbst“, die im Westen stattgefunden hat. Erst wenn wir diesen größeren Kontext erkennen, sind wir in der Lage, die Dynamik der Sexualpolitik, die aktuell unsere Kultur beherrscht, wirklich zu begreifen.“ (S. 25-26)

Mit diesen Worten beginnt der britische Historiker Carl Trueman sein im Jahr 2020 veröffentlichtes Buch Der Siegeszug des modernen Selbst.[1] Es ist dem Verlag Verbum Medien zu verdanken, dass seit einigen Wochen eine deutsche Ausgabe dieses Buches vorliegt. Übersetzung und Satz sind hervorragend geraten.

Das Werk bildet auch eine wichtige Grundlage für den Artikel Das neue Selbst und die Antwort des Christen von Hanniel Strebel, dessen erster Teil in diesem Heft abgedruckt ist. In seinem Geleitwort schreibt Ron Kubsch, Lektor und Herausgeber der deutschen Ausgabe (S. 12-14):

„Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen … und noch erhält“, erklärte Martin Luther 1529 in seinem Kleinen Katechismus.[2]

Für den Reformator war es eine Selbstverständlichkeit, dass jeder Mensch seinem Schöpfer und Erhalter gehört und diesem lebendigen Gott Dank, Lob, Dienst und Gehorsam schuldet. Der deutsche Theologe Wilhelm Lütgert sprach 1934 noch von einem „Kreaturgefühl“, das allen Menschen mit ihrer Gottebenbildlichkeit eingeschrieben sei. Der Mensch wisse darum, dass er sich nicht selbst geschaffen hat, und frage nach dem Woher und Wohin.[3]

Im 21. Jahrhundert wollen die meisten Menschen im Westen so ein Selbstverständnis weder nachempfinden noch mittragen. Carl Trueman zeigt in seinem Buch Der Siegeszug des modernen Selbst, dass wir in einer „entschöpflichten“ (engl. decreated) und „entsakralisierten“ (engl. desacralized) Welt leben. Mit Rückgriff auf Untersuchungen von Charles Taylor, Philip Rieff und Alasdair MacIntyre zeichnet er kenntnisreich die Entwicklung nach, die zum „modernen Selbst“ geführt hat. Die Fragen, die er stellt, sind von Gewicht und aktuell: Warum haben wir jenen metaphysischen Rückbezug verloren, der der menschlichen Identität und Moral über Jahrhunderte hinweg den nötigen Rückhaltgegeben hat, um Festigkeit und Bedeutung zu entwickeln? Wie ist es dazu gekommen, dass die stabile menschliche Natur sich verflüssigt hat und nun mehr und mehr verdampft? Woher stammt das Konzept eines Selbst, dass sich vor allem als psychologische und modellierbare Größe begreift? Woran liegt es, dass Sexualität – ja eigentlich eine zutiefst persönliche Angelegenheit – heute ein bemerkenswert öffentliches und machtpolitisches Thema geworden ist? Warum erscheint der Transgenderismus so vielen Leuten plausibel und unterstützenswert?

Der Historiker Carl Trueman geht in seiner Untersuchung zum „modernen Selbst“ diesen Fragen und den zugrundeliegenden geistesgeschichtlichen Entwicklungen in einer Weise nach, die erkennen lässt, dass er verstehen möchte, was geschehen ist. Der Versuchung, vorschnelle oder polemische Kommentare und Antworten zu geben, widersteht er erfolgreich und liefert somit insbesondere christlichen Lesern einen nüchternen und zugleich erhellenden Beitrag zur Standortbestimmung. Die Kirchen brauchen dringend „ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis der modernen und postmodernen Gesamtlage“. Die spätmoderne Denkweise ist nämlich das Wasser, „in dem wir schwimmen, die Luft, die wir atmen“, wie Rod Dreher in seinem Vorwort schreibt. Wir können uns dem Einfluss dieser Kultur nicht nur nicht entziehen – allzu oft sind wir geneigte Teilhaber und Produzenten ihrer Lebensart.

Wenn wir das Wesen der sexuellen Revolution, die uns seit Jahrzehnten begleitet, tiefgründiger verstehen möchten, müssen wir uns mit ihren Kernursachen vertraut machen. Sie ist nach Trueman Ausdruck einer größeren Revolution des Selbst. Wer das nicht realisiert, wird die Debatten rund um die Ansprüche der LGBTQ+-Bewegung nur oberflächlich erfassen und ist der Wucht dieser kulturellen Umwälzungen, die wir derzeit durchlaufen und die uns noch bevorstehen, nicht gewachsen. Wir sind also herausgefordert, tiefer zu graben. Das ist nicht immer einfach, hilft uns aber dabei, in dieser hochkomplexen Kultur im Glauben zu leben. Wir können so auch lernen, der Welt die Botschaft des christlichen Glaubens auf eine Weise zu bezeugen, die deutlicher werden lässt, dass wir unseren Schöpfer und Erlöser und seine Geschöpfe lieben. […]

Viele Gelehrte, die das neue Selbstverständnis des Menschen angestoßen, begründet oder entfaltet haben, waren im deutschen Sprachraum beheimatet – denken wir an Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse. Carl Trueman hilft uns, sie und ihren Einfluss auf die gesamte westliche Kultur besser zu verstehen und zu werten. Es ist unser Wunsch, dass diese Ausgabe nun viele deutschsprachige Leser darin unterstützt, die unübersichtliche Welt, in der sie leben, besser zu begreifen, um auf die intellektuellen, kulturellen und geistlichen Umbrüche angemessen reagieren zu können.

Carl Trueman, Der Siegeszug des modernen Selbst, Bad Oeynhausen [Verbum Medien] 2022, Hardcover 526 Seiten, € 26,90.

ISBN: 978-3-98665-022-3


[1] Der englische Titel lautet: The Rise and Triumph of the Modern Self. Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution. Es erschien im Jahr 2020 bei Crossway (Wheaton, Ill., USA).

[2] Luther, Martin: Kleiner Katechismus, II, 2, in: BSLK, 1992, S. 510–511, sprachlich leicht modernisiert.

[3] Vgl. Lütgert, Wilhelm: Schöpfung und Offenbarung: Eine Theologie des ersten Artikels, 2. Aufl., Gießen u. Basel [Brunnen] 1984, S. 53–95, bes. S. 70–76.