Die nachstehenden Ausführungen wurden erstmals und in ausführlicherer Form in folgendem Buch veröffentlicht: Rudolf Möckel / Bernhard Kaiser, Vor 1950 Jahren in Jerusalem. Die erste Gemeinde, Dillenburg 1999.
Biblische Lehre hat einen hohen Stellenwert in der Bibel. Tatsächlich kommt ihr die oberste Priorität für das Leben und den Aufbau der Gemeinde zu. Schon die Profilbeschreibung der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem macht das unübersehbar deutlich: Dort wird das „Bleiben in der Lehre der Apostel“ als erstes und wichtigstes Kennzeichen der Gemeinde genannt (Apg 2,42). Auch die anderen Bücher des Neuen Testamentes bestätigen diesen Befund: Überall rangiert die biblische Lehre unbestritten an erster Stelle.
An den Gemeindeleiter Timotheus zum Beispiel schreibt der Apostel Paulus: Fahre fort mit Vorlesen, mit Ermahnen, mit Lehren, bis ich komme. … Hab acht auf dich selbst und auf die Lehre; beharre in diesen Stücken! Denn wenn du das tust, wirst du dich selbst retten und die, die dich hören (1. Tim. 4,13.16). Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre (2. Tim. 4,2). Den Pastoren und Ältesten schreibt der Apostel ins Stammbuch (Tit 1,9): Ein Bischof halte sich an das Wort der Lehre, das gewiß ist, damit er die Kraft habe, zu ermahnen mit der heilsamen Lehre und zurechtzuweisen, die widersprechen. Und der Apostel Johannes ergänzt (2. Joh 9): Wer darüber hinausgeht und bleibt nicht in der Lehre Christi, der hat Gott nicht; wer in dieser Lehre bleibt, der hat den Vater und den Sohn.
Es wird deutlich: Biblische Lehre hat oberste Priorität für das Leben und den Aufbau der Gemeinde. – Warum ist das so? Warum hat gerade die biblische Lehre diesen Ehrenplatz? – Die Bibel gibt die Antwort (2. Tim 3,16): Denn alle Schrift ist von Gott eingegeben, und nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.
Biblische Lehre (so wie sie durch das Wort Gottes inhaltlich vorgegeben ist) hat vier wichtige und unersetzliche Wirkungen: Sie lehrt die Gemeinde, weist sie zurecht, bessert sie und erzieht sie in der Gerechtigkeit. Mit andern Worten: Biblische Lehre macht die Gemeinde geistlich klar und stabil, lässt sie geistlich wachsen und gibt ihr ein hohes Maß an geistlicher Vollmacht. Sie allein und niemand sonst bringt das zustande. Biblische Lehre ist darum durch nichts zu ersetzen. Sie ist überlebenswichtig für jede Gemeinde.
Biblische Lehre macht ernst mit der Tatsache, dass die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite das verbindliche und unfehlbare Wort Gottes ist. Biblische Lehre präsentiert die ganze Wahrheit der Bibel mit ihren vielen Aspekten. Biblische Lehre ist dabei alles andere als eine abgehobene akademische Pflichtübung. Sie zielt immer auf praktische Konsequenzen in der Gemeinde. Sie beeinflusst, verändert und trägt das Leben der Gemeinde in entscheidender Weise: So hat sie zum Beispiel entscheidenden Anteil am Zustandekommen und am Erhalt echter Gemeinschaft und geistlicher Einheit in der Gemeinde. Das galt damals, in der Zeit der Apostel, und das gilt auch heute unverändert.
Ein Blick auf die erste Gemeinde in Jerusalem macht deutlich, worum es geht: Die Apostelgeschichte berichtet, dass dort die Christen der ersten Gemeinde täglich einmütig beieinander waren (Apg 2,46). Sie berichtet weiter, dass die Menge der Gläubigen ein Herz und eine Seele war (Apg 4,32). Damit ist klar: Die Gemeinschaft, die die Christen der ersten Gemeinde lebten, war eine verbindliche Gemeinschaft, keine unverbindliche. Und diese verbindliche Gemeinschaft war so hervorstechend, so auffallend, dass sie zum Kennzeichen der Gemeinde, zu ihrem Profilmerkmal wurde.
Natürlich stellt sich sofort die Frage: Woher kam diese großartige Gemeinschaft? Woher kam diese kraftvolle Einheit und Verbindlichkeit, nach der so viele Christen heute sich sehnen?
Man kommt der Sache auf die Spur, wenn man sich die Gemeinde anschaut, die sozusagen das Gegenstück zu der ersten Gemeinde in Jerusalem war: Die Gemeinde in Korinth. Dort herrschten ganz andere Verhältnisse: Die Gemeinde in Korinth war ganz und gar nicht täglich einmütig beieinander. Und die Christen dort waren auch keineswegs ein Herz und eine Seele. Es gab keine verbindliche Gemeinschaft und schon gar keine kraftvolle geistliche 19 Einheit. Im Gegenteil: Die Gemeinde in Korinth war eine Gemeinde voller Cliquen und rivalisierender Grüppchen. Und die waren sich spinnefeind!
Der Apostel Paulus schreibt an sie (1. Kor 1,11-12): Denn es ist mir bekannt geworden über euch, liebe Brüder, durch die Leute der Chloe, dass Streit unter euch ist. Ich meine aber dies, dass der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, der andere: Ich gehöre zu Apollos, der dritte: Ich zu Kephas, der vierte: Ich zu Christus.
Zwei völlig verschiedene Gemeinden: Die eine sehr verbindlich, die andere sehr unverbindlich. Die eine voller Gemeinschaft, die andere voller Cliquen. Die eine geprägt von geistlicher Einheit, die andere geprägt von Streit. Der Grund für diesen krassen Gegensatz ist dieser: Die Erste Gemeinde in Jerusalem blieb verbindlich in der Lehre der Apostel (Apg 2,42). Und darum war auch ihre Gemeinschaft verbindlich. Die Gemeinde in Korinth blieb nicht verbindlich in der Lehre der Apostel. Und darum war auch ihre Gemeinschaft nicht verbindlich, sondern von rivalisierenden Gruppen geprägt.
Paulus hat sich redlich bemüht um die Gemeinde in Korinth. Rund eineinhalb Jahre (Apg 18,11) hat er dort gewohnt und die Gemeinde mit biblischer Lehre versorgt. Aber es gab immer wieder Probleme. Die Christen in Korinth weigerten sich nämlich, in der Lehre des Apostels zu bleiben. Sie holten eigene Redner herbei, die Paulus den Rang als Apostel streitig machten und die Gemeinde lehrmäßig auf Abwege führten (2. Kor. 11,1-15). Und Paulus selbst griffen sie massiv persönlich an: Seine Briefe, sagten sie, wiegen schwer und sind stark. Aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach und seine Rede kläglich (2. Kor 10,10).
Tatsache ist also: Die Gemeinde in Korinth weigerte sich, in der Lehre der Apostel zu bleiben. Und das hatte Auswirkungen: Die Gemeinschaft zerfiel und wurde immer kraftloser. Rangelnde Cliquen prägten den Alltag. Tragfähige Gemeinschaft konnte gar nicht erst aufkommen. Echte geistliche Einheit wurde unmöglich gemacht. In Korinth bewahrheitete sich das, was Jesus im Hohepriesterlichen Gebet (Joh 17,17-22) unmissverständlich angekündigt hat: Die Einheit der Gemeinde ist nicht ohne die Wahrheit zu haben: Heilige sie in der Wahrheit; betet Jesus. Dein Wort ist die Wahrheit. Und er fährt fort: Ich bitte dich, dass sie alle eins seien (Joh 17,17.21). Die 20 Botschaft ist klar: Ohne Heiligung in der Wahrheit, ohne die Unterordnung unter die Wahrheit gibt es keine Einheit der Gemeinde. Ohne ein verbindliches Bleiben in der biblischen Wahrheit (Lehre) gibt es keine verbindliche Gemeinschaft. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben!
Mit anderen Worten: Wo die ganze Wahrheit Gottes in der Gemeinde gelehrt und vertreten wird, da entsteht auch eine verbindliche tragfähige Gemeinschaft. Wo die ganze Wahrheit Gottes gelehrt wird, da kann geistliche Einheit zustande kommen. Wo aber die ganze Wahrheit Gottes nicht gelehrt wird, da entsteht auch keine verbindliche Gemeinschaft und keine geistliche Einheit, sondern es kommt zu rivalisierenden Cliquen, also zu korinthischen Verhältnissen. Das liegt daran, dass das Wort Gottes, wo es ganz gelehrt wird, eine überaus klärende und reinigende und damit gemeinschaftsstiftende Wirkung hat, die bis tief in die Herzen hineinreicht. Im Hebräerbrief 4,12 heißt es:
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens
Hebräer 4,12
Es gilt also: Wo die ganze Wahrheit Gottes gelehrt wird, klären sich Beziehungen. Es kommt Klarheit und Licht in „trübe Beziehungskisten“. Es entsteht neue, verbindliche Gemeinschaft. Es entsteht auch geistliche Einheit. – Wo die ganze Wahrheit Gottes aber nicht gelehrt, sondern verschwiegen oder ausgehebelt wird, geschieht all das nicht! Es nisten sich menschliche Selbstsucht, Ehrgeiz und handfeste Sünde ein. Und dann geht die Gemeinschaft kaputt, und daran ändert auch alle gutgemeinte Beziehungsarbeit nichts mehr! Wenn in einer Gemeinde korinthische Verhältnisse herrschen, Cliquenbildung und Zerfall von Gemeinschaft, liegt das sehr wahrscheinlich daran, dass in dieser Gemeinde entweder nicht die ganze Wahrheit Gottes gelehrt wird oder dass Menschen in der Gemeinde sich weigern, sich der Wahrheit Gottes unterzuordnen.
Verbindliche Gemeinschaft und geistliche Einheit in Gemeinden sind also kein Zufall: Sie kommen immer dann zustande, wenn eine Gemeinde konsequent in der biblischen Lehre bleibt.