„Absalom, mein Sohn Absalom …!“

„Absalom, mein Sohn Absalom …!“

Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Ach dass ich doch an deiner Stelle gestorben wäre! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!“ (2Sam. 18,33 [19,1]). Immer wieder brach dieser herzzerreißende Schrei aus David heraus (2Sam. 19,5 [4]). Der darin sich ausdrückende Schmerz bezeichnet das Ende einer Vater-Sohn-Beziehung. David hatte gerade die Todesnachricht seines Sohnes vernommen.

Er erhielt diese Nachricht, nachdem er wenige Augenblicke vorher gehört hatte, dass seine Truppen den Sieg über das gegnerische Heer errungen hatten. Natürlich wäre dieser Triumph ein Grund zum Jubilieren gewesen. Kurz zuvor hatte David noch um einen Sieg gebetet. Dieses Gebet ist uns überliefert. Es ist Psalm 3. Aber nun wurde die Siegesmeldung von der Mitteilung erstickt, dass sein Sohn Absalom umgekommen war. Der militärische Erfolg war für ihn schlagartig uninteressant geworden. Denn der Krieg, in dem er gesiegt hatte, war auch ein Familienkrieg. Und in einer solchen Auseinandersetzung, so erfasste David, hatte er eine große Niederlage erlitten.

Was war geschehen? Was waren die Ursachen für Davids notvollen Verzweiflungsschrei? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, wird man mehrere Aspekte unterscheiden müssen. Schauen wir uns zunächst den Ablauf an, der zu diesem Aufschrei führte.

1. Die Ereignisse bis zu diesem Schrei

Die Heilige Schrift berichtet uns über Absalom ausführlich. Nicht zuletzt hebt sie seine blendende Erscheinung hervor: „Vom Kopf bis zu den Füßen war er makellos“ (2Sam. 14,25). Ausdrücklich weist sie auf die beeindruckende Haarpracht des Sohnes Davids hin (2Sam. 14,26).

Absalom hatte eine Schwester. Sie hieß Tamar. Vermutlich sah sie ebenfalls sehr attraktiv aus. Auf jeden Fall verliebte sich ihr Halbbruder Amnon in sie. Sein Freund Jonadab gab ihm den Rat, sich krank zu stellen und es auf diese Weise hinzubekommen, dass er mit Tamar allein sei. Amnon folgte seinem Rat. Es gelang ihm, alles so zu arrangieren, dass er sie ohne von einem Dritten beobachtet zu werden, ergreifen und vergewaltigen konnte (2Sam. 13,1-14).

Absalom nahm sich daraufhin seiner missbrauchten und tiefbeschämten Schwester an. Sie fand in seinem Haus Unterkunft. Dort verbrachte sie den Rest ihres Lebens (2Sam. 13,20). Nach zwei Jahren, in denen Absaloms Hass auf Amnon immer mehr anwuchs, übte er Rache für das, was seiner Schwester angetan wurde, und ließ Amnon umbringen (2Sam. 13,21-33).

Daraufhin musste Absalom die Flucht ergreifen. Er entschied sich, nach Gesur zu ziehen. Gesur war ein kleines aramäisches Fürstentum an der nordöstlichen Grenze Israels. Dort regierte sein Großvater mütterlicherseits (2Sam. 13,38). Nach drei Jahren durfte er nach Jerusalem zurückkehren. Aber erst nach weiteren zwei Jahren kam es zu einer kurzen Begegnung mit David. Nach dieser Zusammenkunft begann Absalom gegen seinen Vater Intrigen zu spinnen. Er „stahl die Herzen der Menschen“ (2Sam. 15,6).

Im Lauf der nächsten Jahre gewann er eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft innerhalb der Bevölkerung. Schließlich unternahm er es, seinen Vater vom Thron zu stürzen, und nahm dabei sogar seine Tötung in Kauf.

Zunächst schien die geplante Machtergreifung erfolgreich zu verlaufen. Absalom marschierte mit seinen Truppen in Jerusalem ein. Sein völlig überrumpelter Vater sah keine andere Möglichkeit, als die Flucht zu ergreifen und sich über den Jordan in Sicherheit zu bringen.

Dann kam es im Wald von Ephraim zwischen der Armee Absaloms und den Truppen Davids zur Entscheidungsschlacht. Davids Leute bedrängten ihren vertriebenen König, nicht mit in den Kampf zu ziehen. Er erklärte sich dazu bereit. Allerdings gab er seinen Befehlshabern die ausdrückliche Anweisung: „Schont mir meinen Sohn Absalom!“ (2Sam. 18,5).

Im Lauf der Schlacht verfing sich das Haar Absaloms in den Zweigen einer Terebinthe. Das Maultier, auf dem er ritt, rannte ohne ihn weiter. Absalom war zwar immer noch am Leben, aber er hing wehr- und hilflos zwischen Himmel und Erde. Nachdem Joab, dem Oberbefehlshaber der Truppen Davids, dies zu Ohren gekommen war, eilte er zu ihm und durchbohrte ihn. Anschließend besorgten die Soldaten Joabs dem Absalom den Rest (2Sam. 18,6-16).

Als der Vater die Todesnachricht vernahm, zog er sich überwältigt von Schmerz und Trauer in sein Obergemach zurück: „Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Ach dass ich doch an deiner Stelle gestorben wäre! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn.“

2. Blutsbande

Ohne Frage hatte sich Absalom gegenüber seinem Vater sehr schuldig gemacht. Durch sein verräterisches Verhalten hatte er das Gebot Gottes, Vater und Mutter zu ehren, in der denkbar niederträchtigsten Weise missachtet.

Aber wie treulos und wie heimtückisch auch immer sich Absalom gegenüber seinem Vater verhalten hatte, es gibt wohl kaum Eltern, die sich nicht in die Erschütterung Davids, als er die Todesnachricht vernahm, emotional hineinversetzen können. Eher scheint es so zu sein, dass dieser Schrei Davids sein Echo findet in dem Seufzen und Weinen zahlloser Väter und Mütter, deren Kinder eigenmächtige Wege eingeschlagen haben.

Als Vater oder als Mutter stellt man sich unwillkürlich die Frage: Wie hätte ich in einer vergleichbaren Situation reagiert? Wenn mein Kind sich so verwerflich, so hasserfüllt gegen mich gewendet hätte, wie hätte ich mich verhalten?

In Eltern ist es angelegt, dass sie eine enge Bindung zu ihren Kindern haben. Dass eine solch enge Verbindung zwischen Eltern und Kindern besteht, ist von Gott, dem Schöpfer, so gewollt. Diese Verbundenheit ist nicht nur gut, sie ist für die Entwicklung eines Kindes unverzichtbar. Sie ist gewissermaßen der Schutzraum, in dem die Kinder geborgen heranwachsen können. Je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist diese Nestwärme. Kaum eine noch so perfekt ausgebildete Erzieherin vermag diese Eltern-Kind-Bindung wettzumachen.

In dieser Verbindung liegt allerdings auch etwas Heikles, etwas Problematisches. Denn dadurch fällt es Eltern nicht selten sehr schwer, in ihrem Urteil über ihr eigenes Fleisch und Blut objektiv zu sein. Eltern können kaum tiefer verletzt werden, als wenn man ihre Kinder anklagt oder etwas Negatives über sie äußert, und zwar selbst dann, wenn die Kritik, nüchtern betrachtet, vollkommen berechtigt ist. Im Fall eines Konfliktes, bei dem die eigenen Kinder beteiligt sind, geben Eltern nur allzu leicht ihre ansonsten durchaus vorhandene selbstkritische Haltung auf, um geradezu reflexhaft für die eigenen Kinder Partei zu ergreifen. Dann sind zum Beispiel in der Schule „natürlich“ immer die Lehrer die Schuldigen, während die eigenen Abkömmlinge als die armen Opfer wahrgenommen werden. Ja selbst wenn die eigenen Kinder sich gegenüber ihren Eltern äußerst niederträchtig verhalten, verschwindet diese Verbundenheit nicht ohne Weiteres. Das sehen wir hier an David.

Joab, der Neffe Davids, er war der Sohn von Davids Schwester Zeruja, beurteilte den Konflikt zwischen David und Absalom distanziert. Aus dieser Optik gab es für ihn nur eine einzig sinnvolle Lösung des Problems: Absalom muss über die Klinge springen. Folglich erschien ihm Davids Wunsch, Absalom zu schonen, als dumm, verkehrt, schädlich, kontraproduktiv, ja als verderblich.

Es war dann ausgerechnet Joab, also derjenige, der den am Baum hängenden Absalom abgestochen hatte, der sich als erster zu dem bitter trauernden David in die Oberkammer begab. Dort gab er ihm ohne Umschweife zu verstehen, was er von seinem Grämen und Grübeln halte: Mit seinem alles überlagernden Trauern riskiere er die Unterstützung seiner Truppen (2Sam. 19,1-9).

David vermochte dieser Interpretation der Lage nicht zu widersprechen. Er gab nach und ließ sich von seinen Truppen feiern (2Sam. 19,9 [8]). Allerdings war Davids Einlenken nur äußerlich. Es war auch nur von vorübergehender Art.

Das Verhältnis zu Joab war auch schon seit Jahren getrübt und angespannt. Einerseits bestand zwischen den beiden eine enge Freundschaft, andererseits aber empfand David eine persönliche Abneigung gegenüber Joab. Bereits bei seiner Thronbesteigung, also Jahre vor diesen Ereignissen, hatte er einmal voll Verdruss ausgerufen: „Die Söhne der Zeruja sind mir zu hart. Der Herr vergelte dem, der Böses tut, entsprechend seiner Bosheit“ (2Sam. 3,39). Diese gebrochene Einstellung zu Joab hatte sich nun, nachdem Joab seinen Sohn erstochen hatte, gewiss nicht zum Positiven gewandelt.

Im Gegenteil: David setzte kurze Zeit später Joab als Heerführer ab. Er übertrug den Oberbefehl an Amasa (2Sam. 19,13 [14]). Damit beförderte er denjenigen auf Joabs Posten, der kurz zuvor die Truppen seines Sohnes Absalom befehligt hatte (2Sam. 17,25). Für diese Entscheidung mögen bei David politische Erwägungen ausschlaggebend gewesen sein. Aber Joab selbst hätte man kaum eine größere Kränkung zufügen können, als ausgerechnet dem Parteigänger Absaloms dieses Amt zu übertragen. Joab war nun aber nicht so gestrickt, dass er diese Brüskierung einfach wegsteckte. Kurzerhand räumte er seinen Rivalen aus dem Weg (2Sam. 20,8-10).

Daraufhin schien David zu resignieren: Er setzte ihn wieder über das Heer ein (2Sam. 20,23). Joab war ihm wirklich zu hart. Allerdings vergaß David an nie mehr, was geschehen war. Noch auf dem Sterbebett beauftragte er seinen inthronisierten Sohn Salomo, Joab zu töten. Diese Anweisung ließ Salomo dann umgehend ausführen (1Kön. 2,5.6; 2,28-34).

Die unterschiedlichen Einstellungen zu Absalom, wie wir sie einerseits bei David und andererseits bei Joab wahrnehmen, verdeutlichen, was Blutsbande zwischen Eltern und Kindern ausmachen. Nach dem Sündenfall, durch den alles, was Gott gut geschaffen hatte, auch ins Verkehrte verdreht wurde, können sich diese Blutsbande insofern als tückisch erweisen, als sie Eltern vergessen machen, dass Gott Normen, Werte, Regeln, Maßstäbe gegeben hat, die den Blutsbanden zu ihren Kindern übergeordnet sind. Aber diese enge Verbundenheit wird in dem Schrei Davids angesichts der Todesnachricht offenbar: „Absalom, mein Sohn Absalom …!“

3. Ewige Verlorenheit

Dass David angesichts der Todesnachricht seines Sohnes innerlich zusammenbrach, lag an der schrecklichen Erkenntnis, dass der tiefe Bruch zwischen Vater und Sohn nun nicht mehr zu kitten war.

Aber es trat noch ein weiterer Aspekt hinzu. Dieser war für David vermutlich noch belastender: Absalom war in den Tod gegangen, ohne Frieden mit Gott zu haben. Angesichts des kaltblütigen und in jeder Hinsicht gesetzlosen Verhaltens Absaloms konnte David zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangen als: Absalom ist ewig verloren.

David hatte durch den Geist Gottes zahlreiche Psalmen verfassen dürfen. Darin bezeugt er immer wieder, dass Gott die Gesetzlosen, die Empörer nicht ungestraft davonkommen lässt: Diejenigen, die den Bund Gottes übertreten, werden es büßen (Ps. 9,5-16; 11,5.6; 34,22; 37,10-36 und viele andere).

Als David ausrief, „ach dass ich doch an deiner Stelle gestorben wäre„, mag ihm vor Augen gestanden haben, dass ihm selbst seine Sünden vergeben waren (Ps. 32,1). Er selbst wäre also bereit gewesen, vor das Angesicht Gottes zu treten. Aber Absalom war das eben nicht. Möglicherweise hatte er vor der Todesnachricht öfters im Stillen den Gedanken hinzugefügt: noch nicht. Wenn Absalom noch länger gelebt hätte, vielleicht wäre er noch zu Gott umgekehrt.

Eventuell schoss David auch die Frage durch den Kopf, ob Absalom noch in den letzten Sekunden vor seinem Tod Gott um Vergebung seiner Schuld und Sünden gebeten hatte, als er dort noch lebend an der Terebinthe gehangen hatte. War er vielleicht doch noch während der letzten Augenblicke, in denen er bei Bewusstsein war, umgekehrt, so wie es später dem Verbrecher geschenkt werden sollte, der neben dem Sohn Gottes am Kreuz hing?

Im Blick auf Absalom gibt die Bibel für eine solche Bekehrung in letzter Sekunde allerdings keinen Hinweis. Stattdessen berichtet sie, dass man den am Baum Hängenden nach seiner Tötung in eine Grube (oder: Felsspalte) warf und Steingeröll über ihn kippte. Die Weise, in der das Hebräische die Beisetzung Absaloms schildert, bringt die Würdelosigkeit dieser Handlung zum Ausdruck. Er, der sich bereits zu Lebzeiten ein Denkmal im Königstal hatte errichten lassen, wurde nun verscharrt, entsorgt. (2Sam. 18,17.18).

Nehmen wir einmal an, es hätte eine ordentliche Bestattung gegeben: Was hätte der Prediger am Grab sagen sollen? Ehrlich hätte er nicht den Glauben Absaloms bekunden können. Allenfalls hätte er am Grab das Glaubensbekenntnis des Volkes Gottes allgemein bezeugen können.

Das Entsetzen darüber, wo Absalom die Ewigkeit verbringt, muss David tief aufgewühlt haben, als er ausrief: „Absalom, mein Sohn Absalom …!“

4. Schuldhaftes Versagen in der Erziehung

Aber David war wohl nicht nur wegen seiner familiären Blutsbindung zu Absalom so verzweifelt und auch nicht nur wegen des ewigen Schicksals seines rebellischen Sohnes.

David war sicher auch deswegen so tief getroffen, weil ihm bei der Todesnachricht schlagartig vor Augen trat, wie sehr er sich selbst an seinem Sohn schuldig gemacht hatte. Denn er musste erkennen, dass er weder genug Zeit noch Energie in die Erziehung und Unterweisung Absaloms gesteckt hatte.

In materieller Hinsicht ging es Davids Söhnen wahrlich nicht schlecht. Wir erfahren von Feiern, die sie veranstalteten (2Sam. 13,23-29). Absalom verfügte über das Vermögen, sich Wagen, Pferde und sogar eine kleine Armee zuzulegen (2Sam. 15,1). Äußerlich fehlte es den Kronprinzen an nichts. Trotzdem ist die Familiengeschichte Davids eine einzige große Katastrophe. Warum eigentlich? Was war die Ursache davon?

Zunächst könnte man darauf hinweisen, dass die Kinder Davids so etwas wie ein Familienleben wenig oder überhaupt nicht kennengelernt hatten. David hatte als König mit seinem Reich viel zu tun. Er war häufig unterwegs. Wenn dann einmal einer der seltenen Momente eintrat, in denen David zu Hause war und sich mit seinen Söhnen abgab, wird die Jungen eine Frage beschäftigt haben: Wer gewinnt den Kampf um das Herz des Vaters? In dieser „Patchworkfamilie“ mit den diversen Müttern war genau das ein Riesenproblem, auch für Absalom: Ich erreiche meinen Vater nicht wirklich. Die heranwachsenden Söhne Davids konnten sich nicht wirklich an ihrem Vater orientieren und abarbeiten und dann auch aufrichten.

Verfolgen wir einmal, was die Heilige Schrift über Davids Beziehungen zu den vier ältesten Söhnen sagt.

Amnon

Amnon war der älteste Sohn (2SAm. 3,2). Über ihn berichtet die Bibel lediglich ein einziges Geschehen: Er beging mit seiner Halbschwester Tamar Inzest und wurde daraufhin von Absalom umgebracht. Wenn man die Ereignisse liest, wie es zu dieser Schandtat kam (2Sam. 13,1-14), fragt man sich unwillkürlich, ob David tatsächlich nicht begriffen hatte, dass in seinem Umfeld die sinnliche Begierde eingezogen war. Durchschaute er wirklich nicht, dass Amnons Augen nicht vor Fieber glühten, sondern vor Leidenschaft? Hatte David tatsächlich nicht bemerkt, was Amnon für Tamar empfand? Meinte er ernsthaft, dass es für die „Krankheit“ Amnons eine sinnvolle Therapie war, wenn Tamar ihm ein Essen zubereiten und ihn füttern würde?

Wie auch immer: David willigte in Amnons Wünsche ein. Er beauftragte Tamar, ihrem Halbbruder vor seinen Augen ein Essen zuzubereiten. Als Amnon und Tamar dann alleine waren, hatte Amnon sich nicht mehr unter Kontrolle und vergewaltigte seine Halbschwester. Nachdem er seine Lust befriedigt hatte, jagte er sie weg und schlug die Tür hinter sich zu (2Sam. 13,12-19). Für ihn war damit der Spaß vorbei.

Als David von dem Inzest Amnons hörte, wurde er sehr zornig. Eigentlich heißt es: David wurde sehr wild (2Sam. 13,21).
Zorn, Wut oder sonstige emotionale Aufwallungen sind aber keine Erziehungsmaßnahmen. David zog Amnon nie für seinen Inzest zur Verantwortung. Stattdessen hat es den Anschein, als ob David die ganze Sache möglichst schnell unter den Teppich zu kehren suchte.

Amnon musste sich logischerweise durch diese pflichtvergessene Haltung seines Vaters bestätigt fühlen. Für ihn war damit klar: Es ist also offensichtlich gar nicht so schlimm, was ich mit Tamar gemacht habe…

Eltern, die bei ihrem Kind, das etwas Gesetzloses angerichtet hat, Sünde totschweigen und es stets nur zu beschützen suchen, erweisen ihm keine Liebe. Ein solches Verhalten ist allenfalls eine Karikatur dessen, was die Heilige Schrift meint, wenn sie davon spricht, dass die Liebe eine Menge von Sünden bedeckt (1Petr. 4,8) oder dass die Liebe alles erträgt (1Kor. 13,7). Leider bringen bis zum heutigen Tag auch christliche Eltern in dieser Frage einiges durcheinander.

Die Liebe, von der die Heilige Schrift spricht, ist immer verbunden mit der Wahrheit (1Kor. 13,6). Gott wird jeden Menschen zur Rechenschaft ziehen (1Petr. 4,1-7). Die Liebe, so wie die Heilige Schrift sie verstanden wissen will, hackt zwar nicht auf dem Sünder herum. Aber sie verschließt vor der Sünde niemals die Augen. Sie sucht den, der von einem Fehltritt übereilt worden ist, im Geist der Sanftmut wieder zurechtzubringen (Gal. 6,1-4).

Aus diesem Grund zögert sie nicht, den Betreffenden, wenn es sein muss, auch hart anzupacken (Jak. 5,19.20; Jud. 23; Offb. 3,19). Eltern, die zu den Sünden ihrer Kinder schweigen, verhindern dadurch, dass ihre Kinder Kategorien von Recht und Unrecht lernen. Sie treten das Gebot der Liebe mit Füßen, denn bei diesem Gebot geht es auch darum, dass man den Betreffenden zurechtweist (3Mos. 19,17.18).

Kileab

Von dem nächsten Sohn, dessen Name Kileab oder auch Daniel war (2 SAm. 3,2; 1Chr. 3,1), erfahren wir nichts. Es ist nicht auszuschließen, dass er bereits als Kind starb, ähnlich wie das erste, mit Bathseba von David gezeugte Kind (2Sam. 12,18). Aber das Wort Gottes schweigt darüber.

Absalom

Absalom war der dritte Sohn Davids (2Sam. 3,3; 1Chr. 3,2). Er tritt zum ersten Mal in Erscheinung, als er seine Schwester Tamar nach deren Vergewaltigung in sein Haus aufnahm. Unzweifelhaft erwarteten die beiden Geschwister, dass ihr Vater David wegen Amnons Vergehen durchgreifen werde und das Recht handhaben werde. Aber es geschah nichts. Während dieser Zeit schwoll bei Absalom der Hass gegenüber Amnon an (2Sam. 13,22). Als zwei Jahre vorbei waren, ohne dass von Seiten Davids irgendetwas geschehen war, nahm Absalom die Strafaktion in die eigenen Hände. Er ließ Amnon ermorden (2Sam. 13,28.29).

Für die Frage nach der Beziehung zwischen David und seinem Sohn Absalom sind die drei Begegnungen zwischen den beiden aufschlussreich, von denen die Bibel berichtet.

Die erste Begegnung fand in der Zeit statt, als Tamar im Haus Absaloms wohnte und David zwei Jahre lange nichts im Blick auf Amnon unternahm. Absalom organisierte ein Schafschererfest. Dazu lud er alle seine Geschwister ein. Er bat auch seinen Vater, zu dem Fest zu kommen. Doch David lehnte ab (2Sam. 13,23-27). Eigentlich hatte er auch Vorbehalte, dass seine Söhne dort hingingen. Die offizielle Begründung dafür lautete: „Wir wollen dir nicht zur Last fallen“ (2Sam. 13,25). Daraufhin machte Absalom den Vorschlag, dass allein Amnon kommen möge. Bei diesem Angebot musste David wohl einen kurzen Augenblick gestockt haben: „Warum soll Amnon mit dir gehen?“ (2Sam. 13,26). Aber im Verlauf des weiteren Gesprächs ging dann die Einladung für David in Ordnung. Ja, sämtliche Brüder Absaloms kamen zu dem Fest. Aber David selbst nahm nicht daran teil. Er blieb bei seinem Nein.

Sein Argument, Absalom nicht zur Last fallen zu wollen, erscheint für diese Abfuhr nicht wirklich stichhaltig. Denn bei einem solch großen Fest kommt es nun wirklich auf einen Esser mehr oder weniger nicht an. Eher erscheint der Grund für Davids Nein gewesen zu sein, dass David gegenüber seinen Kindern Nähe vermied und die Distanz suchte.

Um nicht missverstanden zu werden: David liebte seine Kinder. Als ihn die Kunde erreichte, dass Amnon alle seine Kinder umgebracht habe, geriet er in panisches Entsetzen (2Sam. 13,30). Glücklicherweise stellte sich diese Meldung dann als Fehlinformation heraus.

Aber warum weigerte sich David mit so fadenscheinigen Gründen mit seinen Kindern zusammen zu sein? Hatte David ihnen gegenüber etwas zu verbergen? Bestand da namentlich gegenüber Absalom und seiner Schwester eine unsichtbare Mauer?

Bekanntlich hatte David seinen Ehebruch mit Bathseba tief bereut. Er hatte Gott um Vergebung dafür gebeten und Gott hatte sie ihm geschenkt (Ps. 51). Aber hatten seine Kinder diese seine Umkehr mitbekommen? Hatte David gegenüber seinen Kindern deutlich gemacht, dass Gott ihm vergeben hatte? Hatte er überhaupt einmal darüber offen mit ihnen gesprochen? Im Palast kochte die Gerüchteküche ganz sicher, und jeder wusste von der Sache. Wie aber war es in der Familie? Lagen der Ehebruch mit Bathseba und der Mord an Uria zwischen seiner Familie und ihm, weil es nie wirklich thematisiert war?

Die Bibel erzählt nichts über eine offene Aussprache innerhalb der Familie. Aber sie macht deutlich: Bereits bei dem ersten in der Heiligen Schrift berichteten Gespräch zwischen David und Absalom wich David seinem Sohn aus. Auch das an der Tamar begangene Verbrechen sprach David nicht an, obwohl er doch wissen musste, dass sie in Absaloms Haus verblühte.

Nach dem Mord an Amnon ergriff Absalom die Flucht nach Gesur (2Sam. 13,34-39). Während dieser Zeit, so berichtet das Wort Gottes, trauerte David jeden Tag um Absalom. Er sehnte sich danach, seinen Sohn zu sehen (2Sam. 13,37; 14,1). Aber trotz seines Verlangens bekam David es nicht hin, die Initiative zu ergreifen und seinen Sohn zurückholen zu lassen.

Schließlich war es Joab, der dazu die Initiative ergriff. Indem er David mit einer Showeinlage geradezu überrumpelte, stimmte der König der Rückkehr Absaloms zu. (2Sam. 14,1-24).

Normalerweise könnte man nun meinen: Ende gut, alles gut. Aber so einfach lief das zwischen David und seinem Sohn nicht.

Kaum war Absalom in Jerusalem eingetroffen, wurde ihm die Botschaft übermittelt: David will dich nicht sehen (2Sam. 14,24). Wieder erhielt Absalom eine Abfuhr. Wieder wies der Vater seinen Sohn zurück. Zwei weitere Jahre verstrichen, in denen zwischen den beiden Männern Sendepause herrschte und sie sich in dem ja nun nicht gerade weiträumigen Jerusalem konsequent aus dem Weg gingen.

Absalom hatte inzwischen Kinder bekommen, unter anderem eine Tochter. Er gab ihr den Namen Tamar (2Sam. 14,27). Nein, Absalom hatte die Sache mit seiner Schwester noch immer nicht zu den Akten gelegt. Was an ihr verbrochen worden war, beschäftigte ihn nach wie vor sehr. So empfand er die Passivität seines Vaters gegenüber dieser Schandtat noch immer als unerträglich.

Die Art und Weise, in der sich der Vater bisher dazu verhalten hatte, ließ bei ihm eher den Gedanken aufkommen, weder Tamar noch er selbst seien dem Vater etwas wert. Eigentlich seien sie ihm egal. Wir lesen auch nirgendwo, dass David irgendetwas für Tamar tat.

Schließlich hielt Absalom das Schweigen Davids nicht mehr aus: „Wenn ich schuldig bin, dann soll er mich töten!“ (2Sam. 14,32). In diesem Ausruf entlud sich die ganze Qual eines Sohnes gegenüber einem für ihn unerreichbaren Vater.

Joab, also dem, der ihn nach Jerusalem zurückgebracht hatte, machte Absalom buchstäblich Feuer. Daraufhin ging Joab zu David und ersuchte ihn um ein Treffen mit Absalom. David erklärte sich dazu bereit (2Sam. 14,28-32). Über diese Begegnung zwischen Vater und Sohn berichtet die Heilige Schrift in einem einzigen Vers: „Da ging Joab zum König hinein und sagte es ihm. Und er [David] rief Absalom; und er kam zu dem König und verneigte sich vor dem König mit dem Angesicht zur Erde; und der König küsste Absalom.“ (2Sam. 14,33).

Eines sticht bei dieser Schilderung sofort ins Auge: Viermal wird in diesem Vers David als König bezeichnet und nicht ein einziges Mal als Vater. Man wird den Eindruck nicht los, als ob David gegenüber seinem Sohn den Eindruck erwecken will, es gehe ihm bei dem Gespräch lediglich darum, einen Punkt auf seinem zweifellos sehr engen Terminkalender abzuarbeiten.

In dieser Weise lief die Audienz auch ab. Absalom verneigte sich mit dem Angesicht zur Erde. Eigentlich steht im hebräischen Grundtext sogar: mit der Nase zur Erde. Dadurch wird der Eindruck noch verstärkt, dass Absalom bei dieser Begegnung praktisch keine Luft zum Atmen blieb. Das Beisammensein lief nach dem Schema ab: Du beugst dich, und ich sage dir, wo es lang geht.

Zwar lesen wir am Ende dieses Verses auch, dass David seinem Sohn einen Kuss gab. Aber es gibt eben auch formale Küsse, Küsse ohne Herzlichkeit, ohne Wärme. Oder sagen wir es vorsichtiger: ohne dass ein Vater seine wirklichen Gefühle und Sehnsüchte seinem Sohn zu zeigen vermag.

Für die Außenwelt mochte mit diesem Treffen die Beziehung zwischen David und Absalom wieder hergestellt sein. Aber wenn wir die folgenden Verse lesen, gewinnen wir eher den Eindruck, dass die bis dahin vorhandene Nicht-Beziehung zwischen Vater und Sohn durch diese Zusammenkunft nur noch zementiert wurde und sich zu einer tiefen Antipathie steigerte, jedenfalls was Absalom anbelangte.

Von nun an zog Absalom sich von seinem Vater zurück. Er scheute sich nicht, ihn unmittelbar vor dem Palast bloß zu stellen. Er machte ihn lächerlich, und er agitierte konsequent und mehr oder weniger öffentlich gegen ihn (2Sam. 15,1-6).

Außerdem stellte er sich ein Heer zusammen und baute sich eine Clique auf, die von nun an der Bezugspunkt seines Lebens wurde. Mit seinen Kumpanen strebte er danach, eine andere, eine neue Welt zu schaffen, eine vaterlose Kultur. Besonders hatten sie es auf die Rechtsprechung Davids abgesehen: Diejenige, die auf den durch Mose vermittelten Gesetzen beruhte, müsse umgestürzt werden.

Es hatte alles damit angefangen, dass David sich beharrlich geweigert hatte, das Recht gegenüber Amnon anzuwenden. In Absaloms Hirn steigerte sich damit die Abneigung gegenüber dem Vater zu einer Gesetzesverachtung und einer rigorosen Ablehnung der väterlichen Rechtsprechung.

Jahre später, unmittelbar bevor die Rebellion gegen König David losbrach, berichtet uns die Heilige Schrift zum dritten Mal von einer Begegnung zwischen David und Absalom. Es war das letzte Mal, dass sich Vater und Sohn in die Augen blickten und miteinander sprachen. Absalom kam zu David und bat ihn um die Erlaubnis, nach Hebron gehen zu dürfen, um dort ein Gelübde zu erfüllen, das er vor vielen Jahren, so sprach er, dem Herrn gelobt habe (2Sam. 15,7.8).

Die gleich darauf folgenden Ereignisse machen klar, dass diese Bitte Absaloms durch und durch verlogen war. Es stimmte nichts daran. Wenn David auch nur ein wenig wach gewesen wäre, hätte ihm die Frage kommen müssen, warum Absalom auf einmal mit einem so unterwürfigen Anliegen zu ihm gekommen sei. Absalom war ja sonst nicht gerade der, der seinen Vater um Erlaubnis fragte.

Die Bitte Absaloms war außerdem fromm gefärbt. Absalom wusste eben, wie er am geschicktesten seinen längst verachteten Vater hinters Licht führen konnte: „Ich muss dem Alten nur sagen, dass ich ein Gelübde abgelegt habe und ich dies nun erfüllen will, dann wird er von mir gerührt sein.“

Natürlich hätte David auch da die Frage kommen können: Wieso erfüllt mein Sohn sein Gelübde eigentlich erst jetzt, also so viele Jahre später als Gott ihm das, worum er gebetet hatte, nämlich seine Heimkehr, geschenkt hatte? Aber David merkte nichts. Er wollte nicht merken, dass jedes Wort, das aus dem Mund Absaloms kam, nur dazu da war, die Wahrheit zu verbergen. Es waren alles ausnahmslos Nebelkerzen.

Drei Begegnungen zwischen David und Absalom finden wir in der Bibel. In der ersten erteilte der Vater der Einladung seines Sohnes zu einem Fest eine Abfuhr. Hinter Davids Nein verbarg sich seine beharrliche Tatenlosigkeit angesichts der inzestuösen Vergewaltigung, die in seinem Hause stattgefunden hatte. Dieses Schweigen Davids brachte die Abwärtsspirale zwischen ihm und Absalom in Gang. David war der abwesende, sich seinen Erziehungsaufgaben verweigernde Vater.

Das zweite Treffen zwischen David und Absalom fand mehr als fünf Jahre später statt. Als es nach quälend langer Zeit zu diesem Treffen kam, erschien die Mauer zwischen Vater und Sohn so dick wie nie zuvor. David erschien als der unnahbare, der unerreichbare Vater.

Das dritte Treffen zwischen Vater und Sohn war dann nur noch eine verlogene Farce. Absalom war schon längst nicht mehr an einer Beziehung mit seinem Vater interessiert. Sein geistiges Zuhause hatte er bei gleichgesinnten Kumpanen gefunden, die gemeinsam aus dem Nein gegenüber der bestehenden Rechtsprechung ihre Kraft saugten.

David hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, die sich auftürmende Mauer zu seinem Sohn zu durchbrechen. Wenn er Absalom wenigstens ein einziges Mal signalisiert hätte, dass er durch seine Passivität gegenüber Amnon zu schlimmem Unrecht geschwiegen habe, dass ihm aber nun seine Untätigkeit Leid tue, dass er Tamar und auch Absalom für sein Schweigen um Vergebung bitten wolle …. Was wäre gewesen, wenn David erklärt hätte, er wolle in Zukunft auch in seiner Familie das Recht in Liebe durchsetzen…? Aber all das erfolgte nicht.

Absalom steigerte sich daraufhin in einen geradezu zwanghaften Hass gegen seinen Vater. Dieser entlud sich dann im Aufstand gegen ihn. Wie im Rausch baute der sich nach außen freundlich gebende Absalom sein Gegenimperium auf. Dann führte sein Weg nach Hebron. Aber der Grund war nicht, um dort ein Gelübde zu erfüllen, wie er seinem Vater ins Gesicht gelogen hatte, sondern um von dort aus die Revolution ins Rollen zu bringen (2Sam. 15,11).

Es ist bemerkenswert, dass an diesem Aufstand keineswegs nur junge Leute teilnahmen. Man sollte diese Empörung also nicht als ein Generationenproblem abtun.

Auch Ahitophel schloss sich dem Aufstand an (2Sam. 15,12). Dieser bereits ältere Mann hatte sich zu einem der wichtigsten Vertrauensleute Davids hochgearbeitet. Die Bibel vermeldet, dass in jener Zeit der Rat Ahitophels so schwer wog, wie wenn man das Wort Gottes befragt hätte (2Sam. 16,23).

Wer war Ahitophel? Ahitophel war der Großvater von Bathseba (2Sam. 11,3; 23,34). Offensichtlich war er innerlich ein verbitterter Mann, der Davids Sünde mit seiner Enkelin nicht vergessen konnte. Sicher trieb ihn auch der Mord an seinem Schwiegerenkel Uria um. Als sich ihm nun die Gelegenheit zur Vergeltung bot, ergriff er sie. Ahitophel ging in seiner Rache gegen David eiskalt vor. Er riet Absalom, die zurückgelassenen Nebenfrauen Davids zu vergewaltigen, und zwar nicht irgendwo, sondern ausdrücklich vor den Augen ganz Israels, auf dem Dach (2Sam. 16,21.22). War es dasselbe Dach, von dem aus David einst die badende Bathseba erblickt hatte?

Während für David der Weg zur Lösung seines Familienproblems in aufrichtigem Sündenbekennen gelegen hätte sowie in einem Bekenntnis, von nun an geradlinig, also ohne Ansehen der Person, seine Familie zu leiten, wäre das Schlüsselwort für Absalom und Ahitophel der Begriff Vergeben gewesen.

Adonija

Auch der vierte Sohn Davids, Adonija (2Sam. 3,4), zettelte eine Rebellion gegen seinen Vater an. Ihm dauerte die Zeit zu lang, bis sein Vater starb. So ließ er sich schon zuvor zum Thronfolger ausrufen. (1Kön. 1,5-50). Seine ersten Verschwörungsaktionen liefen in auffallender Weise mit denjenigen Absaloms parallel (1Kön. 1,5; 2Sam. 15,1).

Die Bibel macht eine Aussage, die offensichtlich die Beziehung zwischen David und Adonija auf den Punkt bringt: „Sein Vater hatte ihn nie betrübt, Zeit seines Lebens, sodass er gesagt hätte: Warum tust du so etwas?“
(1Kön. 1,6). Diese Aussage bringt es erneut ans Licht: David ist der erziehungsträge Vater.

Nun, hier in Machanaim, musste David erkennen, dass seine jahrzehntelange Erziehungsträgheit dazu geführt hatte, dass eine Lawine losgebrochen war. Diese hätte ihn fast überrollt. Weil er seine Kinder nicht (richtig) erzog, war David an ihrem Verhalten nicht schuldlos. Hier an der Ostseite des Jordan musste David hineinblicken in den Abgrund seines selbstverschuldeten Versagens. Hier wurde ihm vor Augen geführt, was er mit seiner Passivität angerichtet hatte: „Absalom, mein Sohn Absalom…!“

5. Fehlende Erziehungsvorbilder

Warum war David eigentlich so passiv in seiner Erziehung? Worauf ist es zurückzuführen, dass David so wenig präsent war, wenn es um seine Kinder ging? Diese Frage stellt sich bei David umso mehr, als wir ihn ja sonst keineswegs als einen tatenlosen, desinteressierten Schwächling kennen.

David war ein Mann, der in seinem Leben auf eine beeindruckende Laufbahn zurückblicken konnte. Die Samuelbücher schildern, wie er zwar durch viele Verfolgungen und Zerreißproben hindurchging, aber schlussendlich führte sein Weg von einem unbeachteten Hirtenjungen zum König über Israel.

Es ist sicher falsch, wenn man daraus ableiten wollte, dass David sich nach oben gearbeitet habe. Es war nicht so, dass er von sich aus eine Karriere anstrebte. Eher war es so, dass ihm Stück für Stück geschenkt wurde. Es fiel ihm gleichsam in den Schoß. Angefangen von seiner Königssalbung, über seine „zufällige“ Anwesenheit in dem Krieg gegen die Philister, als gerade Goliath Lästerungen gegen Gott krakeelte, bis hin, dass ihm das Volk das Königtum antrug: Nichts davon hatte er gezielt angestrebt. Es war Gottes souveränes, erwählendes Handeln, das David diesen Weg führte.

Aber trotzdem wird man nicht behaupten können, dass David nichts anderes war als ein inaktiver, initiativloser Nutznießer der jeweiligen Gelegenheiten. Auch als er auf dem Thron Israels saß, war er rastlos tätig und konnte über seine Feinde einen Triumph nach dem anderen feiern (2Sam. 8).

Aber so sehr man ihn in der Öffentlichkeit als Politiker schätzte und auf dem Schlachtfeld als großen Strategen bewunderte, in seiner Familie sah es anders aus. Warum? Warum herrschte im Blick auf seine Kinder ein so auffälliges Unvermögen?

Für die Beantwortung wird man vermutlich vor allem auf zwei Gründe hinzuweisen haben. Zunächst einmal ist festzustellen, dass David selbst keine Erziehungsvorbilder hatte.

David wuchs in einer Familie auf, die immer, wenn sie in das Blickfeld gerät, Rätsel aufgibt. Von Davids Mutter ist nur ein einziges Mal die Rede. David spricht von ihr als von der, „die ihn in Sünden empfangen hat“ (Ps. 51,7). Sonst erfahren wir über sie nichts.

Als der Prophet Samuel nach Bethlehem zu dem Vater Davids kam und ihn aufforderte, alle seine Söhne vor ihm antreten zu lassen, da vergaß Isai seinen jüngsten Sohn. Erst auf Nachfragen Samuels kam dem Vater der Kleine in den Sinn (1Sam. 16,6-13). Auch Davids Verhältnis zu seinen größeren Brüdern scheint nicht das beste gewesen zu sein (1Sam. 17,28).

Dann trat David in den Dienst Sauls. Er bekam eine Tochter Sauls zur Frau. Auf diese Weise hatte er engen Kontakt zu seiner Schwiegerfamilie. Aber auch von ihr konnte er nicht viel lernen, was für ein Familienleben förderlich ist. Neben allem anderen, was David von seinem Schwiegervater einzustecken hatte, nahm ihm dieser seine ihm versprochenen Frauen weg und gab sie anderen (1Sam. 18,17-28; 25,44).

Immer wieder kreuzte auch Samuel den Lebensweg Davids. Aber was das Thema Erziehung anbelangt, konnte sich David auch von seinem Mentor nicht viel abschauen. Gegen Ende seines Lebens hatte Samuel seine beiden Söhne in Beersheba in hohe, verantwortliche Positionen manövriert. Über die Söhne Samuels heißt es, dass sie nicht in den Wegen ihres Vaters wandelten. Ganz offensichtlich hatten sie nicht das Format, um das ihnen vom Vater übertragene Amt verantwortlich auszufüllen. Vielleicht wären sie als normale Gläubige standhaft geblieben. Aber in die Stellung, in die sie befördert worden waren, ließen sie sich korrumpieren (1Sam. 8,1-3). Müssen wir folgern, dass sie an den (zu) hohen Idealen und Vorstellungen ihres Vaters zuschanden wurden?

Auch der Priester, der eine Generation vor Samuel in Israel als Vorbild für das Volk hätte fungieren können, Eli, war alles andere als ein Vorzeigevater. Samuel wuchs bei ihm in Silo auf. In dieser Zeit lernte Samuel einen Mann kennen, dessen eigene Söhne machten, was sie wollten, ohne dass der Vater einschritt (1Sam. 2,12-25). Schließlich stellte Gott durch einen Propheten diesem Priester die entlarvende Frage: „Warum ehrst du deine Söhne mehr als mich?“ (1Sam. 2,29). Unmittelbar danach erging über die gesamte Familie das Gerichtsurteil Gottes (1Sam. 2,27-36; 3,11-14; 4,17-22).

Nein, David hatte nicht wirklich Erziehungsvorbilder kennengelernt. Erst sein Sohn Salomo war es dann, der inspiriert durch den Geist Gottes ein Buch verfasste, in dem vielfältige, unverzichtbare Erziehungsanweisungen notiert wurden. Es ist das Buch der Sprüche. In diesem Buch lesen wir nicht nur, dass ein Vater über einen rechtschaffenen Sohn frohlockt, während er keine Freude an einem Toren hat (Spr. 10,1; 17,21; 23,24). Vielmehr erhalten wir auch eine Fülle von Hinweisen, Geboten und Normen für die Kindeserziehung. Dies fängt in den ersten Kapiteln an und zieht sich durch das gesamte Buch hindurch. Wie weise ist etwa der Hinweis, nicht jedes Kind nach demselben Schema zu erziehen, sondern so wie es seinem jeweiligen Weg entspricht (Spr. 22,6).

Uns Heutigen, die wir in der Zeit nach Salomo leben, geht es in dieser Hinsicht also viel besser, als es David ging. Diesen Mangel an weisen Vätervorbildern mag man David zugute halten.

Auch heute finden junge Christen, die eine Familie nach biblischen Maßstäben gründen und führen wollen, nicht viele Beispiele in ihrer Umgebung für ein von Gott und seinen guten Normen geprägtes Familienleben. Um sie herum sind Ehescheidungen auch unter Christen erschreckend hoch. Abartiges sexuelles Verhalten und Pornographie werden in den Medien als etwas Attraktives hingestellt und Ehebruch als etwas Reizvolles. Umso wichtiger ist es da, dass (junge) Familien sich von Anfang an kompromisslos auch in Erziehungsfragen an dem Wort der Wahrheit ausrichten.

Wir können an König David auch erkennen, dass es sich nicht automatisch so verhält, dass jemand der seine beruflichen (oder gemeindlichen) Aufgaben erfolgreich ausfüllt, auch seinen privaten, familiären Verpflichtungen nachkommt. Es ist ein Unterschied, ob man in kriegerischen Auseinandersetzungen seinen Mann steht, oder ob man zu Hause, sozusagen in Friedenszeiten, seinen Erziehungsverpflichtungen nachkommt.

Soviel aber macht die Bibel unmissverständlich klar: Es darf zwischen öffentlichem und persönlichem Leben keine Kluft geben. Nicht umsonst verlangt die Heilige Schrift von Männern, die in der Gemeinde ein Amt als Älteste und Aufseher bekleiden, dass sie zunächst ihrer eigenen Familie vorstehen und diese recht lenken (1Tim. 3,4.5; Tit. 1,6). Wenn dies heute vielfach in den Gemeinden nicht mehr befolgt wird, dann betraut man diejenigen mit Verantwortung, die ein gewisses öffentliches Ansehen haben oder über entsprechende intellektuelle Kapazitäten verfügen. Damit aber dreht man die biblische Reihenfolge um. Wenn nicht unter anderem nach ihrem persönlichen Umgang mit Gott und ihrem Familienleben gefragt wird, kann dies zu verheerenden Konsequenzen in unseren Gemeinden führen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich das so auswirken wird, dass die Kinder, die dann das Doppelleben ihres Vaters zwischen einerseits Familie und andererseits Gemeindedienst wahrnehmen, eine Abneigung vor dem christlichen Glauben insgesamt bekommen. Davids Aufschrei, „Absalom, mein Sohn Absalom!“ kann für uns die Warnung enthalten, die entsprechenden Gebote der Heiligen Schrift ernst zu nehmen.

6. Der Fluch der bösen Tat

Wenn wir nach den Ursachen der Erziehungsmüdigkeit Davids fragen, wird man neben dem Mangel an Erziehungsvorbildern auf eine weitere Ursache hinzuweisen haben. Wären nämlich die fehlenden Erziehungsvorbilder oder -ratgeber der einzige Grund für Davids Versagen im Bereich der Erziehung, dann würde es ausreichen, ihm zu empfehlen, sich mit dem entsprechenden Thema ausgiebig zu beschäftigen. Denn es war ja nun auch nicht so, dass Gott bis zur Zeit Davids gar nichts über das wichtige Lebensfeld des Umgangs von Eltern mit Kindern gesagt hatte.

Denken wir daran, dass Gott über Abraham aussprach, er habe ihn deswegen ersehen, dass er seinen Kindern und seinem Haus nach ihm gebiete, den Weg des Herrn zu bewahren, indem sie Gerechtigkeit und Recht üben (1Mos. 18,19). Auch die bereits am Sinai von Gott gegebenen Gebote waren in Fragen rundum die Thematik von Erziehung und Gehorsam unmissverständlich deutlich (2Mos. 20,12; 3Mos. 19,3; 5Mos. 5,16; 21,18-21).

Es gab noch eine andere Ursache für die Lethargie Davids in dem, was mit der Erziehung seiner Söhne zusammenhing. Bei dem Umgang mit seinen Kindern musste David sich immer wieder darüber klar werden, dass er selbst Teil des Problems war.

Der Ehebruch mit Bathseba und der sich daran anschließende Mord an Uria lagen Jahre zurück (2Sam. 11). Aber was spielt Zeit schon für eine Rolle, wenn es um unsere Seele geht?!

Ziemlich bald nach dem Ehebruch mit Bathseba und der Ermordung Urias kam der Prophet Nathan zu David. Er erzählte ihm eine Geschichte: Es gab einmal einen Mann, der nur ein einziges, kleines Lamm besaß. Dieses wurde ihm von einem Reichen weggenommen (2Sam. 12,1-4).

Als der König diese Geschichte hörte, empörte er sich sehr und ordnete an, dass das Lamm von dem Reichen vierfach erstattet werden solle. Nathans kurze Erwiderung ist bekannt: „Du bist der Mann.“ (2Sam. 12,7).

Die unverzügliche Reaktion des von seiner Sünde Überführten war: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt!“ (2Sam. 12,13). Im Anschluss daran verkündete Nathan dem David die Vergebung seiner Sünden. Normalerweise standen sowohl auf Ehebruch als auch auf Mord die Todesstrafe (3Mos. 20,10; 2Mos. 21,23). Aber Gott begnadigte den Sünder: „Der Herr hat deine Sünde hinweg genommen; du sollst nicht sterben!“ (2Sam. 12,13).

Gleichwohl fällt auf, dass Gott mit seiner Vergebung nicht die Konsequenzen von Davids Sünden wegwischte. Nathan fuhr fort. „Weil du den Feinden des Herrn durch diese Sache Anlass zur Lästerung gegeben hast, so wird der Sohn, der dir geboren wurde, gewisslich sterben.“ (2Sam. 12,14).

Bei dieser Bestrafung ging es also nicht um eine Sühneleistung. Es war nicht so, dass David durch den Tod des im Ehebruch gezeugten Sohnes, eine Bußzahlung erbringen musste. Aber das erwählte Volk Gottes und nicht zuletzt der königliche Repräsentant dieses Volkes, David, stand unter der Verpflichtung, in dieser Welt die Herrschaft Gottes zu bezeugen, nicht zuletzt durch eine Lebensführung, die dem Gesetz Gottes entsprach.

Das ist der Grund, warum Gott nicht stillschweigend über die Sünde des Königs hinwegging. Denn dann wäre bei den Feinden der Eindruck entstanden, Gott würde die Sünde nicht ernst nehmen, jedenfalls dann nicht, wenn sie in seinem eigenen Volk geschieht. Gott würde sozusagen mit seinem Volk und in diesem Fall mit seinem Erwählten, David, unter einer Decke stecken.

Ähnlich hatte es Gott der Herr einst dem Mose erklärt. Als Mose in der Wüste wegen des Unglaubens des Volkes Gott um Vergebung anflehte, machte Gott der Herr seinem Knecht klar, dass es in dieser Weltgeschichte darum geht, dass Gottes Heiligkeit, sein Recht, nicht in den Schmutz getreten werden darf. Das Ziel ist, dass Gottes Ehre die ganze Erde erfüllen soll. Das war der Grund, warum die Wüstenwanderung für das Volk Gottes noch 38 Jahre länger dauerte. Gott wäre nicht Gott, wenn er mit sich machen ließe, was wir wollen (4Mos. 14,1325). Deswegen lässt Gott gerade denen, die er liebt, nichts durchgehen (Hebr. 12,4-11). Gerade bei seinen Erwählten ist er sehr genau (Am. 3,2; 1Petr. 4,17-19). Nachdem der Apostel Paulus so nachdrücklich die Gnade Gottes als einzige Grundlage unseres Heils gerühmt hat, schreibt er: „Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Was der Mensch sät, das wird er ernten!“ (Gal. 6,7).

Es war nicht nur Nathan, der dem David das Gericht verkündet hatte (2Sam. 12,10), sondern es war David selbst, der in Reaktion auf die Erzählung Nathans von einem vierfachen Erstatten des Geraubten gesprochen hatte (2Sam. 12,5).

Im weiteren Verlauf seines Lebens können wir verfolgen, wie vier Söhne Davids frühzeitig zu Tode kamen. Erstens war es das im Ehebruch mit Bathseba gezeugte Kind (2Sam. 12,15-20), dann die Ermordung Amnons (2Sam. 13,28.29), dann Absaloms gewaltsamer Tod (2Sam. 18,14.15), und schließlich fiel noch Adonija dem Schwert zum Opfer (1Kön. 2,23-25).

War es dieses Wissen vom Gerichtsurteil Gottes, das David in seinem Umgang mit seinen Kindern lähmte? War das die Ursache dafür, dass er Amnon nicht wegen der Hurerei mit Tamar autoritativ zurechtwies? War die Gerichtsbotschaft Nathans wegen des Auftragsmordes an Uria die Ursache dafür, dass er mit der entsprechenden Tat Absaloms so flach umging und sich schon bald über den Tod Amnons tröstete (2Sam. 13,39)?

War David von diesem Gerichtswort Nathans, das von nun an über seinem Leben stand, so bestimmt, dass er es immer nur vergessen wollte? Verzichtete er deswegen bei seinen Kindern auf Zurechtweisung, weil er nicht an seine eigene Vergangenheit erinnert werden wollte? Erblickte David in den Taten seiner Söhne seine eigene Vergangenheit?

Das alles sind nur Fragen. Aber wenn es sich so verhielt, würde es seine – folgenlose – Wut über Amnon erklären (2Sam. 13,21) und auch die Distanz zu Absalom und wohl auch zu Tamar.

Um nicht missverstanden zu werden: Dieses Gerichtswort Nathans über David ist nicht die Allerweltserkenntnis, dass Eltern sich in ihren Kindern vermehren, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt usw. Jeder kann in seiner Familie beobachten, dass sich Charakterschwächen durch die Generationen hindurchziehen. Wenn man sie bei Opa oder Oma beobachtet, kann es sein, dass man sich über deren Marotten amüsiert oder auch irgendwann kapitulierend resigniert. Wenn man diese dann bei sich selbst wahrnimmt, wird es eher so sein, dass man sich intensiv bemüht, sie so gut es geht zu verstecken. (Meistens gelingt es ganz schlecht.). Wenn man sie dann erneut bei seinen Kindern feststellt, möchte man am liebsten erschreckt weglaufen.

Aber hier bei David haben wir es nicht mit irgendwelchen charakterlichen Eigentümlichkeiten zu tun, die sich als Veranlagungen von Generation zu Generation fortpflanzen, sondern es geht um Sünde. Sünde führt zu Gericht und zu Züchtigungen.

Wie ging David mit seinem Ehebruch und dem Mord gegenüber seinen Kindern um? Hatte er seinen Kindern klipp und klar gesagt, dass es Sünde war und dass er dafür Vergebung empfangen hatte und aus dieser Vergebung heraus die Erziehungsverantwortung für seine Kinder wahrzunehmen hat? Davids weiteres Verhalten erweckt eher den Eindruck, dass er an seine Vergangenheit am liebsten nicht erinnert werden wollte.

In der Schlacht im Wald von Ephraim fielen neben Absalom noch 20.000 Mann (2Sam. 18,7). Der Schaden, der insgesamt dem Volk Gottes durch Sünde entstand, war gigantisch. Auch dies wird David vor seinem geistigen Augen gestanden haben, als er ausrief: „Absalom, mein Sohn Absalom!“

7. Segen, Vergebung und Neuanfang

Beim Nachdenken über den Ausruf Davids sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass das, was in einem Menschen vorgeht, sich niemals einem anderen völlig erschließt. Darauf macht Salomo einmal aufmerksam: „Das Herz allein kennt seinen Kummer [Bitternis]“ (Spr. 14,10). Der Apostel Paulus erwähnt, dass allein der Geist des Menschen weiß, was im Menschen ist (1Kor. 2,11; vergleiche auch Spr. 20,27).

Niemand kann also vollständig ermessen, was in jenen Stunden, als David die Todesnachricht von seinem Sohn gehört hatte, in ihm vorgegangen war. Auch kein noch so fähiger Seelsorger vermag auszuloten, was in Eltern vorgeht, die über die Irrwege ihres Kindes tiefes Leid tragen.

Aber so sehr uns der Aufschrei Davids emotional berühren mag, nirgendwo lehrt das Wort Gottes, dass Eltern sich mit diesem Aufschrei identifizieren sollen. Er ist keine Handlungsanweisung. Die Heilige Schrift sagt nicht, dass man sich im Blick auf ungehorsame oder rebellische Kinder in diesen Aufschrei Davids hineinversetzen soll.

Wenn wir die weiteren Verse lesen, erfahren wir, dass der in tiefem Schmerz gebeugte David zur Besinnung gebracht werden musste. Joab war wahrlich kein Mann, der durch besondere Sensibilität oder durch starkes Mitgefühl gegenüber anderen auffiel. Er war jemand, der die Welt aus dem Blickwinkel betrachtete, dass das Leben schließlich weitergehen müsse. Entsprechend war sein Rat an David. (2Sam. 19,1-8).

Ein solch pragmatischer Rat ist insofern nicht falsch, als bei Grübeleien und bei herzzerreißendem Leidtragen die Gefahr besteht, in ein Loch trostlosen Selbstmitleids zu fallen. Selbstmitleid ist aber immer eine der gefährlichsten Verstrickungen, in die ein Mensch hineingeraten kann. Insofern ergibt der Rat Joabs Sinn.

Dabei bleibt unstrittig: Es ist furchtbar, wenn man sich vor Augen führt, wie der überrumpelte David mit einer Schar von Getreuen gedemütigt, verlacht, verspottet, verflucht Hals über Kopf die Flucht ergreifen musste. Es ist aufreibend, die Unterredungen zu lesen, die David unterwegs ins Ostjordanland hatte. Fast hat es den Anschein, als ob hier im Zeitraffer der Film von Davids Leben ablief. Einerseits erfuhr er Unterstützung, andererseits aber musste er zur Kenntnis nehmen, welche Lügen ihm selbst hier noch aufgetischt wurden (2Sam. 16,1-4; vergleiche dazu 2Sam. 19,25-31). Er musste erfahren, wie groß der Groll war, der ihm entgegenschlug und welche Flüche über ihn ausgeschüttet wurden (2Sam. 15,14 – 16,14). Es ist bedrückend zu lesen, wie er weinend über den Bach Kidron zog (2Sam. 15,23) und dann barfuß und verhüllt den Ölberg hinaufging (2Sam. 15,30).

Aber wenn wir nur bei diesen Ereignissen im Leben Davids stehenbleiben, die dann ihren schrecklichen Tiefpunkt in der Todesnachricht über Absalom hatten, dann kann uns bestenfalls ein rührseliges Mitgefühl erfassen. Davon aber hat niemand etwas.

Vielmehr haben wir auf jemand anderen zu blicken. Es ist der große Sohn Davids, Jesus Christus. Rund tausend Jahre nach diesen Ereignissen zog auch er aus Jerusalem heraus. Auch ihn begleitete eine kleine Gruppe Getreuer. Er ging ebenfalls über den Bach Kidron (Joh. 18,1) und zog hinauf zu der Anhöhe, die am Ölberg liegt, zum Garten Gethsemane (Mt. 26,30; Lk. 22,39). Dort war er ebenfalls bestürzt und beängstigt (Mt. 26,38; Mk. 14,33), sodass er Blut und Wasser schwitzte (Luk. 22,40-46). Und das alles – und hier liegt der große Unterschied zu David – nicht wegen seiner eigenen Fehler, sondern wegen unserer Sünden.

Als Christus nur wenige Tage vor diesen Ereignissen die Stadt Jerusalem erblickte, da weinte dieser große Sohn Davids bitterlich über sie: „Wenn doch auch du erkannt hättest, wenigstens noch an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient…“ (Luk. 19,42). In tiefer Erschütterung weinte er über die Verlorenen und wollte ihre Umkehr. Dass Jesu Weinen über die Menschen nicht hoffnungslos war, zeigte sich daran, wie seit dem Pfingsttag Menschen, angefangen in der Stadt Jerusalem, zum Evangelium umgekehrt sind.

Dieses Weinen sollte für uns durchaus eine Handlungsanweisung sein. Denn auch in unserem Leben gibt es ein Sorgen und ein Grämen, das sinnvoll ist. Es ist dann sinnvoll, wenn es einmündet in Gebet.

Dafür gibt uns die Heilige Schrift vielfältige Beispiele: „Wasserbäche fließen aus meinen Augen, weil sie dein Gesetz nicht halten.“ (Ps. 119,136). Kennen wir dieses in Gebet und Flehen eingebettete Weinen? Entsprechend verhält es sich in dem erschütternden Wort Jeremias: „Es rinnen Wasserbäche aus meinen Augen wegen des Untergangs der Tochter meines Volkes.“ (Klagl. 3,48).

Der Apostel Paulus war sogar einmal bereit, wenn es möglich wäre, durch einen Fluch von Christus getrennt zu werden, wenn dadurch seine Verwandten nach dem Fleisch gerettet werden könnten (Röm. 9,2.3). Aber das war eben nicht möglich. Ein Mensch kann seinen Bruder nicht vom Tod erretten (Ps. 49,8). Paulus wusste das natürlich auch. Darum betete und flehte er umso intensiver zu Gott, dass seine Angehörigen nach dem Fleisch errettet werden (Röm. 10,1).

Angesichts dieser Beispiele könnte man eher die Frage aufwerfen: Warum gibt es heute so viele Eltern, die im Blick auf ihre abtrünnigen Kinder nicht so tief betrübt flehend zu Gott schreien?

Ein solches Weinen, eine Betrübnis, die auf Gott ausgerichtet ist, führt dann auch im eigenen Leben zur Umkehr mit all dem, was das praktisch heißt: Verantwortung, Entrüstung, Furcht, Verlangen, Eifer, Bestrafung (2Kor. 7,10.11). Wenn du das bis heute versäumt hast, dann fang jetzt damit an!

Die Dinge, die einmal waren, können von uns nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Davids Ehebruch und seinen Mord an Uria konnte David nicht mehr gut machen. Aber er konnte seinen Kindern die Gnade Gottes bezeugen, und er konnte bekennen, dass ihm vergeben wurde. Er hatte die Glückseligkeit der Sündenvergebung an sich selbst erfahren (Ps. 32,1; Röm. 4,7.8).

Paulus schreibt einmal, dass Christus ein Fluch wurde um unsertwillen (Gal. 3,13). Gott vermag sich auch Geltung dadurch zu verschaffen, dass er Fluch in Segen verwandelt (5Mos. 23,6).

Es gibt einen Neuanfang. Aber der ist nicht aus eigener Kraft machbar, sondern kommt aus dem Evangelium, das eine Kraft Gottes zur Errettung ist, das auch unserem Fatalismus den Kampf angesagt hat. Als Jesus den Petrus fragte: Liebst du mich? da brach für diesen Versager ein neuer Morgen an. Dieser Neuanfang gilt auch für den, der in seiner Erziehung bisher versagt hat.

Jesus erzählt einmal die Geschichte von einem Vater. Dieser Vater kann uns in jeder Weise ein Vorbild sein. Denn er ist weder abwesend, noch distanziert und schon gar nicht unerreichbar oder gefühlskalt. Dieser Vater hatte auch einen verlorenen Sohn. Eines Tages erkannte dieser Sohn, wie elend es um ihn bestellt war, und er beschloss, zu seinem Vater heimzukehren. Dazu studierte er eine Rede ein, die er sich auf dem Nachhauseweg wohl immer und immer wieder vorsagte, um nicht stecken zu bleiben, wenn er vor seinem Vater stünde: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen, mache mich zu einem deiner Tagelöhner“ (Luk. 15,19).

Als sein Vater ihn von Ferne erblickte, da lief er diesem Taugenichts entgegen, herzte und küsste ihn sehr (Luk. 15,20). Und als der Sohn dann sein Sprüchlein aufsagen wollte, da kam er gar nicht bis zum Schluss (Luk. 15,21). Der Vater rief dazwischen. Er wies einen seiner Knechte an, ein Festgewand, einen Ring und Schuhe für seinen Sohn zu bringen (Luk. 15,22).