Die dritte Bitte des Unservaters lautet: Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden (Mt. 6,10). Schon tausendmal haben wir diese Worte still oder laut gebetet. Sind sie uns vielleicht wie das ganze Unservater zur Floskel verkommen, die wir routiniert abspulen ohne darüber nachzudenken? Dann ist es Zeit, innezuhalten und sich den Sinn dieser Bitte erneut vor Augen zu führen.
Was meinen wir eigentlich mit dem Willen Gottes? Es ist ja klar, dass wir hier von dem Willen unseres Vaters im Himmel sprechen. Was heißt es für uns, dass sein Wille geschehen soll?
Wenn wir von Gottes Willen sprechen, der geschehen möge, tauchen wir in ein Geheimnis ein. Denn Gottes Wille hat zwei Aspekte. Einerseits gibt es den ewigen Willen Gottes, seinen sogenannten Ratschluss. Aus dieser Perspektive ist der Wille Gottes die Ursache und das Ziel aller Dinge. Alles geschieht, weil Gott es will. Dieser Wille Gottes ist uns verborgen, und wir müssen uns mit der Erkenntnis zufriedengeben, dass Gott regiert und nichts seinem Ratschluss zuwiderläuft.
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, nämlich Gottes Willen als Gebot und Regel, wie etwas geschehen soll. Im Unterschied zum verborgenen Willen hat Gott diesen Willen in seinem Wort, der Heiligen Schrift, geoffenbart. Mit diesem Willen richtet sich Gott an uns als seine rationalen Geschöpfe. Als der Herr gibt er uns seinen Willen bekannt und fordert uns berechtigterweise zum Gehorsam auf. Indem wir diesem Willen gehorchen, zeigen wir unserer Umwelt, dass wir Gottes Kinder und Glieder am Leib Jesu Christi sind.
Es ist also wichtig, diese beiden Aspekte im Willen Gottes zu unterscheiden, aber gleichzeitig auch ihre Einheit zu sehen.
Nehmen wir dazu zwei Beispiele: Wie oft war Mose vor dem Pharao erschienen, um ihn im Namen Gottes aufzufordern: Lass mein Volk ziehen? Diese Forderung war der geoffenbarte Wille Gottes, der dem Pharao durch Mose verkündet wurde. Gleichzeitig aber gab es einen Aspekt im Willen Gottes, der dem Pharao verborgen war, nämlich dass Gott ihn verhärten wollte, damit Gottes Macht und Herrlichkeit in der Erlösung Israels umso klarer zum Vorschein trete.
Oder denken wir an das zentrale Ereignis der Geschichte: die Kreuzigung Jesu Christi. Das Gebot ist klar und eindeutig: Du sollst nicht töten (2Mos. 20,13). Und doch war im Ratschluss Gottes alles so angelegt, dass in diesem Fall gerade durch die Übertretung des Gebots das Heil bewirkt wurde nach Gottes festgesetztem Ratschluss und Vorsehung (Apg. 2,23).
Nun könnte man argumentieren: Wenn Gott vielleicht insgeheim etwas Anderes bezweckt, als er öffentlich kundgetan hat, dann sollten wir ihn doch dabei unterstützen! Vielleicht entspricht es dem Willen Gottes, dem Staat Steuern vorzuenthalten, damit dieser weniger Möglichkeiten hat, die Kirche zu drangsalieren? Vielleicht will er, dass wir auf antichristlichen Veranstaltungen auftreten, weil wir doch gerade dort Zeugnis vom wahren Glauben ablegen und für das Reich Christi wirken können? Vielleicht will Gott, dass ich gerade diese ungläubige Person heirate, damit sie durch meinen guten Einfluss bekehrt wird?
Auch wenn man bei manchen Christen immer wieder auf solcherlei Denkweisen stößt, sollte jedem klar sein, wie absurd und falsch sie sind. Wir können nicht nach eigenem Gutdünken ergründen, was vielleicht der verborgene Wille Gottes sein könnte. Wir sollen nicht seinen vermeintlichen Willen befolgen, sondern uns nach dem im Wort Gottes geoffenbarten Willen richten:
Was verborgen ist, das steht bei dem Herrn, unserem Gott; was aber geoffenbart ist, das ist ewiglich für uns und unsere Kinder bestimmt, damit wir alle Worte dieses Gesetzes tun. (5Mos. 29,28)
Unter den verborgenen Willen Gottes sollen wir uns beugen, und den geoffenbarten Willen Gottes sollen wir fröhlich tun. Beides ist in die dritte Bitte des Unservaters eingeschlossen.
Darum ist es falsch, in einen lähmenden Fatalismus zu verfallen und zu meinen, jedes eigene Tun sei sinnlos, da Gott ja ohnehin alles vorherbestimmt habe. Wozu soll ich mich im Auto anschnallen und rücksichtsvoll fahren? Gott hat doch schon längst festgelegt, ob ich es lebend ans Ziel schaffe oder ob ich unterwegs den einen oder den anderen Fußgänger überfahre! Wozu soll ich in der Bibel lesen? Wozu soll ich beten? Als ob ich Gottes Ratschluss damit in irgendeiner Weise abändern könnte! Wozu sollen wir uns bemühen, das Evangelium zu verkünden? Gott wird schon nach seinem Wohlgefallen Leute zum Glauben kommen lassen!
Eine solche Einstellung beweist, dass man den Willen Gottes weder kennt noch anerkennt. Gott will nicht, dass wir uns an seinen verborgenen Ratschluss hängen, wie wir ihn zu verstehen glauben, und uns an diesem wie Marionetten durchs Leben schleifen lassen, sondern dass wir aktiv seinen geoffenbarten Willen in seinem Wort erforschen und zur Richtschnur in unserem Leben machen.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wir unserem eigenen, sündigen Willen entsagen sollen, gerade wenn er uns – wie so oft – viel angenehmer und vernünftiger erscheint als der Wille Gottes, den wir mit Missfallen als hinderlich und unzumutbar betrachten. Geistliche Konflikte, die sich an unserer Schwäche und Auflehnung gegen Gottes gutes Wort entzünden, sind ein hervorragender Anlass zu bitten: Dein Wille geschehe!
In der Gemeinde fragen wir nicht: Was will das Volk? Stattdessen fragen wir: Was will Gott? Was sagt er über den Gottesdienst, über unser Auftreten und Dienen, über die Struktur und die Ordnung in der Gemeinde?
Vieles in unserem Leben mag unerfreulich sein: unsere Arbeitssituation, unsere finanzielle Lage, unser Gesundheitszustand, die politische Situation. In alledem sind wir aufgerufen, unserem eigenen Willen zu entsagen. Warum ausgerechnet ich? Warum ausgerechnet jetzt? Warum ausgerechnet hier? Solche Fragen gehören nicht in unseren Mund.
Je mehr und besser wir uns selbst im Spiegel des Wortes Gottes erkennen, desto notwendiger wird für uns die dritte Bitte des Unservaters. Täglich benötigen wir Gottes Erbarmen, um seinen Willen in seinem Wort zu erkennen, zu akzeptieren, uns zu eigen zu machen und danach zu handeln. Denn als Kinder unseres Vaters im Himmel soll dies unser Anliegen sein: Dein Wille, dein allein guter Wille geschehe!