Wortverkündigung zu 1. Mose 9,18-29: Noahs Sünde

Wortverkündigung zu 1. Mose 9,18-29: Noahs Sünde

Wie reagierst du, wenn du von Sünde überrascht wirst? Was machst du, wenn dir bei anderen Menschen ein falsches Verhalten begegnet? Sicherlich ist dieser Satz schon einmal aus deinem Mund gekommen: „Das hätte ich nie von ihm gedacht!“ Oder: „Ich bin von ihrem Verhalten enttäuscht!“ Sünde überrascht umso mehr, wenn sie uns bei Leuten begegnet, die Großes in ihrem Leben geleistet haben. Aber auch über eigene Fehler können wir immer wieder erschrocken sein: „Wie konnte mir nur das passieren?“

Die Frage „Wie konnte dies nur passieren?“ begegnet uns auch in der Bibel. Das erste Buch Mose berichtet von Noah. Noah gehört zu den ganz Großen der Bibel. Er ist einer, von dem gesagt ist: Er wandelte mit Gott (1Mos. 6,9). Dieses Urteil teilt er sich nur noch mit Henoch (1Mos. 5,24). Vor der Sintflut wird Noah geschildert als ein frommer Mann, ohne Fehler (1Mos. 6,9). Gott suchte allein Noah und seine Familie aus, um mit der Menschheit einen Neuanfang zu machen. Allein Noahs Familie überlebte in der Arche die Sintflut, die die ganze Erde vernichtete. Und im biblischen Bericht über Noah lesen wir mehrfach: Und Noah tat nach allem, was Gott ihm geboten hatte, so tat er es (1Mos. 6,22; 7,5). Das bringt Noahs Gehorsam gegenüber Gott zum Ausdruck.

Die erste Sache, die von Noah berichtet wird, nachdem er die Arche verließ, war der Bau eines Altars für Gott (1Mos. 8,20). Auf diese Weise brachte Noah seine Hingabe zu Gott zum Ausdruck. Gott segnete Noah (1Mos. 9,1), und er schloss einen Bund mit ihm (1Mos. 9,9). Er verhieß ihm, dass er die Erde nicht noch einmal auf diese Weise bestrafen werde (1Mos. 9,11). Der Regenbogen ist bis zum heutigen Tag das Zeichen dieses Bundes: Gott denkt an sein Versprechen, wenn er den Regenbogen sieht (1Mos. 9,12-17).

Noahs Glauben wird ausdrücklich in die Liste der Glaubenshelden in Hebräer 11 aufgenommen. Die Bibel ist eindeutig: Noah war ein Mann Gottes. Wie würde es mit diesem Mann Gottes weitergehen nach der Sintflut? Das Überraschende ist, dass der biblische Bericht über das Leben Noahs mit einer peinlichen Begebenheit endet. Wir finden den Bericht darüber in 1.Mose 9,18-29.

Warum wird uns dies aus dem Leben Noahs geschildert? Warum wollte Gott, dass die Leser diesen Bericht über Noah kennen? Warum möchte Gott, dass uns heute über Noah nicht unbekannt bleibt, dass er keineswegs fehlerlos war? Es gab diese peinliche Begebenheit in Noahs Leben. Was sollen wir anhand dieses Abschnittes über Noah, über Gott und über die Beziehung des Menschen zu Gott denken? Ich möchte auf diese Fragen drei Antworten geben.

1. Die Sünde ist auch nach dem Neuanfang eine Realität

Nach all dem Guten, das über Noah berichtet worden ist, scheint man Noah in diesem Bericht kaum wiederzuerkennen: Noah aber wurde nun ein Landmann und legte einen Weinberg an. Als er aber von dem Wein trank, wurde er betrunken und entblößte sich in seinem Zelt (1Mos. 9,20.21).

Wie konnte das nur passieren? Dieses Fehlverhalten passierte ja nicht irgendwem. Es passierte Noah, dem Gerechten, dem Frommen, dem, der mit Gott wandelte, dem, der als einziger Gottes Ansprüchen genügte.

Manche Ausleger bemühen sich, Noahs Schuld kleinzureden: Noah sei der erste Mensch gewesen, der einen Weinberg angelegt habe. Dies sei somit die erste Erfahrung mit Alkohol gewesen. Ihm sei einfach nicht bewusst gewesen, was passiert, wenn man zu viel von der gegorenen Frucht des Weinstocks trinkt. Andere führen an, dass möglicherweise die veränderten ökologischen Bedingungen nach der Sintflut der Grund waren, dass nun der Traubensaft gärte und so zu Alkohol wurde.

Die Bibel berichtet jedoch nichts darüber. Wir wissen auch nicht, was Noah veranlasste, sich derart zu betrinken oder ob das bei ihm öfters vorkam. Klar ist: Diese Geschichte ist für Noah kein Ruhmesblatt. Warum steht sie in der Heiligen Schrift? Und vor allem: Warum steht sie genau an dieser Stelle in der Bibel?

Der Bericht über Noahs Versagen steht unmittelbar nach Gottes Neuanfang mit der Schöpfung. Gleich nach Ende der Sintflut ging es in der neuen Welt mit einem Drama innerhalb der Familie Noahs weiter. Genauso wie nach dem Ausschluss aus dem Garten Eden der Familienkonflikt zwischen Kain und Abel folgte (1Mos. 4), so kam es nach diesem Neuanfang auch zu sündiger Verirrung.

Immer und immer wieder wurde und wird der Streit zwischen dem Samen der Frau und dem Samen der Schlange offenkundig (1Mos. 3,15). Daran wird deutlich: Die Sünde ist auch in der neuen Welt, also auch nach der Sintflut vorhanden. Die Sünde bleibt eine furchtbare Realität. Bis zum heutigen Tag lässt sich der Zustand dieser Welt nur erklären, wenn wir verstehen, dass die Sünde noch immer eine Realität ist.

Sünde ist nicht nur im Leben schwacher Menschen ein Thema. Bei Noah handelte es sich um einen großen Mann Gottes. Noah war am Ende der Sintflut 600 Jahre alt. Er hatte die Sintflut überlebt. Die Sintflut war Gottes großes Gericht über die Sünde der Menschheit. Noah und seine Familie waren als Einzige davon verschont geblieben. Das war eine besondere Erfahrung der Gnade Gottes. Eigentlich hätte es dieser Noah nun besser wissen müssen, wie man sich zu verhalten hat.

Vielleicht kommt dir gelegentlich auch in den Sinn: „Ich bin zu alt für jene Sünde.“ Oder: „Diese Dinge können mich nicht mehr betreffen.“ Oder: „Ich verfüge über zu viel Erfahrung, als dass mir so etwas passieren könnte.“ Noahs Versagen ist ein Beispiel für die Gefahren, mit denen ein Gläubiger im Lauf seiner Jahre rechnen muss. Noah scheiterte als jemand, der mit Gott lebte. Ja, genau: Er lebte mit Gott, und dennoch beging er einen Fehler.

Es ist tröstlich, dass uns das Wort Gottes auch die sogenannten großen Männer nicht als fehlerlos vorstellt. Die Bibel beschönigt sie nicht. Sie kaschiert ihre Fehler nicht. Heldengeschichten, die Menschen verfassen, lassen häufig die Schattenseiten ihrer Heroen aus. Aber die Heilige Schrift macht das nicht.

So verhält es sich nicht nur bei Noah. Noah befindet sich hier in prominenter Gesellschaft: Abraham log hinsichtlich seiner Frau (1Mos. 12,10-20); sein Sohn Isaak stapfte in die gleichen Fußstapfen seines Vaters (1Mos. 26,1-11); Mose verlor seine Beherrschung, sodass er zum Mörder wurde (2Mos. 2,11-15), und doch berief ihn Gott zum großen Führer des Volkes Israel (2Mos. 3.4); David hatte eine Affäre und ließ den betrogenen Ehemann außerdem noch umbringen (2Sam. 11), und trotzdem war er ein Mann nach dem Herzen Gottes (1Sam. 13,14; Apg. 13,22); Petrus hielt nicht zu Jesus, als dieser es am schwersten hatte (Mk. 14,27-31.66-72), doch gleichwohl wurde er zum Felsen der Gemeinde (Mt. 16,18).

Diese alle waren Menschen, die große Dinge vor Gott taten. Es waren Menschen, die vor Gott dem Herrn wandelten. Dennoch fielen sie in Übertretung. Sie versagten. Aber trotzdem gehören sie zum Volk Gottes! Obwohl das, was sie getan hatten, keine Kleinigkeiten waren, es waren keine „Verkehrsdelikte“, gehören sie zur Gemeinschaft der Gläubigen. Die Bibel verschweigt nicht die schlechten Taten großer Menschen. Sie spricht offen und ehrlich darüber. Gott will, dass wir wissen, dass auch Noah nicht fehlerlos war.

Könnte es sein, Gott will, dass du nicht irritiert wirst, wenn dir über eine vorbildliche Person etwas Schlechtes bekannt wird? Könnte es sein, Gott will, dass du selbst nicht verzagst, wenn dir selbst wieder einmal etwas passiert, das du bald danach sehr bereust?

Ich bin davon überzeugt, es macht einen Unterschied, ob du angesichts von
Sündhaftigkeit durcheinander gerätst oder nicht. Wenn dich die Sündhaftigkeit eines Menschen irremacht, dann bist du noch nicht davon überzeugt, dass Sünde eine furchtbare Macht im Leben jedes Menschen ist, und zum Leben auch eines Menschen gehört, der mit Gott lebt: So etwas dürfte dem doch nicht passieren! Wenn es dir selbst passiert ist, dann bedrückt es dich, und du trachtest vermutlich danach, dass es anderen nicht bekannt wird.

Noahs Verirrung hält uns dazu an, der Wahrheit und der Realität unserer Sündhaftigkeit ins Auge zu blicken: Wir sündigen gegen Gott und gegen Menschen. Warum ist es wichtig, dies zu erkennen? Wenn du weißt, dass du nicht perfekt bist, gibt es Hoffnung für dich. Du darfst dann zugeben, dass es in deinem Leben vielfach fleischlich zugeht. Die Redewendung „Jeder hat eine Leiche im Keller“ bringt zum Ausdruck, dass jeder Schuld auf sich geladen hat. Die Frage ist lediglich, ob wir bereit sind, uns diese Wahrheit einzugestehen, oder ob wir sie vor uns selbst und vor anderen zu leugnen suchen. Sei daher nicht schockiert, wenn du selbst von einem Fehltritt überrascht wirst. Tu nicht so, als wäre das lediglich ein Ausrutscher, den du gegenüber anderen vor allem verheimlichen müsstest.

Nach einem Fehltritt möchten wir oft einfach nur eine zweite Chance, um kundzugeben, dass wir eigentlich ja besser sind und es auch besser hinbekommen. Wir möchten allzu gerne unter Beweis stellen, dass wir zuverlässig sind. Aber Jesus gibt uns keine zweite Chance. Jesus gibt uns etwas Besseres als eine zweite Chance. Er gibt uns sich selbst als unsere einzige Chance. Er wurde an unserer Stelle zur Sünde. Paulus sagt über Jesus: Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm (2Kor. 5,21). Dazu gab er uns seinen Heiligen Geist.

Jemand hat einmal gesagt: „Die Kirche ist ein Krankenhaus für Sünder und nicht ein Museum für Heilige.“ An dieser Aussage ist vieles richtig: ein Krankenhaus für Sünder. Noah hatte einen Fehler begangen. Und ja: Auch ich mache Fehler. Aber ich bleibe trotzdem Teil der Gemeinde Gottes.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht hier nicht darum, Sünde in ihrer Furchtbarkeit zu relativieren oder sogar als etwas Positives hinzustellen. Schon gar nicht geht es darum, sich zu freuen, wenn jemand, der zu Gott gehört, in seinem Leben gescheitert ist. Aber wir sollten nicht allzu verunsichert reagieren, wenn Christen einen Fehltritt begehen.

Als eine Ehebrecherin zu Jesus geschleppt wurde, verlangten die Gesetzeslehrer ihre Steinigung (Joh. 8,1-11). Damit waren sie insofern im Recht, als sie sich auf geltende Gesetze berufen konnten. Aber das Urteil von Jesus überraschte alle: Ich verurteile dich nicht (Joh. 8,11). Unmittelbar danach aber sagte der Sohn Gottes zu der Frau: Sündige von jetzt an nicht mehr! Die Ehebrecherin war bei Jesus willkommen, und zwar auch mit ihren Fehlern. Aber sie sollte nicht in ihrer Sündhaftigkeit weiterexistieren.

An theologischen Seminaren kommt es vor, dass Studenten sich nach einigen Wochen oder Monaten über ihre Studienkollegen oder über die Mitarbeiter verwundern. Sie wundern sich, was ihre Mitchristen so alles sagen, was sie schauen, wohin sie gehen. An einem theologischen Seminar sollte das doch nicht mehr passieren, so meinen sie. Meine Antwort lautet dann: Ja, an dem Seminar, an dem ich unterrichte, sind wir dem Himmel ein Stück näher. (Unser Seminar liegt in den Alpen auf 1200 Meter Höhe). Aber wir befinden uns eben noch nicht im Himmel. Solange wir noch in diesem Leib leben, gehört es leider zu uns, dass wir Fehler begehen. Zwischen Noah und uns besteht da kein Unterschied. Lassen sie uns realistisch sein: Sünde kommt unter uns vor, und das in den besten Häusern, in den besten Gemeinden und in den besten Familien.

Jemand sagte einmal: „Was das Evangelium so anstößig macht, ist nicht, welche Leute es ausschließt, sondern wen es hineinlässt.“ Diese Erfahrung habe ich einmal im Gespräch mit einem tibetischen Flüchtling gemacht. Wir sprachen mit ihm über den christlichen Glauben und über die Verheißung Gottes, Sünden zu vergeben. Daraufhin richtete er an uns die Frage: Vergibt Gott auch einem Mörder? Wir bejahten diese Frage. Allerdings merkten wir bald, was ihn bei seiner Frage interessierte. Sein Vater war nämlich von den Feinden seines Volkes geköpft worden. War Gott also bereit, den Mördern seines Vaters zu vergeben? Können solche Verbrecher für ihre schwere Schuld Vergebung empfangen? Was ist das für ein Gott, der eine solche Schuld zu vergeben gewillt ist?

John Newton, der Dichter des Liedes „Amazing Grace“, nannte dies das größte von drei Wundern: „Wenn ich in den Himmel komme, werde ich drei Wunder sehen. Das erste Wunder wird sein, viele Menschen zu sehen, die ich dort nicht erwartet habe. Das zweite Wunder wird sein, dass ich viele Menschen dort nicht sehen werde, von denen ich dachte, dass sie dort sein werden. Und das dritte und größte Wunder wird sein, dass ich selbst dort sein werde.“

2. Wie die christliche Gemeinschaft mit Sünde (nicht) umgehen soll

Ein weiterer Grund, warum die Heilige Schrift diese Begebenheit von Noah berichtet, liegt darin, dass sie uns zur Warnung gegeben ist. Wie gehen wir mit den Fehlern und Vergehen anderer um? Was machen wir, wenn wir von einem sündigen Verhalten eines Menschen hören?

In dem Bericht über Noah finden wir zwei Möglichkeiten, wie man mit den Fehlern eines anderen umgehen kann: Und Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und erzählte es seinen beiden Brüdern draußen. Da nahmen Sem und Japhet das Gewand und legten es auf ihre Schultern und gingen rücklings und deckten die Blöße ihres Vaters zu und wandten ihre Angesichter ab, damit sie die Blöße ihres Vaters nicht sahen (1Mos. 9,22.23).

Das Bestürzende dieses Abschnitts ist zweifellos Noahs Fehlverhalten. Aber worum es dem Heiligen Geist offenkundig bei diesem Bericht geht, ist, wie die Söhne Noahs auf die Verirrung ihres Vaters reagierten. Am Schluss wurde nicht Noah verflucht, sondern einer seiner Nachkommen.

Manchmal mögen wir denken: Jener Fehler ist nicht mir passiert, sondern dem anderen. Also bin ich fein raus. Aber die Art und Weise, wie du mit der

Sünde eines anderen umgehst, kann bei dir zur Schuld werden. Der Verstoß eines anderen kann zur Stolperfalle für dich selbst werden.

Die eine Art, wie man mit dem Versagen Noahs umgehen kann, wird an dem Verhalten von Noahs Sohn Ham deutlich. Als Ham seinen nackten, betrunkenen Vater entdeckte, unternahm er nichts, um ihn zu schützen.

Was ist eigentlich so schlimm daran, jemanden nackt zu sehen? Was steckte hinter Hams Sünde? Waren es unmoralische Gedanken? War es die Verachtung gegenüber seinem Vater? Der Abschnitt gibt auf die vielfältigen Spekulationen der Ausleger keinerlei Antwort. Hams einziges Vergehen, das berichtet wird, war, dass er seinen Vater erblickte und dann seinen Brüdern davon erzählte. Jemandes Nacktheit zu sehen, bedeutete damals Entwürdigung. Es handelte sich um eine Entehrung des eigenen Vaters. Noah verlor seine menschliche und auch seine soziale Würde. Damit wurde die gottgewollte Bedeutung der Familie massiv beschädigt, und die Autorität des Vaters geriet ins Lächerliche.

Bemerkenswert bei Hams Verhalten ist das, was er nicht machte: Er deckte seinen Vater nicht zu. Er ließ Noah einfach liegen, und er erzählte seine Beobachtungen seinen Brüdern. Er stand seinem Vater nicht bei. Er unternahm nichts, um das Problem seines Vaters aufzufangen. Er posaunte das Scheitern Noahs hinaus. Er lästerte. Er zeigte mit dem Finger auf seinen Vater, und er nutzte die Schwäche, die hilflose Situation Noahs aus. Ham stolperte vermutlich in diese Situation. Dafür konnte er nichts. Aber das sprach ihn von seiner Schuld nicht los. Vielmehr wurde das Problem Noahs zu seinem eigenen Problem.

Unsere heutige Gesellschaft ist unbarmherzig, wenn es um die Fehler anderer geht. Dies illustrierte die MissUniverse-Wahl im Jahr 2015 erneut. Bei der Wahl zur schönsten Frau der Welt in Las Vegas verkündete der Moderator Steve Harvey die Gewinnerin: Miss Columbia. Lächelnd warf die Siegerin dem Publikum Handküsschen zu. Doch sie konnte ihren Sieg nur kurz feiern. Dann nämlich bemerkte der Moderator, dass ihm ein Fehler unterlaufen war. Er hatte die Zweitplatzierte als Gewinnerin verkündet. Verzweifelt versuchte er sich zu entschuldigen. Er habe die Karte falsch gelesen. Die Kolumbianerin sei nur auf dem zweiten Platz gelandet. Miss Universe komme nämlich von den Philippinen. Daraufhin hagelte es Buh-Rufe. Der Moderator versuchte die peinliche Situation zu retten. Was für ein unangenehmer Moment! Der vermeintlichen Siegerin wurde die Krone wieder abgenommen. Und das alles vor einem Millionenpublikum in der ganzen Welt. Mehrmals entschuldigte sich der Moderator. Aber da war es bereits zu spät. Schon am folgenden Tag war die Wikipedia-Seite des Moderators Steve Harvey aktualisiert worden, sodass die ganze Welt über seinen großen Fehler lesen konnte. Ich vermute, dass kaum einer in Europa den Moderator Steve Harvey vor diesen Wahlen gekannt hatte. Und hätte er an diesem Abend alles richtig gemacht, hätte ihn wahrscheinlich auch danach kaum jemand gekannt. Steve Harvey erlangte Berühmtheit wegen eines Fehlers. Und wenn ich ehrlich bin: Es hat schon ein bisschen Spaß gemacht, ihm bei diesem Fehler zuzuschauen.

Ja, unsere Welt ist unbarmherzig, wenn jemand einen Fehler begeht. Aber dieses Phänomen ist nicht neu. Ham reagierte ähnlich. Und würde Ham heute leben, hätte er möglicherweise noch ein Foto von seinem Vater im Zelt gemacht und es bei Facebook gepostet oder per WhatsApp verschickt.

Auch wir erfahren in unseren Familien und in unseren Gemeinden viel über andere Menschen. Das ist normal, wenn man eng zusammenlebt. Uns geht es oft nicht anders als Ham. Irgendwie haben wir das Talent, andere auf frischer Tat zu ertappen. Auch in der christlichen Gemeinschaft. Da sieht man die Schwächen, die Fehler, die Vergehen der anderen. Die Frage jedoch lautet: Wie gehen wir damit um? Treten wir den Fehltritt breit? Thematisieren wir ihn in Gesprächen mit anderen? Verpacken wir unser Tratschen vielleicht sogar fromm als Gebetsanliegen?

Es gibt eine Alternative. Und diese zeigen uns die Brüder Hams. Die Begebenheit zeigt uns, wie wir miteinander umgehen sollen. Noahs Fall zog den Fall seines Sohnes Ham nach sich, gleichzeitig gab es den Brüdern die Gelegenheit, besondere Tugenden zu entfalten. Jede Sünde eines anderen kann sich in beide Richtungen auswirken. Sem und Japhet veranschaulichen, wie man mit der Sünde eines anderen umgehen kann, ohne dass man sich selbst schuldig macht. Sem und Japhet gingen rückwärts in das Zelt. So mussten sie ihren nackten Vater nicht anschauen. Sie wollten von seiner Scham nicht mehr sehen als unbedingt nötig war. Sie wollten ihren Vater an einem moralischen Tiefpunkt nicht weiter demütigen. So bedeckten sie Noah und standen ihm zur Seite.

Das ist genau das, wozu uns die Heilige Schrift auffordert: Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass nicht auch du versucht werdest (Gal. 6,1). Petrus schreibt ähnlich: Vor allen Dingen aber habt untereinander eine anhaltende Liebe! Denn die Liebe bedeckt eine Menge von Sünden (1Petr. 4,8).

Eine gute Veranschaulichung für den Umgang mit Schwächen und Versagen innerhalb der Gemeinde ist der 400-Meter-Endlauf, den man vor einigen Jahren bei den Paralympics verfolgen konnte. Acht Behinderte standen am Start. Jeder von ihnen wollte gewinnen. Der Startschuss fiel. Sie liefen los. Dann, etwa 30 bis 40 Meter vor dem Ziel, geriet einer aus der Spitzengruppe ins Straucheln und stürzte der Länge nach hin. Das wäre die Chance für die anderen Läufer gewesen, denn jetzt waren sie einen Konkurrenten los. Aber da passierte etwas Unvorstellbares: Einer der Läufer unterbrach seinen Lauf, humpelte auf den Gestürzten zu, richtete ihn auf und griff ihm unter die Arme. Der Gestürzte konnte nicht mehr richtig laufen, aber der andere ergriff ihn und humpelte mit ihm weiter. Das sahen die anderen Läufer. Niemand konnte mehr vorbeilaufen. Sie wandten sich den beiden zu, griffen sich allesamt unter die Arme, der Gestürzte befand sich in der Mitte. Dann liefen sie und schleppten sich gemeinsam ins Ziel.

Dies mag ein passendes Bild für die Gemeinde sein. Eine Gemeinde voller Gebrechlicher, aber es ist die Gemeinde Jesu, in der wir uns unter die Arme greifen. Wir haben die Möglichkeit, die Fehltritte unserer Mitchristen zuzudecken und sie mitzutragen. Wir finden Menschen in der Gemeinde, die offensichtliche Schwächen haben. Vielleicht hast du deine Gefühle nicht unter Kontrolle. Vielleicht fallen immer wieder hässliche Worte. Vielleicht hast du gerade Schwierigkeiten in deiner Ehe oder Familie. Als christliche Gemeinschaft sind wir darauf angewiesen, dass wir uns gegenseitig aufhelfen. Das tun wir nicht, indem wir Sünde breittreten oder mit anderen darüber schwätzen. Jesus hat uns etwas Anderes vorgelebt. Aber Jesus hat uns nicht nur ein anderes Verhalten vorgelebt, er hat es überhaupt erst möglich gemacht, ihm entsprechend zu leben: Bei ihm sind wir willkommen, mit unseren Fehlern. Und weil wir selbst Vergebung erfahren haben, können wir auch mit unserem Bruder mitfühlender und mittragender sein.

3. Jesus hat den Fluch der Sünde getragen

Es gibt noch einen dritten Grund, warum diese Geschichte in der Bibel steht, denn die Begebenheit mit Noah ist noch nicht zu Ende. Als nun Noah von dem Wein erwachte und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn getan hatte, da sprach er: „Verflucht sei Kanaan! Ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern!“ Und weiter sprach er: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! Gott breite Japhet aus und lasse ihn wohnen in den Zelten Sems, und Kanaan sei sein Knecht!“ (1Mos. 9,24-27).

Nachdem Gott nach der Sintflut gesagt hatte Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen (1Mos. 8,21), verfluchte Noah angesichts der Geschehnisse seinen eigenen Sohn. Nein. Es war nicht sein Sohn, sondern der Sohn seines Sohnes. In den Segensworten über die beiden anderen Söhne Sem und Japhet wiederholt Noah sogar zweimal den Fluch über einen Enkel, Kanaan: Gepriesen sei der Herr, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Knecht! Gott breite Japhet aus und lasse ihn wohnen in den Zelten Sems, und Kanaan sei sein Knecht!

Warum fiel der Fluch auf seinen Enkel, auf Kanaan, und nicht auf seinen Sohn Ham? Ham kommt in Noahs Rede gar nicht vor! Möglicherweise entdeckte Noah in Kanaan die bösen Eigenschaften, die er bereits bei dessen Vater gesehen hatte. Kanaan ging vielleicht bereits in der Spur Hams. Das mag sein.

Aber dieses Fluchwort war auch eine Prophetie. Denn Kanaan war der Vater der Kanaaniter, der sündigen Einwohner des Landes, in das dann später das Volk Israel einzog. Daher fiel der Fluch auf Israels zukünftige Feinde, die Israel immer wieder zum Götzendienst verführten. Für die ursprünglichen Hörer des ersten Buches Mose war dies wohl die Begründung für das Verhalten der Kanaaniter und eine deutliche Warnung vor dem Götzendienst der Kanaaniter, als sie vor dem Einzug in das verheißene Land Kanaan standen.

Natürlich stellte dieser Fluch für die Nachfahren Kanaans eine große Enttäuschung und Entmutigung dar. Aber es gab eben auch Kanaaniter, die diesen Fluch hinter sich lassen konnten. Ein Beispiel dafür ist die Hure Rahab aus Jericho. Heimlich nahm sie die Kundschafter Israels auf und verhalf ihnen zur Flucht (Jos. 2). Wie vereinbart, hängte sie ein rotes Band über die Stadtmauer, und so wurde sie erlöst (Jos. 6). Die Liste der Glaubenshelden aus Hebräer 11 nimmt die Tat der Hure Rahab auf: Durch Glauben ging Rahab, die Hure, nicht verloren mit den Ungläubigen, weil sie die Kundschafter mit Frieden aufgenommen hatte (Hebr. 11,31).

Das Erstaunliche an der Hure Rahab, der Nachfahrin von Ham war, dass sie zu einer der Stammmütter von Jesus wurde (Mt. 1,5). Aus ihrer Linie kam Christus. Mit anderen Worten: Jesus hatte auch kanaanitisches Blut in seinen Adern und damit das Blut eines Stammvaters, der wegen seiner Sünde verflucht worden war.

Daran wird offenkundig, wie Jesus sich selbst mit verfluchten Sündern identifiziert hat. Auch Menschen aus einem solchen Volk mit einer solchen Herkunft hat unser Heiland in seinem Stammbaum. Jesus selbst trug den Fluch der Sünde. Der Apostel Paulus schreibt: Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch wurde um unsertwillen, denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Gal. 3,13). Wir alle gehören zu einer Menschheit, die unter dem Fluch steht. Ein Blick in die Zeitungen genügt, um das zu erkennen. Wir leben in einer Welt, in der der Frieden zerbrochen ist, in der Gewalt und Korruption herrschen, in der Misstrauen, Neid und Gier regieren. Lasst uns aber auf Jesus schauen, der genau dafür am Kreuz mit seinem Leben bezahlt hat. Jesus hat mit seinem Tod den Fluch auch unserer Sünde getragen.

Amen.