Vollbracht ist das Sühnewerk
Was aber ist dieses Werk genau, das Christus am Kreuz vollbrachte? Wenn wir auf den Zusammenhang achten, in dem der Apostel Johannes diesen Ausruf Jesu mitteilt, liegt es zunächst nahe, an die Erfüllung der Heiligen Schriften zu denken. Kurz vorher heißt es: „Nach diesem, da Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde…“ (Joh. 19,28). Offenbar blickt der Sohn Gottes in seinem Tun und Lassen bis zuletzt auf das geschriebene Wort der Wahrheit. (Vergleiche dazu auch: Joh. 19,24.36.37).
Aber der Grund, warum es Christus am Kreuz so deutlich um die Erfüllung der Schriften ging, lag daran, dass in diesen Schriften Gottes sühnendes Rettungswerk verheißen worden ist.
Jesus Christus, der „gemäß den Schriften“ als Lamm niedergebeugt, verwundet, zerschlagen, misshandelt, geschlachtet und begraben wurde (Jes. 53,4-9), erfüllte durch sein Leiden und durch sein Sterben das ihm vom Vater aufgetragene Werk. Dieses Werk bestand im Kern darin, dass er sein Leben zum „Schuldopfer“ darbrachte (Jes. 53,10). Der Mittler zwischen Gott und den Menschen sühnte vor Gott die Sünden seines Volkes (Hebr. 2,17.18).
Damit fasst dieses sechste Kreuzwort die gesamte Heilsgeschichte zusammen und verkündet deren Erfüllung. Das Wort „Es ist vollbracht!“ ist gleichsam die Klammer, die den Beginn und das Ende der Geschichte zusammenhält.
Es begann in der Ewigkeit, als der Vater den Heilsratschluss in seinem Sohn fasste. Nach dem Sündenfall ging es weiter mit der Kriegserklärung Gottes: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dem Samen der Schlange und dem Samen der Frau.“ (1Mos. 3,15). Wenn einst das Neue Jerusalem mit dem Lob und dem Jubel Gottes erfüllt ist, wird nie endend der Ruf erschallen: Das Lamm, das das Werk Gottes vollbracht hat, ist würdig, zu empfangen Ruhm, Ehre, Preis und Anbetung.
Was in der deutschen Sprache drei Worte sind („Es ist vollbracht„) ist im Griechischen ein einziges Wort. Wohl kein Wort ist für den Teufel und sein Reich vernichtender. Kein Wort hat umgekehrt mehr das Wohlgefallen des Vaters gefunden als dieser Ausruf. Denn darin ist offenbar, dass für das geschändete Recht Gottes vollkommene Genugtuung geleistet worden ist.
Friedenserklärung
Gelehrte, die das Neue Testament ins Hebräische übersetzten, haben das griechische Wort, für das in der deutschen Sprache „Es ist vollbracht“ steht, ebenfalls mit einem einzigen Wort übersetzt. Es ist das Wort „nischalam„. In diesem Wort ist das bekannte Wort Schalom enthalten. Die Übersetzer haben verstanden: „Es ist vollbracht“ heißt so viel wie: Nun herrscht Friede!
Allen Angefochtenen, Verzagten, allen die sich mit der Frage quälen, wie sie Heilsgewissheit erlangen, gilt diese Friedenserklärung vom Kreuz.
Indem wir von uns selbst wegblicken hin auf das vollbrachte Versöhnungswerk am Kreuz auf Golgatha, das der Vater durch die Auferweckung seines Sohnes nach drei Tagen ein für allemal besiegelte, erfassen wir im Glauben den Gnadenbund, der im vergossenen Blut Christi unerschütterlich feststeht. Wir wissen: Wenn Gott der Vater mit dem Werk seines Sohnes Frieden hat, dann können wir es auch haben. Denn dann kommt Gott selbst über den Abgrund auf der Brücke, die er selbst geschaffen hat, zu mir und schließt mich in sein Vaterherz.
Mit dem Ausruf „Es ist vollbracht!“ will Jesus keineswegs sagen: Ich habe meinen Teil getan, nun gehe ich zum Vater, und jetzt seid ihr an der Reihe, um das Weitere für eure Errettung zu erledigen. Er verkündet hier nicht: Ich habe nun die Segnungen der Errettung möglich gemacht, und nun müssen die Menschen sich so konditionieren, dass sie kraft ihres freien Willens ihre Errettung auch verwirklichen.
So zu denken wäre ein riesiges Missverständnis! Unser Herr und Heiland hing keineswegs am Kreuz, unsicher darüber, wer gerettet wird. Vielmehr ist er in seinem Rettungswerk souverän. Noch kurz vorher hatte sich der Sohn Gottes an den Vater gewandt und ausdrücklich gebetet „nicht für die Welt, sondern für die, die du mir aus der Welt gegeben hast“, also für seine Jünger und für alle diejenigen, die durch die weitere Verkündigung an ihn glauben werden (Joh. 17,6-9.20.24).
Unmittelbar im Anschluss an diesen Ausruf Jesu berichtet Johannes: „Und er neigte sein Haupt und übergab seinen Geist“ (Joh. 19,30b). Dass der Herr sein Haupt neigte, besagt indirekt, dass er bis zu diesem seinem Todeszeitpunkt sein Haupt aufrecht hielt.
Am Kreuz verendete nicht eine durch die äußeren Umstände gescheiterte Existenz, sondern hier starb einer, der zu seinem Vater emporblickte und mit seinem Ausruf, „Es ist vollbracht!„, seinen ihm vor Ewigkeiten her gegebenen und für alle Ewigkeiten gültigen Auftrag als erfüllt proklamierte.