Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus!
Man könnte denken, dass Reformation in der Luft lag, damals, als Sacharja lebte. Aber als der Prophet seinen Dienst antrat, merkte man davon nichts. In geistlicher Hinsicht lag das Volk Gottes darnieder.
Aus dem Buch Esra erfahren wir die geschichtlichen Zusammenhänge: Der persische Machthaber Kyros hatte veranlasst, dass das Volk Gottes in das Land der Väter heimkehren durfte (Esr. 1,1-4). Aber es waren vergleichsweise wenige, die sich überhaupt aufmachten, in die Gegend von Jerusalem zu ziehen. Die meisten blieben an den Flüssen Babylons wohnen. Sie hatten sich inzwischen dort eingerichtet. Sie waren ökonomisch und sozial etabliert. Warum sollten sie die Mühe auf sich nehmen und alles verlassen, was sie sich in Mesopotamien aufgebaut hatten, und zu dem offenkundig verfallenen Trümmerhaufen namens Jerusalem ziehen?
Aber einige hatten genau dies gemacht (Esr. 1,5 – 2,67). Gott der Herr hatte den Geist dieser Menschen erweckt (Esr. 1,5). Insofern war zunächst Aufbruch angesagt, auch in geistlicher Hinsicht. Eines der ersten Dinge, die die Rückkehrer in Angriff nahmen, war das Errichten eines Altars (Esr. 3,3-7). Sie setzten ihn an die Stelle, an der ungefähr 70 Jahre zuvor der erste Tempel gestanden hatte, den die Babylonier niedergebrannt hatten. Das Aufstellen dieses Brandopferaltars sollte jedoch nur der Anfang sein. Sie planten außerdem, den Tempel insgesamt wiederaufzubauen. Allerdings konzipierten sie ihn von vornherein in seinen Ausmaßen kleiner als es der Tempel Salomos war: Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Bauleute war auch vergleichsweise gering (Esr. 2,68.69; 3,8-13).
Aber die geringe Zahl derjenigen, die zur Verfügung standen, um überhaupt anzupacken, war nicht das einzige Problem. Hinzu kam Widerstand von außen. Als die Feinde Judas und Benjamins von dem Vorhaben hörten, leisteten sie gegen dieses Bauprojekt erheblichen Widerstand (Esr. 4,1-23). Schlussendlich führten diese Gegenaktionen dazu, dass die gerade erst begonnenen Tempelbauarbeiten zum Erliegen kamen (Esr. 4,24).
In dieser Situation erweckte Gott zwei Propheten: Haggai und Sacharja (Esr. 5,1.2). Diese beiden Männer riefen das Volk auf, nicht zu resignieren, die Arbeit am Haus Gottes nicht einzustellen, sondern trotz allen Gegenwinds den Bau des Tempels in Angriff zu nehmen.
Diese Aufrufe fanden unter der Herrschaft des persischen Königs Darius statt. Nach unserer Zeitrechnung war es das Jahr 520 vor Christi Geburt.
Zunächst trat der Prophet Haggai auf. Seine Botschaft war nicht misszuverstehen. Haggai forderte das Volk auf, wieder an die Aufbauarbeit des Hauses Gottes zu gehen: Ihr wohnt in euren getäfelten Häusern, und das Haus Gottes liegt brach. Haltet doch einmal inne und schaut euch in eurem Leben um, wie kläglich geht es da doch in Wahrheit zu: Ihr sät, aber in Wahrheit kommt nicht wirklich etwas heraus (vergleiche Hag. 1,4-6).
Der Aufruf Haggais war direkt. Das, was er im Namen Gottes verkündete, können wir zusammenfassen mit dem Wort Jesu: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, und dann wird euch alles andere zufallen (Mt. 6,33). Konkret hieß das in jener Zeit: Geht an den Bau des Hauses Gottes zurück!
Haggais Verkündigung machte auch deutlich, dass der von außen gegen das Volk Gottes gerichtete Widerstand nicht der einzige Grund für das Beenden der Arbeit war. Es waren keineswegs allein die äußeren Behinderungen, weswegen die Arbeiter die Baustelle am Tempelplatz verließen. Vielmehr verhielt es sich so, dass sich jeder lieber mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigte. Ja, man war so sehr mit dem Täfeln seines eigenen Hauses beschäftigt, dass man keinerlei Zeit mehr für das Bauen am Haus Gottes fand.
Nur wenige Wochen später trat ein zweiter Zeuge auf: der Prophet Sacharja. Im Unterschied zu Haggai empfing Sacharja von Gott Visionen. Gott ließ ihn schauen, was sich im unsichtbaren Bereich vollzog, also was hinter den sichtbaren Kulissen ablief.
Das ist eine Perspektive, die wir nicht gewohnt sind. Wir sind heutzutage an die Wirklichkeit gewöhnt, die uns die Medien vermitteln. Nicht nur sind wir an diese Vordergründigkeiten gewöhnt, sondern vielfach sind wir auf sie fixiert. Nachrichten über die Ökonomie, über den Dow-Jones-Index, über die große Politik aus Berlin, Washington, dem Mittleren oder Fernen Osten beschäftigen uns nicht nur sehr, sondern verführen uns dazu, diese Informationen für die einzige Wirklichkeit zu halten.
Aber durch das, was der Heilige Geist dem Propheten Sacharja enthüllt, wird deutlich, dass das Sichtbare nicht die einzige Wirklichkeit ist und wahrlich nicht die Wesentliche. Das Entscheidende spielt sich im unsichtbaren Bereich ab. Nicht mächtige Menschen, nicht das, was im Oval-Office oder im Kreml beratschlagt und erörtert wird, ist das Maßgebende, sondern es ist das, was der Prophet Daniel im Blick auf den Größenwahn Nebukadnezars einmal folgendermaßen in Worte fasst: Es ist der Himmel, der herrscht (Dan. 4,23).
Die Visionen, die Sacharja empfing, erhielt er in einer Nacht. Deswegen werden diese Visionen auch „Nachtgesichte“ genannt. Es sind insgesamt acht Nachtgesichte. Wir finden sie in Sacharja Kapitel 1 bis 6.
„Nachtgesichte“ sind sie aber auch deswegen, weil sie an das Volk Gottes gerichtet waren, das von geistlicher Nacht umgeben war. In Wahrheit lag damals alles andere in der Luft als eine geistliche Aufbruchsstimmung. Weil jeder mit sich selbst beschäftigt war, herrschte in geistlicher Hinsicht eine große Leere. Von einem Fragen nach Gott und nach seinem Willen, von einer Sehnsucht nach einer tiefgreifenden Reformation war weit und breit nichts zu spüren.
Aber wie gesagt: Das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, ist nicht die letzte Wirklichkeit. Gott hat nicht aufgehört zu wirken, nur weil wir meinen, ihn nicht zu erfahren. Was damals in Wahrheit im Hintergrund ablief, schildern uns die Nachtgesichte Sacharjas. Wir greifen heute eines dieser Nachtgesichte heraus. Es ist das vierte. Der Titel der Predigt lautet: Rechtsstreit im Himmel.
Wir achten auf drei Punkte:
1. Der Angeklagte im himmlischen Rechtsstreit: der Hohepriester Jeschua (Sach. 3,1)
2. Gottes vorläufige Antwort auf den himmlischen Rechtsstreit: Jerusalem und seine Tieropfer (Sach. 3,2-7)
3. Gottes endgültige Lösung des himmlischen Rechtsstreits: der Spross und der Stein (Sach. 3,8-10)
1. Der Angeklagte im himmlischen Rechtsstreit: der Hohepriester Jeschua (Sach. 3,1)
Der Prophet Sacharja schaute in diesem Nachtgesicht den Hohepriester Jeschua. Jeschua war gemeinsam mit Serubbabel aus Babylon gekommen (Esr. 2,2). Er stammte aus priesterlichem Geschlecht; er bekleidete das Amt des Hohepriesters.
Der Prophet sah diesen Jeschua, als er vor dem Forum des himmlischen Gerichtes stand. Was bei Jeschua sofort ins Auge stach: Er trug schmutzige Kleider.
In biblischen Weissagungen und auch in Gleichnissen spiegelt die Kleidung häufig den geistlichen Zustand wider, in dem sich ein Mensch vor Gott befindet. Denken wir an das Gleichnis des Mannes, der mit einem schmutzigen Outfit zur Hochzeitsfeier kommen wollte. Kaum hatte er den Hochzeitssaal betreten, stellte der Hausherr ihn zur Rede: Freund, wie bist du hereingekommen? (Mt. 22,12). Auch die Gerechtigkeit, die wir von Gott empfangen, wird mit reinen Kleidern verglichen (Offb. 19,8). Indem der Hohepriester uns hier mit unreinen, schmutzigen Gewändern vorgestellt wird, wird uns also die Sündhaftigkeit dieses Mannes vor Augen geführt.
Die Heilige Schrift erwähnt auch an anderen Stellen diesen Jeschua. Zum Beispiel kommt er mehrfach im Buch Haggai vor (Hag. 1,1.12.14; 2,4). Ferner begegnet er uns immer wieder im Buch Esra (Esr. 3,2.8.9; 4,3; 5,2). Wenn wir aufmerksam zur Kenntnis nehmen, was dort über diesen Mann geschrieben steht, bekommen wir den Eindruck, dass wir es bei ihm mit einer durchaus geistlich respektablen Figur zu tun haben. Er scheint in jeder Hinsicht einer der Schrittmacher für den Bau des Tempels gewesen zu sein. Er war gewissermaßen der Vorkämpfer für die damaligen reformatorischen Bemühungen.
Ich lese dazu einige Verse aus Kapitel 3 des Buches Esra: Als aber der siebte Monat nahte und die Kinder Israels nun in ihren Städten waren, da versammelte sich das Volk wie ein Mann in Jerusalem. Und Jeschua, der Sohn Jozadaks, und seine Brüder, die Priester, und Serubbabel, der Sohn Schealtiels, und seine Brüder, machten sich auf und bauten den Altar des Gottes Israels, um Brandopfer darauf darzubringen, wie es geschrieben steht im Gesetz Moses, des Mannes Gottes. Und sie errichteten den Altar auf seiner Grundfeste, denn Furcht vor den Völkern der [umliegenden] Länder lastete auf ihnen; und sie opferten dem Herrn Brandopfer darauf […].
Und im zweiten Jahr nach ihrer Ankunft bei dem Haus Gottes in Jerusalem, im zweiten Monat, begannen Serubbabel, der Sohn Schealtiels, und Jeschua, der Sohn Jozadaks, und ihre übrigen Brüder, die Priester und die Leviten und alle, die aus der Gefangenschaft nach Jerusalem gekommen waren, und sie bestimmten die Leviten von 20 Jahren an und darüber zur Aufsicht über das Werk am Haus des Herrn. Und Jeschua samt seinen Söhnen und Brüdern und Kadmiel samt seinen Söhnen, die Söhne Jehudas, traten an wie ein Mann, um Aufsicht zu führen über die, die das Werk am Haus Gottes taten (Esr. 3,1-9).
Es ist deutlich: Bei dem Hohepriester Jeschua haben wir es nicht mit jemandem zu tun, dem das Reich Gottes gleichgültig war. Das Gegenteil ist der Fall. Dieser Amtsträger gehörte nicht nur zur Vorhut derjenigen, die aus der Babylonischen Gefangenschaft heimgekehrt waren, sondern er war auch der, der maßgeblich den Bau des Brandopferaltars in die Wege leitete. Außerdem brachte er die gebotenen Opfer darauf dar, und er setzte sich auch für den Bau des Tempels ein.
Umso schockierender mag es sein, wenn wir ausgerechnet von dieser respektablen Person erfahren, dass er im himmlischen Gericht in schmutzigen Kleidern dasteht. Wenn wir das über die Feinde Israels lesen würden, die den Tempelbau verhindern wollten, dann wäre das für uns verständlich. Aber der, der uns hier in unreiner Kleidung geschildert wird, war der Hohepriester. Es war der, bei dem man Derartiges wohl am wenigsten vermutet hätte.
Denken wir jedoch auch an das, was der Herr Jesus einmal sagte: Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben versteht, wie viel mehr wird dann der Vater im Himmel euch […] geben (Lk. 11,13). Bei dieser Aussage ist das Bemerkenswerte, dass Jesus sie nicht an Zöllner oder an Huren richtet, sondern an seine Jünger: Ihr seid böse. Der Herr sagte dies zu Petrus, zu Johannes und zu den anderen Männern, die wir heute sehr hochachten.
So wie der Hohepriester Jeschua dasteht, in schmutzigen, unreinenKleidern, so sieht der heilige Gott einen jeden von uns, und zwar selbst dann, wenn wir versuchen, uns fromm, achtbar und nett zu verhalten, oder einen dementsprechenden Eindruck zu erwecken.
Das aber ist nicht alles, was wir in dieser Vision geschildert bekommen. Rechts neben diesem schmutzigen Jeschua steht der Satan. Und dieser Widersacher weist genüsslich auf Jeschuas unflätige Kleidung hin.
Für den Teufel war die Gefangenschaft des Volkes Gottes ein Glücksfall. Durch die Wegführung nach Babylon schien der Fortgang der Heilsgeschichte gekappt zu sein. Denn auf diese Weise war der Opferdienst beendet und auch der, der aus dem Samen Davids kommen sollte, um ihm, dem Teufel, den Garaus zu machen, schien blockiert.
Hinzu kam: Das Babylonische Exil war angesichts der vielen Sünden und des Götzendienstes, der in diesem Volk geherrscht hatte, völlig richtig. Das Gericht war gerecht.
Worüber sich der Satan so maßlos ärgerte und was ihn bis heute ärgert, das ist die Gnade Gottes. Es ist das Erbarmen Gottes. Es ist Gottes Liebe. Diese kann der Teufel nicht ausstehen. Folglich versetzte ihn die Rückkehr eines Teils des Volkes Gottes in Rage. Und natürlich konzentrierte sich seine Wut auf diejenigen, die im Vertrauen auf Gott die Vorreiter des Neuanfangs in Jerusalem waren. Damit fokussierte sich sein Groll nicht zuletzt auf den Hohepriester Jeschua.
Und im Blick auf ihn war sich der Satan durchaus darüber im Klaren, dass er auf ihn Anrechte hatte. Denn dieser Mann war ein Sünder. Er hatte Dreck am Stecken: Schaut euch doch diesen Jeschua an, so unrein wie der ist! So jemand soll Hohepriester sein?!
2. Gottes vorläufige Antwort auf den himmlischen Rechtsstreit: Jerusalem und seine Tieropfer (Sach. 3,2-7)
Aber in diesem himmlischen Gerichtsforum sehen wir nicht nur den schmutzigen Jeschua. Es tritt auch nicht nur der Satan auf. Gegenüber diesem Ankläger steht der Engel des Herrn. In der Kirchengeschichte wurde seit jeher in diesem Engel des Herrn der Herr Jesus Christus vor seiner Fleischwerdung gesehen.
Es ist hoch spannend zu verfolgen, wie dieser Engel des Herrn auf die Angriffe Satans reagierte. Angesichts der Anklagen gegen Jeschua war der Engel des Herrn erregt: Der Herr schelte dich, du Satan; ja der Herr schelte dich, er, der Jerusalem erwählt hat (Sach. 3,2). Offenkundig ist der Engel des Herrn zornig. Bitte achten wir auf das Wiederholen des Scheltens: Der Herr […] er schelte dich, ja der Herr schelte dich! Darin kommt die emotionale Erregung zum Ausdruck.
Es ist ärgerlich und es verfälscht das Wort Gottes, wenn man in manchen neueren Bibelübertragungen als Wiedergabe dieses Verses Folgendes lesen muss: Der Herr wird dir das Wort verbieten, Satan, er wird dich zurechtweisen. So steht es etwa in der Hoffnung für alle-Übertragung. Das ist viel zu glattgebügelt und viel zu weichgespült. Offensichtlich wollten die Bibelübertrager nicht einen „scheltenden Gott“. So milderten sie das ab, was hier geschrieben steht und zwängten es in Worte, die man heute wohl als „korrekte Sprache“ bezeichnen würde. Aber gerade damit nimmt man aus der Reaktion Gottes das Emotionale. Gerade die heftige Reaktion lässt uns nämlich hineinblicken in das Herz Gottes, in das Wunder seines Erbarmens angesichts von jemandem, dessen Leben von Sünde verdreckt ist. Tatsächlich verkündet die Bibel einen Gott, der Emotionen hat. Wie anders wäre es auch möglich bei einem Gott, der die Liebe ist. Zu Gott gehören Emotionen wie Zorn, Erbarmen, Liebe.
Leider sind wir noch immer durch das Denken der alten griechischen Philosophen beeinflusst. Der Philosoph Aristoteles bezeichnete Gott einmal als einen „unbewegten Beweger“.[1] So ungefähr stellen sich viele Menschen bis zum heutigen Tag Gott vor, vergleichbar mit einem Buchhalter. Aber das ist nicht der Gott der Bibel. Der Gott, wie er sich in der Heiligen Schrift offenbart, reagiert auf die Angriffe des Teufels und zwar durchaus auch emotional, eben als einer, der in seiner Liebe entflammt ist.
Aber beim Nachsinnen über das, was hier mitgeteilt wird, habe ich den Eindruck, dass die brennende Liebe Gottes nicht zureichend erklärt, warum der Herr so gereizt reagiert. In der Erwiderung Der Herr schelte dich, ja der Herr schelte dich, spiegelt sich meines Erachtens auch etwas von der Beengtheit Gottes wider.
Denken wir einmal an uns: Wann fühlen wir uns in Auseinandersetzungen provoziert? Häufig ist das gerade dann der Fall, wenn wir uns nicht verstanden fühlen. Oder wenn wir uns in die Enge getrieben fühlen, sodass uns die Argumente ausgehen und wir den Angreifer nicht wirklich zu widerlegen vermögen. Wir können ihn deswegen nicht widerlegen, weil er eigentlich nicht Unrecht hat… irgendwie sogar Recht… und weil er den Schwachpunkt unserer Position messerscharf im Blick hat.
Spreche ich zu menschlich, wenn ich sage: So ähnlich verhält es sich hier? Das Ärgerliche ist nämlich: Satan hat mit seinen Vorwürfen Recht. Jeschua ist ein Sünder. Und Satan hat nun einmal im Blick auf Sünder Ansprüche.
Es ist eben tatsächlich so, dass Gott zu rein ist, um das Böse auch nur anzuschauen (Hab. 1,13). Kurzum, Satan wusste: Ein mit Sünde Beschmutzter und Befleckter kann nicht vor Gott bestehen. Mit anderen Worten: Satans Anklagen brachten Gott – ich rede menschlich – in Verlegenheit. Ich weiß, dass ich hier menschlich rede. Aber ich weise noch einmal darauf hin, dass das zweimalige Schelten des Herrn, durch das diese Erregung Gottes zum Ausdruck kommt, hier ausdrücklich festgehalten ist.
Es hat tatsächlich den Anschein, als wäre der allmächtige Gott durch den fast [!] allmächtigen Satan – menschlich gesprochen – in die Enge getrieben. Genau dies aber bringt die unerhörte Dramatik in die Heilsgeschichte. Es bringt auch Spannung in unser Leben, etwa im Blick auf die Vergebung unserer Sünden.
Hier im vierten Nachtgesicht des Propheten Sacharja hält man geradezu den Atem an: Wie wird es weitergehen mit Jeschua? Wie kommt er aus diesem Gerichtsprozess heraus? Wie verhält es sich mit dem Opfern der Tiere und dem bevorstehenden Bau des Tempels? Wie läuft die Heilsgeschichte Gottes weiter? Wo ist die Lösung?
Um diese brennenden Fragen zu beantworten, wollen wir genau darauf achten, was Sacharja im Folgenden schildert.
Gott der Herr weist zunächst darauf hin, dass er Jerusalem erwählt hat (Sach. 3,2). Warum legt der Engel des Herrn, der – wie gesagt – hier mit der zweiten Person der Dreieinheit identisch ist, seinen Finger auf die Erwählung Jerusalems? Was spielt Jerusalem bei der Auseinandersetzung um den beschmutzten Jeschua für eine Rolle?
Nun, mit Jerusalem wird an den Ort erinnert, in dem seit den Tagen Davids und Salomos der von Gott bestimmte Versöhnungsdienst erfolgte. Mittlerweile war in dieser Stadt der Brandopferaltar wiedererrichtet worden. Das Opfern der Tiere hatte neu angefangen. Mit anderen Worten: Mit dem Hinweis auf die Erwählung der Stadt Jerusalem stellte Gott den Ort ins Zentrum, um den es bei der Auseinandersetzung zwischen dem Herrn und Satan im Kern ging: Es ging um den Versöhnungsdienst.
Dass es darum ging, unterstreicht das zweite, auf das der Herr hier verweist. Gott bezeichnet den Hohepriester Jeschua als einen Brandscheit, der aus dem Feuer gerissen worden ist (Sach. 3,2).
Jeschua wird hier also mit einem verkohlten Stück Holz verglichen, das gerade so eben vor dem Verglühen im Feuer bewahrt worden ist. Anders gesagt: Der Hohepriester Jeschua ist noch gerade so eben der Katastrophe der Babylonischen Gefangenschaft entkommen. Gott hat ihn mit der Absicht errettet, dass der Dienst der Versöhnung nicht mehr länger darniederliegt. Aus diesem Grund verbindet Gott der Herr den Vergleich mit dem verkohlten Stück Holz mit dem Auftrag, Jeschua die schmierigen Kleider auszuziehen und ihm stattdessen die Festkleidung des hohepriesterlichen Versöhnungsdienstes anzulegen (Sach. 3,3-5).
Mit nachdrücklichem Hinweis auf seine Gehorsamsverpflichtung wird Jeschua in seinem Amt als Hohepriester bestätigt: Wenn du in meinen Wegen wandelst und den von mir übertragenen Dienst eifrig wahrnehmen wirst, wirst du mein Haus richten und meine Vorhöfe bewachen, und ich werde dich verkehren lassen unter denjenigen, die hier stehen! (Sach. 3,7). Der Dienst der Versöhnung soll weitergehen.
3. Gottes endgültige Lösung des himmlischen Rechtsstreits: der Spross und der Stein (Sach. 3,8-10)
Aber mit dem Tieropferdienst in Jerusalem ist der himmlische Rechtsstreit keineswegs zum Abschluss gelangt. Das, was Gott dem Satan bisher entgegenhielt, hätte auch niemals den Rechtsstreit geklärt. Nie und nimmer hätte sich Satan in seinen Anklagen mit dem Hinweis auf Tieropfer zum Schweigen bringen lassen. Er wusste: Tieropfer vermögen keine Sünden wegzunehmen.
Übrigens war das Unbefriedigende der Tieropfer auch im alttestamentlichen Volk Gottes stets bekannt. Israel sang davon in den Psalmen. David wusste bereits: Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, Ohren aber hast du mir bereitet. Brandopfer und Sündopfer hast du nicht verlangt. Darauf zitiert David jemanden, der folgendermaßen spricht: Da sprach ich: Siehe, ich komme. In der Buchrolle steht von mir geschrieben. Deinen Willen zu tun, mein Gott, begehre ich. Und dein Gesetz ist in meinem Herzen. Ich habe Gerechtigkeit als frohe Botschaft verkündet (Ps. 40,7-10). Der Tieropferdienst, den der Hohepriester Jeschua auszuüben hatte, war nämlich nicht der letzte Akt im himmlischen Rechtsstreit-Prozess. Das Opfern der Tiere war nur vorläufig. Es konnte nur provisorisch sein. Um den Rechtsstreit endgültig zu klären, musste ein anderer „Jeschua“ kommen. Es musste der kommen, über den Jahrhunderte zuvor die Psalmen und die Propheten geweissagt hatten.
Aus dem Hebräerbrief wissen wir, dass das, was wir eben gerade aus Psalm 40 hörten, auf Jesus Christus zu beziehen ist (Hebr. 10,5-10). Im Licht der Erfüllung dessen, was der Sohn Gottes am Kreuz auf Golgatha tat, waren sämtliche Tieropfer nur ein Erinnern an unsere Schuld. Sie waren lediglich eine Abschattung des einzigartigen und endgültigen Sühneopfers, das Jesus Christus erbracht hat (Hebr. 10,1-4).
Der Prophet Sacharja weist ebenfalls auf diese Erfüllung hin: Höre doch, Jeschua, du Hohepriester. Du und deine Gefährten, die vor dir sitzen, ja ihr seid Männer, die als Zeichen dienen. Denn siehe, ich lasse meinen Knecht, Spross genannt, kommen (Sach. 3,8).
Vielleicht ist es uns bekannt: Bereits vor der Babylonischen Gefangenschaft hatten die Propheten über einen Spross geweissagt. Zum Beispiel hören wir von ihm in Jesaja 11,1: Aus dem Stumpf Isais [des Vaters Davids] wird ein Schössling [Spross] hervorbrechen, aus seinen Wurzeln. Über diesen Spross heißt es kurz darauf, dass die Heidenvölker nach ihm fragen werden (Jes. 11,10). Etliche Kapitel später verheißt derselbe Prophet: Er wuchs vor ihm wie ein Schössling [Spross], wie ein Wurzelspross aus dürrem Erdreich (Jes. 53,2).
Dieser Spross sollte den himmlischen Rechtsstreit ein für alle Mal klären, denn er wird die endgültige Versöhnung bringen, und damit wird auch durch ihn die wahrhaftige Erfüllung des bisherigen so unbeständigen und so schwankenden Priestertums kommen.
Der Prophet Sacharja schaute noch ein Zweites: Denn siehe, der Stein, den ich vor Jeschua gelegt habe – auf den einen Stein sind sieben Augen gerichtet, siehe ich grabe seine Inschrift ein, spricht der Herr der Heerscharen, und ich werde die Sünde dieses Landes an einem einzigen Tag entfernen (Sach. 3,9).
Die vorexilischen Propheten kündeten bereits ebenfalls von diesem Stein. Ich zitiere noch einmal den Propheten Jesaja: Siehe, ich lege in Zion einen Stein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, der aufs Festeste gegründet ist (Jes. 28,16). Aus dem Zusammenhang, in dem diese Aussage bei Jesaja steht, wird deutlich, dass Gott mit dem Jerusalemer Tempeldienst alles andere als zufrieden war. Durch das, was dort ablief, war der Dienst der Versöhnung völlig verderbt. Deswegen ließ der heilige Gott durch den Propheten Jesaja verkünden: Wenn ihr diesen Tempel seht, dann sollt ihr wissen, dass ich einen anderen Tempel errichten werde. Es wird einer sein, der auf einem bewährten Stein gebaut ist, der als Eckstein fungieren wird. Man kann wohl auch übersetzen als Grundstein.
An diese Weissagung knüpft Sacharja hier an. Er bringt zum Ausdruck: Auch der Tempel, der jetzt, also nach der Rückkehr aus Babylon gebaut werden soll, wird nicht der endgültige sein. Der wahre Tempel wird auf einem Stein gebaut werden, der von den Bauleuten verworfen werden wird. So hatte es bereits der Psalmist angekündigt (Ps. 118,22.23). Die Schreiber des Neuen Testaments betonen unüberhörbar nachdrücklich, wer mit diesem verheißenen Eckstein gemeint ist: Jesus Christus (Mt. 21,42; Mk. 12,10.11; Lk. 20,17; Apg. 4,11; 1Petr. 2,7).
Sacharja spricht hier von einem Stein mit sieben Augen. Ich weiß nicht, an was Sie gedacht haben, als Sie das lasen: vielleicht an einen Spielwürfel, den man bei Gesellschaftsspielen verwendet, nur eben, dass auf diesem Würfelstein die ungewöhnliche Anzahl von sieben Punkten eingekerbt ist. Aber es ist wohl nicht richtig, in diese Richtung zu denken. Die Bibelkommentatoren sind sich nicht ganz darüber einig, was gemeint ist. Aber vermutlich sind mit den Augen die Flächen des Steines gemeint. Dann hätten wir es hier mit einem siebenflächigen Stein zu tun. Nun wissen wir alle, dass ein normaler Baustein sechs Flächen hat. Für Bauleute ist ein Stein mit sieben Seiten von vornherein ungeeignet. Sie werfen ihn weg. Aber Gott urteilt über diesen Stein anders. Er bestimmt gerade ihn zu dem grundlegenden Stein seines zukünftigen Tempels.
Übrigens ist im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung, ebenfalls von sieben Augen die Rede. Dort wird uns das Lamm auf dem Thron mit sieben Augen geschildert. Es wird uns dann gleich erklärt, was mit diesen sieben Augen gemeint ist: Es sind die sieben Geister Gottes. Es handelt sich also um die Fülle des Geistes Gottes (Offb. 5,6).
Spross und Stein: Diese zweifache Prophetie Sacharjas, die sich in Jesus Christus erfüllt hat, macht deutlich, worauf der himmlische Rechtsstreit zielt. Mehr noch: Diese Vision weist darauf hin, worauf das gesamte Alte Testament ausgerichtet ist. Es ist ausgerichtet auf den kommenden, auf den wahren Rechtsschaffer Jesus Christus.
Wenn wir das verstanden haben, ist der Schluss des Kapitels nicht mehr überraschend. Der letzte Vers lautet: An jenem Tag spricht der Herr der Heerscharen, werdet ihr einander einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum (Sach. 3,10).
Was uns hier vor Augen geführt wird, ist das biblische Bild für Schalom: Jetzt ist alles gut. Und es bleibt gut. Es ist Friede. Rechtsfriede. Dieser Rechtsfriede ist das Resultat des vollbrachten Werkes Christi auf Golgatha. Dort am Kreuz ist der himmlische Rechtsstreit ein für allemal entschieden worden.
Halten wir fest: Satan, der Fürst dieser Welt tritt als Ankläger auf. Das erschreckend Beklemmende an seinen Anklagen ist, dass sie berechtigt sind. Wenn Jesus Christus nicht für uns in den Riss getreten wäre, wenn der Sohn Gottes diesen Rechtsstreit auf Golgatha nicht geklärt hätte, hätte Satan gewonnen. Aber wegen Golgatha ist dieser Rechtsstreit anders ausgegangen, als Satan sich das gedacht hatte. Jesus Christus hat gewonnen. Er hat der Schlange den Kopf zertreten, und er hat uns damit für Zeit und Ewigkeit gerechtfertigt.
Wenn man heutzutage überhaupt etwas über „Rechtfertigung“ hört, dann klingt das häufig billig, so im Sinn von: „Gott hat dich lieb, er mag dich, und deswegen darfst du dich selbst annehmen und gut zu dir sein. Du brauchst nicht länger auf deine Schuldgefühle oder auf deine Gewissensbisse zu achten, sondern stattdessen darfst du dich um deine Identitätsfindung kümmern.“
Aber das ist eine eindimensionale, eine subjektivistische, eine ichbezogene Verkürzung dessen, worum es bei der Rechtfertigung des Sünders geht. Es ist eine Verdrehung des Evangeliums. Bei der Rechtfertigung geht es nämlich keineswegs um unsere menschlichen Befindlichkeiten. Vielmehr geht es um die Klärung der einen Frage: Wie kann der gerechte Zorn Gottes gestillt werden, und wie kann dem Satan der berechtigte Anspruch auf uns Sünder genommen werden? Denn bei unserer Sünde und unserer Schuld handelt es sich eben nicht um bloße Schuldgefühle. Vielmehr geht es um objektive Schuld. Die ewige Last unserer Sünde ist ein ungeheuerliches Faktum. Wie wir vernommen haben, weiß davon nicht nur der dreieine Gott, sondern auch der Teufel.
Beide, sowohl der heilige Gott als auch der Satan wissen, dass seit dem Sündenfall im Garten Eden dem Teufel ein Anrecht auf die Sünder zusteht. Folglich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Gottes Zorn richtet sich gegen uns, also gegen die Sünder. Dann müssen wir selbst für unsere Schuld bezahlen, und das hätte die ewige Verdammnis geheißen, denn angesichts des heiligen Gottes ist unsere Schuld unendlich. Oder aber Gottes Zorn wendet sich gleichsam gegen sich selbst. Dann müsste der dreieine Gott selbst das Lösegeld entrichten. Er müsste für uns in den Riss treten und unsere Schuld sühnen. Tatsächlich hat Gott das Letztere vor allen Zeiten geplant und in seiner brennenden Liebe innerhalb der Geschichte ausgeführt. Er hat es vollbracht, uns wieder in die Gemeinschaft mit sich selbst zurückzubringen. Er tat es, als er unsere Schuld auf die zweite Person der Dreieinheit warf, auf seinen Sohn Jesus Christus. So wurde der Rechtsstreit endgültig entschieden.
Die gesamte Heilsgeschichte dreht sich um die Klärung dieser Frage: Wie kann Gott trotz unserer objektiven Schuldlast, die uns unter die Herrschaft Satans gebracht hat, wieder mit uns Gemeinschaft haben? Diese Frage ist am Kreuz auf Golgatha beantwortet worden. Wir wollen dabei nicht vergessen: Dieser Rechtsstreit wurde nicht von einem „unbewegten Beweger“ geführt. Vielmehr vollführte diesen Triumph der in heiliger, brennender Liebe bewegte dreieine Gott. Durch Christi Heilswerk auf Golgatha entriss Gott dem Satan die Anklageschrift. Er nagelte sie ans Kreuz (Kol. 2,13-15), und er hat so für Zeit und Ewigkeit seine Gerechtigkeit aufgerichtet, die für Dich, wenn Du glaubst, gilt. Halleluja.
Amen.
[1]) Aristoteles, Metaphysik 12,6.7.