Wortverkündigung aus Markus 14,43-65:

Wortverkündigung aus Markus 14,43-65:

Starke Schwache und ein schwacher Starker

Gewaltsame Konflikte gab es seit dem Sündenfall. Gleich am Beginn der Weltgeschichte brachte Kain seinen Bruder Abel aus Eifersucht um. Kriege gibt es schon fast genauso lange.

Früher waren Kriege meistens übersichtlicher als heute. Für den Großteil der Weltgeschichte sahen Kriege folgendermaßen aus: Ein Land führte gegen ein anderes Land Krieg, und am Ende gewann das stärkere der beiden Länder.

Heutzutage sind wir mit dem Krieg des islamischen Terrors konfrontiert. Viele Menschen haben Angst, auch viele Christen. Immer wieder schrecken uns die Berichte über die Attacken des Islamischen Staates auf. Gegen wen soll man sich dann zur Wehr setzen? Halbherzig versucht man, Angriffe auf die Gebiete des Islamischen Staates zu fliegen. Aber die wenigsten sind davon wirklich überzeugt, dass auf diese Weise der Terror beseitigt wird. Für den Westen besteht das zentrale Problem heute darin, dass der Feind nicht mehr wirklich greifbar ist.

Auch damals vor 2000 Jahren gab es einen Krieg. Dieser Krieg war grundlegend anders als die Kriege, die man bis dahin aus der Weltgeschichte kannte. Fast die gesamte religiöse Elite und die Führungsschicht des Volkes Israel hatten einem einzigen Mann den Krieg erklärt. Der Mann hieß Jesus. Sie hassten ihn so sehr, dass sie ihn töten wollten. Ihnen musste diese Auseinandersetzung als gewinnbar erscheinen: Alle Mächtigen gegen einen Einzigen.

Heute werden wir hören, dass dies trotzdem ein aussichtsloses Unterfangen war. Die Evangelien schildern uns, wie tief die Welt in der Dunkelheit lag. Die Völker kannten Gott nicht. Das einzige Volk, das eigentlich im Licht der Offenbarung Gottes hätte leben können, waren die Juden. Aber durch ihre Sünde aufgrund ihrer Selbstgerechtigkeit und ihres Abfalls von Gott waren sie nicht besser als ihr Umfeld, für das sie eigentlich ein Licht hätten sein sollen.

Im Prinzip war sich die gesamte Welt einig: Wir sind gegen Jesus. Bei aller Uneinigkeit untereinander: Die Menschen hatten sich ihr eigenes Reich geschaffen: das Reich dieser Welt.

In Psalm 2 wird diese Situation folgendermaßen in Worte gefasst: Warum toben die Heiden und murren die Völker so vergeblich? Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren halten Rat miteinander gegen den Herrn und seinen Gesalbten. Es ist deutlich: Das Reich dieser Welt ist auf menschlicher Macht und menschlicher Stärke gegründet.

In dieses Reich kam eines Tages der Sohn Gottes. Der Apostel Paulus schreibt über ihn: Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen, und er ist vor allem, und alles ist durch ihn geschaffen (Kol. 1,15.16). Er ist der Sohn Gottes und damit der Inbegriff von Stärke und Macht. Dieser Starke wurde Mensch. Er trat in diese Welt, und er fing an, ein anderes Reich zu verkündigen: das Reich Gottes.

Wer gedacht hätte, Gott würde durch seinen Sohn nun einmal richtig aufräumen und jedem zeigen, wo der Hammer hängt, der sah sich von Anfang an getäuscht. Geboren wurde Jesus Christus nicht in einem Palast, sondern in einem ärmlichen Stall. Die Familie, in die er hineingeboren wurde, bestand aus unbedeutenden Leuten. Er selbst verdingte sich zunächst als einfacher Zimmermann.

Dann trat er an die Öffentlichkeit. Er vollbrachte Wunder. Sogar die Natur gehorchte ihm. Warum aber nutzte er diese seine Macht nicht aus, um den Reichen dieser Welt den Garaus zu machen? Warum setzte er seine Kraft nicht ein, um die Römer zu vertreiben? Viele seiner Zeitgenossen konnten das nicht verstehen, und sie hassten ihn deswegen. Das Reich, das Jesus Christus brachte, sah schwach aus. Seine eigentlichen Waffen waren nicht seine Wunder, sondern das Wort, das er predigte. Das Reich Gottes war und ist ein Reich, das alle Vorstellungen von einer Supermacht auf den Kopf stellte. So war es damals, und so ist es heute. Besonders prägnant zeigte sich dies am Ende von Jesu irdischem Leben. Da trat das Reich dieser Welt noch wesentlich massiver auf, und Jesus erschien noch schwächer und hilfloser als sonst.

Aber so ist es nur, wenn man auf das Äußerliche achtet. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass die scheinbar Starken die eigentlich Schwachen sind, und dass der, der schwach aussieht, in Wirklichkeit der Starke ist.

Das Thema der Predigt lautet: Starke Schwache und ein schwacher Starker. Wir achten dabei auf drei Punkte:

  1. Starke Schwache: die Juden
  2. Schwache ohne Stärke: die Jünger
  3. Ein schwacher Starker: Jesus Christus

 

  1. Starke Schwache: die Juden

Und sogleich, als er noch redete… so heißt es am Beginn des Abschnittes (Mk. 14,43): Auf Jesus und seine Jünger marschierte ein Trupp zu. An der Spitze lief Judas, einer der zwölf Jünger. Wenige Stunden zuvor hatte er noch gemeinsam mit Jesus am Tisch gesessen. Jetzt schritt er an der Spitze von Vertretern des Judentums und deren Helfern.

Warum benötigten die obersten Juden überhaupt Judas? Warum holten sie Jesus nicht einfach am Tag ab? Es war schlicht die Angst vor großen Teilen der eigenen Bevölkerung. Diese urteilten noch immer positiv über Jesus. Also blieb nichts Anderes übrig, als die Gefangennahme nachts vorzunehmen. Da aber war die Dunkelheit das Problem. Also brauchte man jemanden wie Judas, der die Plätze genau kannte, an denen Jesus sich aufzuhalten pflegte. Schließlich trafen sie ihn im Garten Gethsemane. Das war ein kleines Grundstück etwas außerhalb von Jerusalem. Jesus hatte dort zu seinem Vater gebetet. Die Jünger hatten sich nicht sonderlich lobenswert verhalten. Sie hatten nahezu während seines gesamten Gebetskampfes geschlafen, und das, obwohl der Herr sie ausdrücklich aufgefordert hatte, wach zu bleiben.

Nun also steuerte eine bewaffnete Gruppe von Männern auf Jesus und seine Jünger zu. In der Hand hielten sie Schwerter und Schlagstöcke. Das lesen wir sowohl in Vers 43 als auch noch einmal in Vers 48. Jesus erklärte ihnen: Ihr seid ausgezogen wie gegen einen Räuber mit Schwertern und Stöcken, um mich gefangen zu nehmen? Täglich war ich bei euch im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht ergriffen (Mk. 14,48.49).

Man könnte fragen: Wieso steht das zwei Mal in diesem Abschnitt? Es ist doch selbstverständlich, dass Soldaten bei einer Verhaftung Schwerter und Schlagstöcke mitnehmen? Wenn die Bibel etwas eigentlich Naheliegendes betont, dann sollten wir darauf achtgeben. Denn dann geht es darum, dass wir etwas lernen dürfen. In diesem Fall lautet die Lektion: Es ist absurd, es ist grotesk, mit Schwertern und Stöcken gegen das Reich Gottes in den Krieg zu ziehen.

Als der Trupp auf Jesus und seine Jünger traf, ging Judas auf Jesus zu und küsste ihn. Das klingt seltsam, ist es aber nicht. Damals war das die gängige Form, um gute Freunde zu begrüßen. Einen Kuss zu geben, war damals also nicht etwas Seltsames. Aber es war grausam. Denn mit einer Geste der Freundlichkeit, der Vertrautheit verriet Judas Jesus. Der Kuss war nämlich das Zeichen, das Judas mit den obersten Juden ausgemacht hatte: Den, den ich küssen werde, der ist’s. Den ergreift und führt ihn sicher ab (Mk. 14,44).

Genau das taten die Henkersknechte dann auch. Sie nahmen Jesus fest (Mk. 14,46). Das Wort, das hier mit festnehmen übersetzt ist, sollten wir uns genauer anschauen. Denn wie die Schwerter und Stöcke kommt es in diesem Abschnitt ein weiteres Mal vor, und zwar als Jesus feststellte: Täglich war ich bei euch im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht ergriffen (Mk. 14,49). Das Wort, das mit festnehmen und dann hier mit ergreifen übersetzt worden ist, heißt eigentlich besiegen oder beherrschen. Für jeden, der diesen Abschnitt liest oder der damals die Ereignisse beobachtete, war eines klar: Die starken Leute mit ihren Schwertern und Stöcken ergreifen den Schwachen.

Hier wollen wir innehalten: Der Herrscher, der Schöpfer der Welt wird beherrscht, wird besiegt von seinen Feinden, vom Reich dieser Welt. So sah es damals und auch heute für alle oberflächlichen Beobachter aus. Kaum hatten die Soldaten Jesus gefangen genommen, führten sie ihn zum Haus des Hohepriesters Kaiaphas.

Eigentlich waren zu jener Zeit die Römer die Gerichtsherren. Sie herrschten in Israel. Aber sie hatten den Juden erlaubt, ihre eigenen Angelegenheiten in einem eigenen Gericht zu klären. Das war der Hohe Rat. Der Hohe Rat durfte bei Verstößen gegen das jüdische Religionsgesetz Strafen verhängen. Die Römer hielten sich da heraus. Nur die Todesstrafe zu verhängen, war den Juden versagt. Wenn die Juden Todesurteile fällen wollten, mussten sie sich an die Römer wenden. Deswegen wurde Jesus danach noch Herodes und Pilatus vorgeführt.

Das oberste Gericht, der Hohe Rat, bestand aus dem Hohepriester und weiteren Mitgliedern, die vorrangig aus den Reihen der Sadduzäer kamen. Aber auch die Pharisäer waren vertreten. Insgesamt waren es 70 Mitglieder plus der Hohepriester.

In jedem Rechtsstaat verhält es sich so, dass zunächst die Anklage verlesen wird. Anschließend werden die Beweise aufgenommen und Zeugen angehört. Zum Schluss wird auf dieser Grundlage entschieden, ob der Angeklagte freigesprochen oder verurteilt wird und welche Strafe er gegebenenfalls bekommt.

Der Prozess um Jesus verlief anders. Die Verurteilung stand von vornherein fest. Wir wissen das aus dem Markusevangelium. Bereits nach den ersten Streitgesprächen mit Jesus planten die Juden, ihn zu töten. Mit jeder Predigt, mit jedem Gespräch wurden diese Pläne konkreter: Die obersten Priester aber und der Hohe Rat suchten ein Zeugnis, um Jesus zu töten. Doch sie fanden keines (Mk. 14,55). Die Beweise fehlten. Aber das Urteil stand fest. Also nahmen sie falsche Zeugen: Viele legten ein falsches Zeugnis gegen ihn ab, doch stimmten die Zeugnisse nicht überein (Mk. 14,56-59).

Wir erhalten hier einen Einblick in die Art und Weise ihrer Lügen. Sie behaupteten, Jesus habe gesagt: Ich will diesen mit Händen gemachten Tempel zerstören und in drei Tagen einen anderen aufbauen (Mk. 14,58). In Wahrheit hatte der Herr jedoch gesagt: Zerstört ihr diesen Tempel, und ich werde ihn in drei Tagen wiederaufrichten (Joh. 2,19).

Aber im Grunde war der Prozessverlauf nicht wichtig. Denn das Urteil stand ohnehin fest. Allerdings hatten die Ankläger noch immer nichts Greifbares gegen Jesus in der Hand, nichts, außer sich widersprechende Zeugenaussagen.

Da beschloss der Hohepriester, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Er stand auf, trat in die Mitte des Raumes und stellte die Frage: Antwortest du nichts auf das, was sie gegen dich aussagen? (Mk. 14,60). Jesus antwortete tatsächlich nichts. Also stellte der Hohepriester die Frage, ob er der Messias und der Sohn des Hochgelobten sei (Mk. 14,61). Beide Personen wurden im Alten Testament an unterschiedlichen Stellen angekündigt.

Die Antwort Jesu: Ich bin es (Mk. 14,62), brachte den Hohen Rat zum Beben. Der Hohepriester zerriss sein Gewand. Er schrie: Was brauchen wir weitere Zeugen? Ihr habt die Lästerung gehört! Was meint ihr? (Mk. 14,63.64). Was die anderen meinten, stand außer Frage: Jesus wurde einstimmig zum Tod verurteilt.

Der Hohe Rat zeigte eine nach außen getragene Stärke. Aber noch begriffen diese Menschen nicht, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatten. Es schien so, als beherrschten die Richter die Situation, als hätten sie die Macht. Sie konnten mit Jesus machen, was sie wollten. So schien es jedenfalls. Denn der Einzige, der wirklich stark war, war der augenscheinlich Schwächste.

Bevor wir zu ihm kommen, wollen wir uns im zweiten Punkt eine andere Gruppe von Menschen anschauen, die lediglich am Anfang der Geschichte überhaupt eine Rolle spielen: die Jünger.

  1. Schwache ohne Stärke: die Jünger

Gehen wir ein paar Stunden zurück. Nach dem Ende des Passahmahls, an dem Jesus das Heilige Abendmahl eingesetzt hatte, brach er mit seinen Jüngern auf. Plötzlich schockierte er sie mit einer Ankündigung. Es war nicht das erste Mal, dass er etwas sagte, was den Jüngern nicht gefiel. Aber dieses Mal was es insofern etwas Alarmierendes, als er hinzufügte: Es wird in dieser Nacht passieren, und ihr werdet alle an mir Anstoß nehmen (Mk. 14,27). Petrus reagierte prompt: „Ich niemals! Alle anderen vielleicht. Aber ich nicht!“ (Mk. 14,29). Darauf erwiderte Jesus: Wahrlich, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen! (Mk. 14,30). Er [Petrus] aber sagte desto mehr: Wenn ich auch mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen! Das gleiche sagten aber auch alle (Mk. 14.31).

Danach ging Jesus beten. Er erteilte den Jüngern einen nicht besonders schweren Auftrag: wach zu bleiben und ebenfalls zu beten (Mk. 14,32). Es ging nach dem Motto zu: In dieser Nacht wird es noch viele Möglichkeiten geben, eure Entschlossenheit unter Beweis zu stellen. Fangen war einmal ganz einfach an. Aber schon bei dieser ersten, einfachen Aufgabe scheiterten die Jünger. Sie schliefen drei Mal ein. In dem Moment, als Jesus im Begriff stand, die Jünger ein drittes Mal aufzuwecken, kam der Trupp mit den Schwertern und Stöcken.

Die Jünger sahen die bewaffneten Männer. Bei ihnen machte sich blanke Angst breit. Eben noch hatten sie ein großes Mundwerk gehabt. Aber jetzt? Kein Wort lesen wir von den Jüngern. Vermutlich begriffen sie in diesem Moment, dass die Hoffnungen, die sie auf Jesus gesetzt hatten, sich nicht erfüllen würden.

Im Grunde waren sie gar nicht so anders als die obersten Juden. Auch sie wollten ein irdisches Reich mit dem Messias als König. Auch sie wollten Macht, Ansehen, Besitz. Jesus hatte ihnen immer wieder gesagt, dass es bei ihm nicht darum gehe. Aber das wollten sie entweder nicht hören, oder sie verstanden es nicht. Auf jeden Fall: In diesem Moment brach ihre Traumwelt zusammen. Ein Häufchen von zwölf Leuten: elf Jünger plus Jesus gegen einen bewaffneten Trupp von Soldaten. Sie hatten keine Chance: „Jesus hat verloren und wir gleich mit ihm.“

Immerhin, einer versuchte noch, sich verzweifelt zu wehren: Einer von denen, die dabeistanden, zog das Schwert, schlug den Knecht des Hohepriesters und hieb ihm ein Ohr ab (Mk. 14,47). Johannes verrät uns in seinem Evangelium, dass dieser Mann Petrus war: „Man kann es ja mal versuchen…“ Vermutlich kam Petrus nur deswegen so glimpflich davon, weil Jesus dem Mann das Ohr sofort heilte. Es war ein letzter Versuch, das zu retten, was nun verloren zu sein schien.

Während der Hohe Rat mit Schwertern gegen Jesus in den Kampf zog, wollte Petrus mit seinem Schwert für das Reich Gottes kämpfen. Aber das Reich Gottes lässt sich mit menschlicher Gewalt weder besiegen noch verteidigen.

Nachdem dieser letzte Versuch gescheitert war, blieb nur noch die Flucht: „Nur weg von hier! Jesus hat verloren. Aber vielleicht können wir ja unser Leben retten.“

Der Prophet Sacharja hatte es angekündigt (Sach. 13,7). Jesus hatte die Weissagung aufgegriffen, und jetzt erfüllte sie sich. Dabei spielte ein junger Mann eine besondere Rolle (Mk. 14,51.52). Dieser Mann tauchte plötzlich auf. Die Jünger waren schnell genug geflohen. Wahrscheinlich hielten die Soldaten ihn ebenfalls für einen Jünger und wollten wenigstens ihn gefangen nehmen. Doch sie bekamen nur seinen Mantel zu fassen, das Einzige, was er anhatte. Er riss sich los und rannte nackt davon durch die Nacht.

Wer war dieser Mann? Wir wissen es nicht. Aber von allen Vermutungen ist diejenige wohl die wahrscheinlichste, dass es Markus selbst war, der Mann, der dieses Evangelium aufgeschrieben hat.

Wenn diese Vermutung zutrifft, dann ist dies das einzige Mal, dass Markus in seinem eigenen Evangelium vorkommt. Und dort flieht er splitterfasernackt in die Dunkelheit und lässt Jesus ebenfalls im Stich.

Es ist nicht gerade eine Begebenheit, die wir über uns selbst erwähnen würden, oder? Dann würde uns Markus anhand von sich selbst zeigen, wo wir uns in diesem Evangelium wiederfinden können. Das Verhalten dieses jungen Mannes macht es deutlich. Irgendwie gehörte auch dieser junge Mann zu Jesus. Aber im entscheidenden Moment rannte er weg, anstatt treu zu Jesus zu stehen. Genauso wie Markus sind auch wir immer wieder Jesus gegenüber untreu.

Die Gefangennahme fand bekanntlich in einem Garten statt. Dieser Garten erinnert an einen anderen Garten. In jenem Garten hatten Menschen den Auftrag, treu zu Gott zu stehen. Es waren die beiden ersten Menschen, Adam und Eva. Wir wissen alle, dass sie nicht treu zu Gott standen. Auf diese Weise stürzten sie sich selbst und die gesamte Welt in das Chaos aus Sünde, Elend, Leid und Tod. In dieser Welt lebten auch die Jünger. Und auch sie hielten dem Druck nicht stand, sondern knickten ein. Während die anrückenden Juden wenigstens noch stark erschienen, wirkten die Jünger nur noch schwach: völliges Versagen auf ganzer Linie.

  1. Ein schwacher Starker: Jesus Christus

Am schwächsten von allen erscheint Jesus. Machtlos ausgeliefert an Menschen, die ihn grundlos gefangen nahmen, in einem lächerlichen Schauprozess aburteilten und am Ende unseres Abschnitts bespuckten und schlugen.

Der Prophet Jesaja schrieb mehr als 700 Jahre vorher Folgendes über Jesus: Er hatte keine Gestalt und keine Pracht. Wir sahen ihn, aber sein Anblick gefiel uns nicht. Verachtet war er und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut; wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt, so verachtet war er, und wir achteten ihn nicht (Jes. 53,2.3). So war Jesus damals: unansehnlich, machtlos, schwach.

Aber in Wahrheit war Jesus der Einzige, der wirklich wusste, was passierte. Jesus war der Einzige, der alles unter Kontrolle hatte. Das klingt seltsam, wenn man den Bericht oberflächlich liest. Aber wenn wir ihn genau lesen, wird es deutlich: Jesus war es, der als Einziger von seinem eigenen Tod sprach, und zwar noch bevor die Juden sich einig waren, wie sie ihn töten könnten.

Einige Zeit vor seinem Tod sagte er über sich selbst: Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wieder nehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir aus. Ich habe Vollmacht, es zu lassen, und habe Vollmacht, es wieder zu nehmen (Joh. 10,17.18).

Nur einen Vers vor unserem Abschnitt, in Markus 14,42, sprach Jesus zu seinen Jüngern: Steht auf, lasst uns gehen. Siehe, der mich verrät ist nahe. Jesus wusste also, dass die Soldaten kommen würden. Er rannte nicht weg. Er wartete auch nicht. Er ging ihnen entgegen. Jesus verlor niemals die Kontrolle. Er sagte den Verrat voraus.

Er sagte auch voraus, dass die Jünger ihn verlassen würden: damit die Schriften erfüllt werden (Mk. 14,49). In Vers 27 lesen wir das, was er kurz vorher seinen Jüngern gesagt hatte, indem er den Propheten Sacharja zitierte: Und Jesus spricht zu ihnen: Ihr werdet in dieser Nacht alle an mir Anstoß nehmen; denn es steht geschrieben: „Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werden sich zerstreuen“.

Bitte erinnern wir uns auch daran, dass Jesus bereits mehrfach seinen Tod vorausgesagt hatte. Er wusste alles, und er hatte alles unter Kontrolle. Aus dieser Perspektive wirkt es geradezu ironisch, wenn die Soldaten meinten, sie hätten alles im Griff. Der Apostel Johannes berichtet uns, dass Jesus den Soldaten freimütig erklärte, dass er es ist, den sie suchen. Als er dies sagte, fielen sie erst einmal alle zu Boden (Joh. 18,6). Als Petrus dann dem einen Soldaten das Ohr abschlug, standen alle ratlos herum. Nur Jesus handelte.

Warum aber ließ Jesus Christus dieses alles mit sich machen? Der Grund liegt im ersten Garten. Im Garten Eden hatten Adam und Eva ein Gebot. Sie gehorchten nicht. Sie brachen das Gebot, und versklavten sich. Alle Menschen gerieten unter die Herrschaft der Sünde und des Todes. Aus diesem Grund war Jesus in diesem zweiten Garten. Er hätte weglaufen können. Er hätte einmal mit dem Finger schnipsen können, und alle Soldaten mit ihren Stöcken und Schwertern wären tot umgefallen. Aber er tat es nicht.

Adam und Eva sollten im ersten Garten treu sein. Doch sie waren es nicht. Jesus musste im zweiten Garten nicht treu sein. Aber er war es. Und er ging diesen Weg weiter. Er ließ sich schlagen, er ließ sich anspucken, er ließ sich geißeln, er ließ sich kreuzigen.

Der Grund war seine Liebe zu uns. Er wollte nicht, dass wir unter der Sünde versklavt bleiben. Deswegen gab er seine Herrlichkeit und seine Allgegenwart auf und führte ein weitgehend erbärmliches und hartes Leben. Deswegen nahm er all das Leiden auf sich. Für uns.

Der Prophet Jesaja schreibt ferner: Wir hielten ihn für bestraft und von Gott geschlagen und niedergebeugt (Jes. 53,4). In anderen Worten: Wir hielten ihn für schwach. Genau das hätte man meinen können. Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen. Die Strafe lag auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, jeder wandte sich auf seinen Weg (Jes. 53,5.6).

Was tat Gott? Aber der Herr warf unser aller Schuld auf ihn (Jes. 53,6b). Jesus blieb standhaft. So trug er unsere Sünde, unsere Untreue, unser Weglaufen. Sein Tod war kein Zeichen von Schwäche. Denn er machte sich schwach in seiner Stärke, um uns in seine Gemeinschaft zurückzuholen.

Als Nächstes wurde Jesus vor den Hohen Rat gezerrt. Er wurde falsch beschuldigt: Er aber schwieg und antwortete nichts (Mk. 14,61).

Ich bin jemand, der selten seinen Mund halten kann, vor allem dann nicht, wenn irgendjemand etwas Falsches über mich behauptet, also wenn ich das Gefühl habe, mir geschieht Unrecht. Aber niemals geschah auf diesem Planeten größeres Unrecht als in diesem Prozess. Der Vorwurf lautete: „Jesus, du brichst das Gesetz Gottes. Du brichst es so sehr, dass du den Tod verdient hast.“ Das warf der Hohe Rat dem einzigen Menschen vor, der niemals das Gesetz Gottes gebrochen hatte. Und gleichzeitig brachen sie selbst das Gesetz Gottes am laufenden Band: Sie logen, sie gaben falsches Zeugnis, und sie töteten usw. Jesus hatte die Stärke zu schweigen.

Jesaja schreibt weiter über ihn: Er wurde misshandelt, aber er tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer (Jes. 53,7).

Dann stellte ihm der Hohepriester die entscheidende Frage: „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ – „Ich bin’s“, lautete die Antwort von Jesus: „Ich bin der Messias, ich bin der Sohn Gottes.“ Das reichte für das Todesurteil.

Jesus wurde verraten von einem seiner Jünger, verlassen von den anderen, verleumdet von falschen Zeugen, verurteilt vom jüdischen Gericht. Verraten, verlassen, verleumdet, verurteilt von Menschen, die ihr eigenes Reich bauen wollten.

Dem setzte Jesus das Reich Gottes entgegen. Es ist ein Reich, das sehr schwach aussieht. Als Jesus später vor dem römischen Statthalter Pilatus stand, sagte er zu ihm: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, dann hätten meine Diener gekämpft, damit ich nicht den Juden ausgeliefert werde. Mein Reich aber ist nicht von hier (Joh. 18,36).

Aber das ist nicht die ganze Geschichte vom Reich Gottes. Als der Hohepriester ihn fragte, ob er der Christus sei, sagte er nicht nur: Ich bin’s. Er fügte noch etwas hinzu: Und ihr werdet mich sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels (Mk. 14,62). Unser Heiland sprach hier von dem Tag, an dem er ein zweites Mal kommen wird, um diese Welt zu richten. Es wird der Tag sein, an dem offenbar werden wird, dass Jesus stärker ist als alle Reiche dieser Welt.

Das erste Mal kam Jesus Christus in Schwachheit. Er lag in einer Krippe. Er endete noch schwächer am Kreuz.

Beim zweiten Mal wird er in Stärke kommen. Dann wird das Reich Gottes sichtbar stärker sein als das Reich dieser Welt. Dann wird es ein Ende haben, dass das Reich dieser Welt so stark aussieht, sodass es Jesus zu beherrschen scheint.

Jesus brachte das Reich Gottes in diese Welt. Es war ein Reich, das erst einmal schwach aussah. Und in diesem Reich leben wir bis heute. Als seine Kinder ist uns hier in dieser Welt kein Leben in Stärke verheißen, sondern in Leiden.

Momentan merken wir das nicht so sehr. Gewiss, ansatzweise gelegentlich, wenn wir manchmal in der Schule oder auf der Arbeit schief angeguckt werden oder eine Bemerkung über unser Christsein fallen gelassen wird. Aber wir sollten unseren Blick nicht auf unsere eigene, immer noch recht beschauliche Welt einengen. Vermutlich wurden noch nie in der Geschichte des Reiches Gottes so viele Christen verfolgt wie heute, und zwar weil sie zu diesem Reich gehören. Sie bezahlen es mit Schikanen, mit sozialer Ausgrenzung, mit Folterungen und manchmal sogar mit ihrem Leben.

Vielleicht wird dem einen oder dem anderen von uns mulmig, wenn er daran denkt, dass sich das Klima gegenüber Christen immer weiter verschlechtert. Und gleichzeitig macht nicht wenigen von uns die steigende Zahl von Moslems in unserem Land Angst.

Aber wie bei seinem Sohn so hat Gott auch das Leiden und alle Gefahren bei uns, seinen Kindern, völlig unter Kontrolle. Jesus sprach nicht viel über die Gemeinde, als er auf der Erde war. Das taten dann später die Apostel für ihn. Aber eine Sache sagte er über uns: Ich will meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen (Mt. 16,18). Jesus verhieß nicht, dass es seiner Gemeinde auf dieser Erde gut gehen werde. Er sagte jedoch: Was auch immer passiert – meine Gemeinde wird nicht untergehen. Viele Christen haben ihren Glauben mit dem Leben bezahlt und sind so auch in diesem Punkt Jesus nachgefolgt.

Paulus fragt einmal: Wer will uns trennen von der Liebe des Christus? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Das sind alles Dinge, mit denen Christen heutzutage zu kämpfen haben: Wie geschrieben steht: Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir geachtet! (Röm. 8,36).

In den Augen der Welt scheinen auch wir schwach zu sein. Aber in dem allen tragen wir einen überwältigenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. In anderen Worten: In allen unseren Leiden sind wir stark, weil wir zu Jesus gehören.

Es mag sein, dass der islamische Terror schwer niederzuringen sein wird. Die nächsten Jahre oder Jahrzehnte werden es zeigen. Aber es gibt jemanden, der ist noch schwerer zu besiegen. Nein, es ist unmöglich, ihn zu besiegen: Das ist Jesus Christus, der Sohn Gottes. Viele haben es versucht wie damals der Hohe Rat. Alle sind gescheitert. Weil er unbesiegbar ist. Und wenn du zu ihm gehörst, dann bist du es recht verstanden auch.

Amen.


1) Die abgedruckte Wortverkündigung wurde in der Bekennenden Evangelisch-Reformierten Gemeinde in Gießen am 29.11.2015 gehalten. Bitte lesen Sie vorher den Abschnitt Markus 14,43-65 in einer guten Übersetzung. Hier wird nach der Schlachter 2000-Übersetzung zitiert.