Wider den Irrtum, Christus habe das Gesetz abgeschafft: „Meint nicht, Christus sei gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen!“

Wider den Irrtum, Christus habe das Gesetz abgeschafft: „Meint nicht, Christus sei gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen!“

Der Christ und das Gesetz – Ein umstrittenes Thema

Wer wüsste es nicht: Beim Thema „Der Christ und das Gesetz Gottes“ kochen die Emotionen schnell hoch. Es ist ein umstrittenes Thema, und es war schon immer ein umstrittenes Thema.

Wie verhält es sich mit dem Gesetz? Gehört das Gesetz zum Alten Testament? Ist es nicht „gesetzlich“, sich daran zu orientieren? Wenn man auf das Thema des Gesetzes zu sprechen kommt, wird nicht selten in Kreisen oder in Gemeinden, in denen die Heilige Schrift als Wort Gottes durchaus noch ernstgenommen wird, Folgendes gelehrt: Das Gesetz gilt nicht mehr für Christen. Denn es steht ja geschrieben, zum Beispiel in Römer 6,14, dass die Sünde nicht über euch herrschen wird, denn ihr seid nicht unter Gesetz [!] sondern unter Gnade. Oder man weist darauf hin, dass der Apostel Paulus wenig später schreibt: Christen, das sind Menschen, die dem Gesetz gestorben sind: Oder wisset ihr nicht, Brüder, denn ich rede zu denen, die das Gesetz kennen, dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange wie er lebt? (Röm. 7,1) Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, damit ihr eines anderen zu eigen seid, nämlich dem, der aus den Toten auferweckt worden ist, damit wir Gott Frucht bringen. (Röm. 7,4) Ferner erinnert man an die kurze Aussage: Christus ist des Gesetzes Ende. (Röm. 10,4) Werfen wir einen Blick in den Brief des Apostels Paulus an die Galater. Hier schreibt der Apostel: Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, auf dass ich Gott lebe. (Gal. 2,19) Aus solchen Aussagen zieht man die Schlussfolgerung: Das Gesetz gelte nicht mehr für uns. Heute hätten Christen nicht mehr das Gesetz zu beachten, denn es sei für sie abgeschafft.

Haben die Leute, die so sprechen, nicht eindeutige neutestamentliche Aussagen auf ihrer Seite? Haben sie nicht Recht? Eines ist deutlich: Der Stellenwert des Gesetzes Gottes ist ein umstrittenes Thema.

Bildet euch nicht ein…

Aber ich deutete es bereits an: Das Gesetz ist nicht nur heute ein umstrittenes Thema, es war auch bereits damals, zur Zeit Jesu, ein Thema, das Fragen hervorrief. Das können wir aus Matthäus 5,17 folgern. Indem der Herr sagt: Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen, geht Christus auf eine damals vorhandene Auffassung ein. Er greift eine Meinung auf, die bei seinen Zuhörern aufgetreten war und bestreitet sie: Ihr sollt nicht meinen…

Was sollten diese Leute nicht meinen? Sie waren der Auffassung, der Sohn Gottes sei in diese Welt gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Wie konnte man eigentlich auf den Gedanken kommen, Jesus sei dazu gekommen, um das Gesetz abzuschaffen?

Der Zusammenhang: Das Reich Gottes

Dieses Wort: Meinet nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten abzuschaffen…, lesen wir im Rahmen der Predigt, die in den Kapiteln 5 bis 7 des Matthäusevangeliums überliefert ist. Diese Predigt ist bekannt als Bergpredigt.

Die Bergpredigt können wir ohne weiteres auch als „Reichspredigt“ bezeichnen. Es ist die Königsreichspredigt, in der der Sohn Gottes sein Reich proklamiert. Achten wir bitte einmal auf den Zusammenhang: Unmittelbar vor dem Beginn der Bergpredigt lesen wir, dass Jesus seine Jünger in seine Nachfolge beruft. Er berief bekanntlich zwölf Jünger. (Mt. 4,18-22) Daran schließt sich der Bericht über das Wirken unseres Herrn in Galiläa an. In Matthäus 4,23 heißt es dann: Jesus durchzog ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und verkündigte das Evangelium von dem Reich Gottes, und er heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen im Volk.

In den Kapiteln 8 und 9 werden uns mehrere Krankenheilungswunder berichtet. Diese Heilungswunder waren ein Zeichen dafür, was die Herrschaft Gottes kennzeichnet.

Das alles bestimmende Thema der Bergpredigt ist das Reich Gottes. Was das Reich Gottes inhaltlich ausmacht, führte der Herr in den Kapiteln 5 bis 7 aus.

Der Sohn Gottes beginnt diese Predigt mit den Seligpreisungen. Die Seligpreisungen gelten für die, die unter der Herrschaft Gottes stehen, also die sich im Reich Gottes befinden. Wenn wir das, was wir in den Seligpreisungen hören, als das Grundlegende und Kennzeichnende für das Reich Gottes erfassen, dann fällt uns auf: Jesus verkündete das Reich Gottes, ohne auf das Gesetz einzugehen. Der Herr proklamierte das Reich Gottes, ohne auch nur das Gesetz zu erwähnen.

Ich weise dazu nur einmal auf die vorletzte Seligpreisung: Glückselig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich der Himmel! (Mt. 5,10). Haben wir genau hingehört? Hier spricht der Herr davon, dass Menschen um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Wenn Jesus seinen Zuhörern verkündet hätte: Glückselig sind diejenigen, die um des Gesetzes willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich der Himmel, hätte das jeder Jude nachvollziehen und bejahen können. Aber der Herr spricht hier nicht vom Gesetz, er spricht nicht von der Thora, sondern von der Gerechtigkeit. Warum erwähnt der Herr das Gesetz nicht?

Das Weglassen der Thora entsprach ganz sicher nicht der Erwartungshaltung seiner jüdischen Zuhörer. Vielmehr entstand bei ihnen der Eindruck: Offenkundig verkündet der Herr das Reich Gottes, ohne auf Gottes Gesetz Wert zu legen. Denn anstatt von Gesetz zu sprechen, spricht Jesus nur von der Gerechtigkeit oder, so in der folgenden Seligpreisung, von um meinetwillen. (Mt. 5,11) Hat das Reich Gottes, das Jesus bringt, also nichts mit der Thora zu tun? Geht es da „nur“ um Jesus? Und was genau ist mit Gerechtigkeit gemeint?

Versuchen wir uns einmal in die Situation der ersten Hörer hineinzuversetzen. Die Juden, denen der Herr das Reich Gottes verkündete, lebten in der Erwartung des Kommens des Reiches Gottes. Sie dachten in den Kategorien der Herrschaft Gottes. Aber für sie war die Herrschaft Gottes eng verbunden mit dem Einhalten des Gesetzes, das Gott seinem Volk durch Mose gegeben hatte. Aus dieser Perspektive galten die Pharisäer als diejenigen, die dem Reich Gottes am nächsten waren. Sie galten sozusagen als diejenigen, die bereits an der Pforte des Reiches rüttelten. Denn sie traten mit dem Anspruch auf, sie würden das Gesetz Gottes am ehesten erfüllen.

Jesus aber scheint im Blick auf das Reich Gottes nicht von diesen zu sprechen, sondern von den Armen im Geist, von den Sanftmütigen und den Friedenstiftern usw. (Mt. 5,3ff.) Dabei verschweigt er das für einen Juden Entscheidende am Reich Gottes: das Gesetz. Als Jesus Christus in Galiläa das Reich Gottes verkündete, kam das Gesetz Gottes offenkundig nicht vor. Jedenfalls nicht so zentral, wie es die Juden erwarteten.

Gilt das Gesetz also nicht mehr?

Hat Jesus also das Gesetz abgeschafft? Ist in dem Reich, das mit Jesus Christus gekommen ist, das Gesetz Gottes nicht mehr von Bedeutung? Genau auf diese Frage geht der Herr in Matthäus 5,17-20 ein. Der Sohn Gottes beantwortet die Frage in einer zweifachen Hinsicht, einmal negativ und einmal positiv. Zunächst ist seine Antwort negativ: Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Darauf dann positiv: Ich bin nicht gekommen um aufzulösen, sondern zu erfüllen.

Was heißt im Zusammenhang mit Gesetz und Propheten der Begriff erfüllen? Zur Beantwortung dieser Frage weise ich Sie zunächst einmal auf eine in den Evangelien berichtete Begebenheit hin, die sich kurz nach der Auferstehung Jesu ereignete. Zwei Jünger zogen von Jerusalem nach Emmaus, und ihnen schloss sich der auferstandene Herr an. (Luk. 24,13-35) Im Lauf des sich unterwegs ergebenden Gesprächs erklärt Jesus: O ihr Unverständigen, wie ist doch euer Herz träge, zu glauben an alles, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er begann bei Mose und bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schriften aus, was sich auf ihn bezieht. (Luk. 24,25-27)

Wenig später berichtet Lukas von einer Unterweisung des Herrn an seine Jünger: Er aber sagte ihnen: Das sind die Worte, die ich zu euch geredet habe, als ich noch bei euch war, dass alles erfüllt werden muss, was im Gesetz Moses und in den Propheten und den Psalmen von mir geschrieben steht. (Luk. 24,44)

Haben wir zugehört? Alles was über mich geschrieben steht muss erfüllt werden. Jesus erklärt dieses Erfülltwerden: „In Wahrheit bin ich das Hauptthema des Gesetzes und der Propheten. Ich bin die Erfüllung der gesamten Offenbarung Gottes.“ Entsprechende Aussagen begegnen uns häufiger in den Evangelien, ja im gesamten Neuen Testament. Was aber meint der Herr nun konkret, wenn er sagt: Ich bin gekommen, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen? Die Antwort auf diese Frage gliedere ich in drei Punkte:

1. Jesus kam, um das Gesetz richtig auszulegen

Die Aussage Jesu, Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen, heißt: Jesus Christus kam, um die Heilige Schrift, das Alte Testament, richtig auszulegen. Richtig auszulegen meint: auslegen im Sinn Gottes.

Bekanntlich legten die Schriftgelehrten und Pharisäer ebenfalls das Wort Gottes (das Alte Testament) aus. Sie konnten besser Hebräisch als jeder von uns. Aber trotzdem legten sie das Gesetz falsch aus.

Die damaligen Zeitgenossen waren davon überzeugt, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten die Verteidiger und die Beschützer des Gesetzes Gottes schlechthin waren. In den Augen der Juden galten die Pharisäer und Schriftgelehrten als die großen Lehrer und Bewahrer des Gesetzes Gottes. Bei Außenstehenden standen die Pharisäer in dem Ruf, sie würden das Gesetz Gottes hoch schätzen. Mehr noch: Man meinte, die Schriftgelehrten und Pharisäer seien besonders tugendhaft: Wenn es jemandem gelingen werde, in das Reich der Himmel zu gelangen, dann seien es die Schriftgelehrten und Pharisäer.

Aber unser Herr bringt zum Ausdruck, dass diese scheinbar so gesetzestreuen Leute vom Reich Gottes ausgeschlossen sind: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr gar nicht in das Reich der Himmel eingehen. (Mt. 5,20)

Mehrfach betont der Herr auch, dass die Pharisäer keineswegs gesetzestreu sind. Wie auch immer es nach außen hin erscheinen mochte: In Wahrheit gehorchten sie keineswegs dem Gesetz, der Thora.

Was kritisiert der Herr konkret an den Schriftgelehrten und Pharisäern?

  • Erstens: Ihre so genannte Gerechtigkeit war nichts Anderes als eine oberflächliche, äußerlich zur Schau getragene Heuchelei. Am deutlichsten wird dies in den Weherufen über die Schriftgelehrten und Pharisäer. Hier bezeichnet Jesus sie mehrfach als Heuchler: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten (Lehrer des Gesetzes) und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr die Häuser der Witwen fresst und zum Schein lange betet… (Mt. 23,14). Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr Meer und Land durchzieht, um einen einzigen Proselyten zu machen, und wenn er es geworden ist, macht ihr einen Sohn der Hölle aus ihm. (Mt. 23,15) Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr das Äußere des Bechers und der Schüssel reinigt, inwendig aber sind sie voller Raub und Unmäßigkeit. (Mt. 23,25) Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr getünchten Gräbern gleicht… (Mt. 23,27) Mit anderen Worten: Die so genannte Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer war aufgesetzt. Sie war substanzlos und seicht. Mit einer solchen oberflächlichen, äußerlich kaschierten Gerechtigkeit konnten sie nicht in das Reich Gottes eingehen.
  • Zweitens: Die so genannte Gerechtigkeit der Pharisäer war nicht nur äußerlich und heuchlerisch, sie war auch selbstgemacht. Sie war nach den eigenen, selektiven Vorstellungen konstruiert.

Jesus schildert einmal einen Pharisäer, der damit prahlte, zweimal in der Woche zu fasten. (Luk. 18,12) Im Gesetz verlangte Gott nur ein einziges Mal im Jahr zu fasten: am Versöhnungstag. (3Mos. 16,31)[1] Hier aber war jemand, der zweimal in der Woche fastete, also mehr als hundert Tage im Jahr.

Frage: Haben wir nicht ebenfalls eine selbstgebastelte Liste von Dingen, mit denen wir uns einbilden, sie würden uns frömmer machen? Man bastelt sich eine Liste, durch die man gegenüber anderen Menschen den Eindruck erweckt, man sei religiöser als sie.

Auf dem Gebiet des Fastens konnten die Pharisäer punkten. Doch im Licht der Heiligen Schrift war das alles selbstfabrizierte „Gerechtigkeit“. So verwundert es nicht, dass Jesus über diesen Pharisäer berichtet, er habe bei sich gebetet: O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen. (Luk. 18,11)

  • Drittens: Die so genannte Gerechtigkeit der Pharisäer war nicht nur oberflächlich-heuchlerisch, sie war nicht nur selbstfabriziert und selektiv, sie war auch dadurch gekennzeichnet, dass sie auf den Selbstruhm fokussiert war. Die Pharisäer waren auf sich selbst bezogen. Alles, was diese Leute taten, war dadurch motiviert, von anderen gesehen zu werden und von ihnen Applaus zu bekommen. Wenn die Leute sie bewunderten, dann waren sie glücklich. Der Lohn, für den sie dieses religiöse Theater veranstalteten, war der Beifall der Menge. Der Sohn Gottes bezeichnet einmal eine solche „Gerechtigkeit“ als abscheulich: … was bei Menschen hoch angesehen ist, ist ein Gräuel vor Gott. (Luk. 16,15)

Warum ist eine solche pharisäerhafte „Gerechtigkeit“ so verwerflich? Die Antwort lautet, weil vor Gott alle unsere Gerechtigkeit wie ein schmutziges Kleid ist. (Jes. 64,5) Der Apostel Paulus schreibt zu diesem Thema einmal Folgendes: Wenn irgendjemand meint, er könne auf Fleisch vertrauen, dann könne er, Paulus selbst, das noch viel mehr. Dann nennt der Apostel vier Dinge, auf die er sich damals eigentlich etwas hätte einbilden können: beschnitten am achten Tag; seine Eltern stammten aus dem Volk Israel; er gehörte zum Stamm Benjamin; er war also Hebräer von Hebräern. (Phil. 3,4.5)

Abgesehen von seiner „biojüdischen“ Abstammung weist Paulus im Anschluss daran auf drei Dinge hin, in denen er sich gegenüber anderen hervorgetan hatte: Er war Pharisäer gewesen, das heißt, was die Beachtung der Thora betraf, hatte er zu der strengsten Richtung innerhalb des Judentums gehört (Apg. 26,5); außerdem war er außerordentlich aktiv im Verfolgen der Christen gewesen; und im Blick auf die daraus angemaßte Gerechtigkeit hatte er als jemand gegolten, der ohne Fehl und Tadel war. (Phil. 3,6)

Aber dann betrachtete er sein Leben im Licht Gottes: Angesichts von Christus und angesichts der Gerechtigkeit, die Christus gewirkt hatte, erschien ihm das alles als Dreck. (Phil. 3,7.8) Warum? Dieser einstige Pharisäer hatte erfasst, dass alle Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, in Christus und in seinem Werk zu finden ist. Damit wird am Leben von Paulus der Unterschied offenkundig zwischen einerseits der „Gerechtigkeit“, die die Pharisäer zur Schau stellten, und der Gerechtigkeit, die Jesus meint.

Nachdem der Herr verkündet hatte: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so [wie ihr jetzt seid] werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen (Mt. 5,20), erläuterte er ab Matthäus 5,21 das richtige Gesetzesverständnis: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: „Du sollst nicht töten“. Wer aber tötet, der wird dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: „Jeder, der seinem Bruder ohne Ursache zürnt, wird dem Gericht verfallen sein…“

Mit dem Ich-aber-sage-euch bestreitet der Herr nicht das Gesetz. Vielmehr wendet er sich gegen die Auslegung des Gesetzes, so wie es von den Altvorderen vertreten worden war. Gott geht es in seinem Gesetz nicht um eine äußerliche Gerechtigkeit. Es geht ihm nicht um eine selbstfabrizierte Gerechtigkeit, und schon gar nicht geht es ihm um eine sich selbst rühmende Gerechtigkeit. Vielmehr ist die Gerechtigkeit im Gesetz Gottes erst dann erfüllt, wenn der ganze Mensch von dem Anspruch Gottes auf seine Gerechtigkeit und Heiligkeit erfüllt ist. Darum münden die vergleichsweise langen Ausführungen des Herrn in die Aussage: Ihr sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist… (Mt. 5,48)

Damit macht der Herr deutlich, warum und wozu Gott das Gesetz gegeben hat. Es geht dabei um nicht weniger, als Gott zu entsprechen. Mit einer anderen Gerechtigkeit ist Gott nicht zufrieden. Er kann auch mit nichts anderem zufrieden sein als mit seiner eigenen Vollkommenheit.

Damit wird deutlich, was Jesus hier in Matthäus 5,17 aussagt: Anstatt dass der Sohn Gottes gekommen ist, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, ist er gekommen, um das Gesetz richtig auszulegen. Das meint erfüllen. Aus diesem Grund sagt der Herr gleich darauf: Denn wahrlich, solange bis Himmel und Erde vergangen sind, wird nicht ein Buchstabe noch ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (Mt. 5,18)

2. In Christus wurden Gesetz und Propheten Wirklichkeit

Jesus Christus hat aber nicht nur das Gesetz und die Propheten dadurch erfüllt, dass er aufzeigt, wie das Gesetz richtig auszulegen ist. Er hat das Gesetz und die Propheten auch dadurch erfüllt, dass in ihm das Gesetz und die Propheten Wirklichkeit geworden sind.

Die von den Propheten gegebenen Verheißungen haben sich in Jesus Christus erfüllt. (2Kor. 1,20) Nehmen wir als Beispiel das bekannte Kapitel Jesaja 53: Der Gottesknecht, von dem dort gesprochen wird, hat die Strafe getragen, die eigentlich wir hätten tragen müssen. Christus hat sie getragen, damit wir Frieden haben, also uns zugute. Er hat das Schuldopfer gestellt. Jedes im Alten Testament gebotene Opfer ist ein Hinweis auf das Opfer am Kreuz von Golgatha.

Als Petrus im Garten Gethsemane einem der Soldaten des Hohepriesters das Ohr abgehauen hatte, wandte sich Jesus an Petrus: Stecke Dein Schwert an seinen Platz! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte nicht jetzt meinen Vater bitten, und er würde mir mehr als zwölf Legionen Engel schicken? Wie würden dann aber die Schriften erfüllt, dass es so kommen muss? (Mt. 26,52-54)

Jesus kam, um selbst die Schriften, das heißt das Gesetz und die Propheten, zu erfüllen. Das im Alten Testament Geweissagte, das Schattenhafte der Opfervorschriften und all der anderen Ordnungen, es wurde durch sein Kommen alles vollstreckt. Diese Erfüllung betrifft auch das Gesetz. Christus wurde unter das Gesetz gestellt: geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfangen. (Gal. 4,4.5)

Mit anderen Worten: Christus hat nicht nur insofern das Gesetz erfüllt, als er es (im Gegensatz zur Interpretation der Pharisäer) so auslegte, wie Gott es beabsichtigte, sondern er erfüllte das Gesetz auch dadurch, dass er selbst es einhielt. Christus kam als der zweite Adam. Im Gegensatz zum ersten Adam war er während seines irdischen Lebens in jeder Weise gehorsam. Durch diesen Gehorsam machte er die vielen zu Gerechten. (Röm. 5,19) Mit anderen Worten: Christus hat nicht nur das Heil für uns erworben, als er am Kreuz die Vergebung für unsere Schuld und Sünden durch sein Sühnopfer darbrachte, sondern auch dadurch, dass er während seines irdischen Lebens Gott, seinem Vater, gehorsam war. Christus erfüllte das Gesetz an unserer statt, sodass wir heute vor Gott stehen dürfen, als hätten wir selbst das Gesetz erfüllt.

Das war der Grund, warum Gott, der Vater, seinen einzig gezeugten, ewigen Sohn unter das Gesetz stellte. Christus nahm Knechtsgestalt an, damit er in und mit seinem Leben das Gesetz ganz zur Erfüllung bringen konnte. Nein, Christus kam nicht, um das Gesetz aufzulösen. Er ist nicht der Auflöser des Gesetzes, sondern dessen Erfüller.

3. Christus verrichtet das Gesetz in uns

Damit kommen wir zur dritten Weise, in der Christus kam, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen. Christus kam nicht nur, um das Gesetz und die Propheten dadurch zu erfüllen, dass er die Schriften richtig auslegte, im Gegensatz zu den Pharisäern. Das war der erste Punkt. Christus kam auch nicht nur, um Gesetz und Propheten dadurch zu erfüllen, dass er in vollem Gehorsam das Gesetz Gottes für uns vollbrachte. Christus kam auch, um das Gesetz in uns zu erfüllen.

Der Apostel Paulus schreibt: Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch kraftlos war, das tat Gott, indem er seinen Sohn sandte in der gleichen Gestalt wie das Fleisch der Sünde und um der Sünde willen und die Sünde im Fleisch verurteilte, damit die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit in uns erfüllt würde, die wir nicht gemäß dem Fleisch wandeln, sondern gemäß dem Geist. (Röm. 8,3.4)

Dass Christus kam, um das Gesetz und die Propheten in uns zu erfüllen, tat er dadurch, dass er uns ein neues Herz schenkte. Darin erfüllte er die Verheißung des Neuen Bundes, von dem zum ersten Mal in unmissverständlicher Deutlichkeit der Prophet Jeremia weissagte. Er verhieß dies unmittelbar vor der Zerstörung Jerusalems und des Tempels: Siehe es kommen Tage, spricht der Herr, da ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen Neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss [], sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schließen werde, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Innerstes hineinlegen und es auf ihre Herzen schreiben, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein. (Jer. 31,31-33)

Einst kam in einer Nacht ein Mitglied des Sanhedrin, des höchsten jüdischen Gerichts, zu Jesus. Es war ein Lehrer des Gesetzes. Er hieß Nikodemus. Jesus verunsicherte diesen Gesetzesgelehrten damit, dass er ihm mitteilte: Niemand kann das Reich Gottes sehen, es sei denn, er werde von neuem geboren. (Joh. 3,3) Mit anderen Worten: Nikodemus, du bildest dir ein, ins Reich Gottes zu gelangen. Vielleicht meinst du sogar, du befindest dich bereits im Reich Gottes. Aber du stehst draußen. Bei all deiner Gesetzesgerechtigkeit hast du nämlich eines übersehen: Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch. Was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Du musst von oben geboren werden, von neuem geboren werden. Um in das Reich Gottes zu gelangen musst du aus dem Geist Gottes geboren werden.

Der natürliche Mensch befindet sich in Feindschaft zu Gott. (Röm. 8,5-8) Man kann es auch anders formulieren: Der natürliche Mensch ist jemand, der sich dem Gesetz Gottes nicht unterwerfen will. Er kann sich gar nicht dem Gesetz Gottes unterordnen. Er hasst es. Einzig und allein durch die neue Geburt von oben, die Wiedergeburt, gibt Gott uns eine neue Ausrichtung. Wir empfangen ein neues Herz, eine neue Gesinnung, sodass wir in Wahrheit nach Gott fragen und ihn suchen. Solange du nicht durch den Geist Gottes neu geboren worden bist, vermagst du die Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten mit ihrer Heuchelei, ihrer Selbstbezogenheit und ihrem Selbstruhm nicht zu übertreffen. Darum kann niemand auf diesem Weg in das Reich Gottes gelangen.

Die Gerechtigkeit der Pharisäer und Sadduzäer zu übertreffen heißt: Du benötigst unbedingt den Geist Gottes! Du musst wiedergeboren werden. Wir alle sind geborene Sünder seit Adam. Da gibt es keinen Gerechten, auch nicht einen.

Aber nachdem Christus sein Heilswerk vollbracht hat, hat er zu Pfingsten seiner Gemeinde den Geist Gottes gesandt, damit die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit in uns erfüllt wird, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln.

Von diesem Boden aus werden die Aussagen des Apostels Paulus, dass wir nicht mehr unter Gesetz, sondern unter der Gnade sind, dass Christus des Gesetzes Ende ist, dass wir dem Gesetz gestorben sind (Gal. 2,19) verständlich: Wenn wir durch das Gesetz zu Gott gelangen wollen, werden wir genauso scheitern wie einst die Pharisäer. Nur durch Christus, der gekommen ist, das Gesetz Gottes zu erfüllen, erstens indem er es richtig auslegte, zweitens indem er es für uns erfüllte, drittens indem er es nun durch die Wiedergeburt aus Wasser und Geist in uns erfüllt, können wir Gott wohlgefällig leben.

Es gibt keine andere Gerechtigkeit mehr als die Gerechtigkeit, die, zwar durch das Gesetz und die Propheten bezeugt ist, aber die uns außerhalb des Gesetzes zugeeignet wird, und zwar allen denen, die dem Sohn Gottes und seinem Werk auf Golgatha glauben. (Röm. 3,21.22)

Das Gesetz ist nicht aufgehoben, sondern erfüllt

Alles in der Bergpredigt ist durch Christus beherrscht: Glückselig sind die geistlich Armen, also diejenigen, die nichts haben, die nichts in eigener Kraft vermögen, sondern ihre gesamte Gerechtigkeit von Gott erwarten: Ihnen ist das Reich Gottes geschenkt. Diese Armen im Geist werfen sich auf den, der gekommen ist, um das Gesetz zu erfüllen. Aus diesem Grund antwortet der gleiche Paulus, der in Römer 3,21 ausgeführt hatte, dass Gott den Sünder, der da glaubt, außerhalb des Gesetzes, rechtfertigt, wenige Verse später: Heben wir nun das Gesetz auf durch den Glauben? Auf gar keinen Fall: vielmehr bestätigen wir das Gesetz. (Röm. 3,31)

Diese Wahrheit, dass wir nicht meinen sollen, Christus sei gekommen, um das Gesetz aufzulösen, finden wir wiederholt im Römerbrief. Zum Beispiel: Seid niemand etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn die Gebote, Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, du sollst nicht begehren und welches andere Gebot es noch gibt, werden zusammengefasst in diesem Wort: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.- So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes. (Röm. 13,8) Bitte lesen wir hier genau: Das Gesetz wird nicht durch die Liebe ersetzt, sondern durch sie erfüllt.

Praktisch heißt das: Wenn du dich weigerst, nach Gottes Geboten zu fragen, sage bitte niemandem, du seist ein Christ. Genau das lehrt Jesus in den folgenden Versen: Ich sage euch: Eher werden Himmel und Erde vergehen als dass ein Buchstabe des Gesetzes vergehen wird. Wer nur eines von diesen kleinsten Geboten auflöst, und die Leute so lehrt, der wird der Kleinste genannt werden im Reich der Himmel. (Mt. 5,18.19a) Mit anderen Worten: Wer in der Verachtung des Gesetzes Gottes lebt, hat nicht verstanden, wieso der Sohn Gottes eigentlich kam. Denn das Reich Gottes besteht nicht im Auflösen des Gesetzes, sondern in dessen Erfüllung: Wer sie [die Gebote] aber tut und lehrt, der wird groß genannt werden im Reich der Himmel. (Mt. 5,19)

Es wäre ein Missverständnis zu meinen, indem uns Jesus Christus das Reich Gottes verheißen und geschenkt hat, habe er das Gesetz Gottes abgeschafft. Vielmehr ist der König des Reiches Gottes gekommen, um das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, und zwar erstens dadurch, dass er das Gesetz gottgemäß auslegte (im Gegensatz zu den Pharisäern, die es nur scheinbar einhielten, in Wahrheit sich aber davon entbanden), zweitens dadurch, dass er als einziger dem Gesetz in Wahrheit gehorsam war (für uns, die wir von Adam abstammen), drittens dadurch, dass er kam, um durch die Sendung seines Heiligen Geistes das Gesetz in uns zu vollbringen.

In Psalm 60,6 lesen wir das wunderbare Wort: Du hast denen, die dich fürchten, ein Banner gegeben, dass sie sich zusammenzuscharen um der Wahrheit willen. Genau das macht der Herr in der Bergpredigt: In der Bergpredigt hat er nicht Weltverbesserung gepredigt, er hat nicht eine innerliche Gesinnungsethik verkündet. Vielmehr hat er denjenigen, die Gott fürchten, in seinem Sohn ein herrliches, dreifaches Panier aufgerichtet.


[1]) Fasten war Teil des Demütigens der Seelen.