Kein Hunger nach dem Wort Gottes
Es gab eine Zeit, in der im Land Wirtschaftswachstum herrschte, die Bevölkerung keine Bedrohung von den sie umgebenden Nationen befürchten musste, und zahllose Menschen an den religiösen Veranstaltungen teilnahmen. Diese Zusammenkünfte liefen – heute würde man sagen – „lebendig“ ab. In ihnen wurde viel Musik gemacht, und es herrschte Frohsinn und „gute Stimmung“.
Das Volk, von dem hier die Rede ist, war das Volk Israel. Genauer gesagt: das Nordreich zur Zeit des Königs Jerobeam II. Aber obwohl in dieser Zeit die gottesdienstlichen Veranstaltungen nicht schlecht besucht waren, war Gott über die Situation alles andere als erfreut: kaum jemand fragte nach Wahrheit und Recht.
Zu jener Zeit berief Gott den Propheten Amos: „Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten. Der Herr Jahwe hat geredet, wer sollte nicht weissagen?“ (Amos 3,8). Als Gottes Sprachrohr deckt er auf, dass sich die Menschen trotz aller nach außen zur Schau gestellten Frömmigkeit innerlich vom Gesetz Gottes losgesagt hatten, ja dass sie die Gebote verachteten und das Recht in Gift verwandelt hatten (2,4; vgl. 3,10; 6,12). Sexuelle Verwilderung (2,7), Unterdrückung der sozial Schwächeren bei gleichzeitiger Verschwendungssucht (2,6; 5,11; 6,4) und Sucht nach Gewinnmaximierung (8,5-6) waren an der Tagesordnung.
Weil die Menschen in den religiösen Veranstaltungen nicht wirklich Gott verehrten, sondern sich selbst weideten (4,4-5), rief Gott über sie aus: „Ich hasse, ich verschmähe eure Feste, und eure Festversammlungen mag ich nicht riechen, denn wenn ihr mir Brandopfer und Speiseopfer opfert, habe ich kein Wohlgefallen daran, und das Friedensopfer von eurem Mastvieh mag ich nicht riechen. Tu den Lärm deiner Lieder von mir hinweg und das Geplärr deiner Loblieder mag ich nicht hören“ (5,21-23). Amos erinnert das Volk daran, dass schon einmal, nämlich während der Wüstenwanderung, viele ihrer angeblich gottesdienstlichen Aktivitäten faktisch Götzendienst waren (5,25-27).
Unermüdlich ruft der Prophet das vom Herrn abgefallene Volk auf, zu dem allmächtigen Gott (siehe 4,13; 5,8-9) umzukehren: „Suchet den Herrn und lebet!“ (5,4.6); „Schicke dich an, deinem Gott zu begegnen!“ (4,12). Andernfalls würden sie, die jetzt „faseln zum Klang ihrer Instrumente“ durch die umliegenden Völker verschleppt werden (6,5-6; vgl. 4,2-3; 6,7. 14). Das „Gejauchze der träge Hingestreckten“ werde aufhören (6,7). Ihre Festivals würden in Trauer verwandelt werden (8,10).
Offensichtlich hungerten in jener Zeit die Menschen nicht nach dem Wort Gottes. Bezeichnenderweise gaben sogar die Priester Amos den Rat, dem Volk lieber nicht weiter das Wort Gottes zu verkünden. Sie meinten, das Land würde eine solche Verkündigung nicht ertragen (7,10-12; vgl. 5,10). Lediglich für die Zukunft sieht Amos voraus, dass Gott einen Hunger in das Land senden werde, nicht einen Hunger nach Brot noch einen Durst nach Wasser, sondern danach, das Wort Gottes zu hören (8,11-12).
Parallele zur Gegenwart
Eine Übereinstimmung zwischen der Zeit des Amos und der unsrigen ist nicht zu übersehen. Auch heute besteht kaum Hunger nach dem Wort Gottes. Es ist nicht nur erschreckend, wie allein schon die Bibelkenntnis in den Gemeinden abnimmt, sondern auch, wie gering über weite Strecken das Interesse an dem ist, was im Wort Gottes geschrieben steht. Zwar wird die Bibel nur selten direkt angegriffen, aber um so beharrlicher drängt sich in christlichen Bibelstunden oder, wie man heute zu sagen pflegt, „Bibelgesprächskreisen“, der Eindruck auf, dass das, was das Wort Gottes sagt, nicht wirklich wichtig sei.
Zur Beantwortung der Frage, was die Ursache dafür ist, dass das Wort Gottes kaum noch „in der Gemeinde Gottes reichlich wohnt“, sondern eher an den Rand gedrängt ist, wird man sicher auf die Reizüberflutung durch Medien und Marketing hinweisen müssen. Der heutige Mensch steht Worten skeptisch gegenüber, zumindest aber erscheinen sie ihm im Vergleich zu Bildern unwichtig und austauschbar.
Dieser Trend hin zum Visuellen scheint inzwischen voll in die Gemeinden eingebrochen zu sein. Aber anstatt vor dieser Bedrohung zu warnen, machen hier viele Christen mit, ja sie fördern sogar diese Entwicklung. So entstehen Psycho-„Theologien“, die nicht nur im Licht der Heiligen Schrift unhaltbar sind, sondern die im Kern nur eine Absicht verfolgen: Die emotionalen Bedürfnisse und religiösen Stimmungen derjenigen, die in religiöse Veranstaltungen hineinkommen, sollen gezielt stimuliert und bestätigt werden.
Die Folgen sind mittel- bis langfristig verheerend. Denn auf diese Weise wird der Hörer daran gewöhnt, dass nicht Gott mit seinem Wort ihm im Gottesdienst entgegentritt, sondern dass es vor allem darum geht, spirituell-religiöse Erfahrungen oder emotionale Gruppenerlebnisse zu sammeln. Damit aber wird das Wort Gottes in den Hintergrund gedrängt, ja mehr noch: Es wird den menschlichen Bedürfnissen entsprechend umgeformt, das heißt: Es wird verfälscht.
Man nimmt aus dem Wort Gottes, was einem passt
Unter einer auf die menschlichen Bedürfnisse zugeschnittenen Botschaft ist es dem Menschen unmöglich gemacht, zu erkennen, worum es im Evangelium eigentlich geht. In der Predigt vernimmt der Mensch nicht, dass er auf Grund der eigenen Sünde verdammt ist. Er hört auch nicht, dass er allein durch die in Gottes Wort niedergeschriebenen Heilszusagen gerettet wird, also allein auf Grund des vollkommenen Sühnopfers Christi, das er auf Golgatha erwirkt hat. Statt dessen nimmt er sich allenfalls selbst als unerfüllt wahr. Indem er eindimensionale Plattheiten hört, wie zum Beispiel „Jesus liebt dich“, darf er erfahren, dass er nicht gänzlich unbeliebt ist.
Das Gesetz Gottes wird nicht mehr als Ausdruck der Heiligkeit Gottes und der unbedingten Verpflichtung des Menschen wahrgenommen, sondern es wird auf die Ebene von Lebenshilfen für persönliches Wohlergehen herabgedrückt. So als ob es in der Bibel entscheidend um Antworten auf Fragen geht, wie man mit seinen Minderwertigkeitsgefühlen umgeht oder wie der Stressgeplagte sein unterentwickeltes Powergefühl aufmöbeln kann.
Niemand schließt aus, dass unter einem solchen Programm der Hörer vielleicht den einen oder anderen Lebenstipp erhält. Aber er lernt gewiss nicht, aus den Verheißungen, die Gott in seinem Wort gegeben hat, im Glauben zu leben.
Gleichwohl werden bekanntlich derartige Gottesdienste nicht nur praktiziert, sondern sogar propagiert: Man müsse die Leute dort abholen, wo sie sich befinden. Zuweilen rechtfertigt man solche Veranstaltungen auch damit, dass der Mensch in der Begegnung mit der Wort Gottes seine Würde, seine Partnerschaftlichkeit, seine Wertigkeit nicht verlieren dürfe. Man müsse den Menschen „dialogisch“ an die Bibel heranführen. Das Wort Gottes dürfe allenfalls als Stimulator fungieren, damit der Mensch anfängt, über sich selbst und vielleicht auch über Gott nachzudenken. Gott erscheint hier als der große Psychotherapeut, Lebensberater und Sozialarbeiter, der bei allen Tipps vor allem die freie Entscheidung des hilfsbedürftigen Klienten respektiert. In jedem Fall nimmt der Mensch nur das aus der Bibel, was er für sich als nützlich und zweckdienlich befindet.
Ein solcher selektiver Umgang mit dem Wort Gottes zeigt sich nicht erst seit heute. Eine andere Weise, wie innerhalb der Bibel selektiert wird, und zwar schon seit Jahrhunderten, ist die Aufspaltung zwischen sogenannten Seins- und Heilsaussagen: Der Sühnetod Christi und seine leibhafte Auferstehung seien wirklich so passiert, aber was die Bibel über den Anfang der Welt (SechsTage-Schöpfung) oder über historische Ereignisse berichte, sei nicht Offenbarung Gottes, sondern Niederschlag der frommen Vorstellungswelt des Schreibers. Auf jeden Fall aber seien derartige Aussagen nicht so wichtig. Wer auch in diesen Punkten die Heilige Schrift wörtlich nehme, beachte nicht die „Niedrigkeitsgestalt“ der Bibel. Er sei fundamentalistisch, intolerant, pharisäisch usw.
In diesem Zusammenhang begegnen einem geradezu sophistisch anmutende Darlegungen. Kürzlich konnte man in einem Schreiben, das von den Leitern eines in Süddeutschland gelegenen Missionsseminars unterzeichnet war, erfahren, dass auch wenn man Prophetie im Prinzip für möglich halte, es dennoch berechtigt sei, die Abfassung des Danielbuches erst Jahrhunderte nach der Babylonischen Gefangenschaft anzusetzen. Bibelkritik liege erst dann vor, wenn man das Danielbuch deswegen spätdatiere, weil (kursiv im Original) man echte Prophetie nicht für möglich halte.
Sich unter das Wort Gottes beugen wie unter Gott selbst
Anstatt uns hier mit derartigen Herumtricksereien auseinanderzusetzen, fragen wir, was die Heilige Schrift selbst darüber lehrt, welche Haltung dem Menschen angesichts der Heiligen Schrift angemessen ist.
Im dritten und vierten Kapitel des Hebräerbriefes legt der Schreiber einige Verse aus Ps. 95 aus, namentlich den Vers, „heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verhärtet eure Herzen nicht“. Am Ende seiner Ausführungen schreibt er in Hebr. 4,12-13: „Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist. Es ist ein Beurteiler der Gedanken und der Gesinnungen des Herzens, und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.“
Bitte achten wir darauf, was in diesen beiden Versen steht: Zunächst beginnt der Schreiber mit dem Wort Gottes, der Bibel, und geht dann offensichtlich selbstverständlich zu Gott selbst über, indem er erklärt, wir seien „vor die Augen dessen gestellt, mit dem wir es zu tun haben“.
Noch ein Beispiel. In Hebr.12,25-26 heißt es: „Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet! Denn wenn jene nicht entgingen, die den abwiesen, der auf Erden die göttlichen Aussprüche gab, wieviel mehr wir nicht, wenn wir uns von dem abwenden, der von den Himmeln her redet“. Nachdem vorher dargelegt worden ist, dass die Christen in jedem Gottesdienst in Wahrheit gekommen sind „zum Berg Zion, zur Stadt des lebendigen Gottes und zu Gott, dem Richter aller und auch zu Jesus, dem Mittler eines neuen Bundes, betont der inspirierte Schreiber, dass Gottes Reden durch sein Wort ein „Reden aus den Himmeln“ ist.
Das heißt: Wenn wir das Wort Gottes hören, dann haben wir es nicht mit den psychologischen Befindlichkeiten oder der zeitgebundenen Vorstellungswelt der biblischen Schreiber zu tun, dessen Abstand man beim Lesen überbrücken müsse. Nein, hier spricht Gott selbst. Die Bibel ist nicht Offenbarungszeugnis, sondern Offenbarung Gottes. Beim Lesen des Wortes Gottes haben wir es mit niemand anderem zu tun als mit dem dreieinigen Gott selbst.
Dass sich der wahrhaftige Gott geoffenbart hat, ist alles andere als selbstverständlich. Es ist ein Wunder seiner Gnade. In diesem Wort offenbart der Gott, der nicht lügen kann, wie die Welt begann und wie sie endet, er enthüllt seinen ewigen Erwählungswillen, seine Gebote und seine Gnade in seinem Sohn Jesus Christus. Durch dieses Wort bricht Gott sich einen Weg hin zu dem gottfeindlichen, gesetzlosen und verlogenen Menschen, um ihn aus seinem Unheil zu retten.
Unbestritten setzt Gott beim Vorgang der Offenbarung Menschen ein. Diese Menschen werden nicht zu willenlosen Medien oder Diktiermaschinen. Sie behalten ihre Persönlichkeit, aber Gott formt sie um. Darum erfüllen sie diese Aufgabe nicht freiwillig, sondern Gott beruft sie gegen ihren Willen (siehe zum Beispiel: 2.Petr. 1,21; Jer. 20,7ff).
Weil die Heilige Schrift das Wort Gottes ist (sie enthält es nicht nur), ist sie ganz und gar wahrhaftig. Der Anspruch an den Menschen bleibt bestehen, völlig gleichgültig, ob wir Menschen das ebenso empfinden oder nicht, ob wir das so akzeptieren oder ob wir meinen, wir müssten Gott ins Wort fallen. Das Wort Gottes regiert. Aus dieser Einsicht sprachen die Reformatoren davon, dass die Heilige Schrift die Norm aller Normen (norma normans) ist.
Norm aller Normen
Weil die Heilige Schrift Offenbarung Gottes ist, ist all unser Denken, ist all unsere Lehre und unser Verhalten anhand der Heiligen Schrift zu messen. Zurecht bestanden die Reformatoren darauf, dass die Heilige Schrift nicht nur das letzte Wort hat, sondern auch das formale Prinzip aller Lehre und allen Verhaltens ist. Das heißt, unser Glaube lebt nicht nur aus dem Wort Gottes, sondern er wird auch durch das Wort Gottes gestaltet und geformt. Genau das lesen wir in den bekannten Versen in 2.Tim. 3,15-16.
In dieser Aussage geht es nicht darum, dass die ganze Schrift von Gott eingegeben ist. Dieses wird zwar erwähnt, und gerade in der Gegenwart darf davon kein Millimeter abgewichen werden. Aber die Spitze dessen, was Paulus hier sagt, ist die Genugsamkeit und die Klarheit der Heiligen Schrift: Obwohl Timotheus von Paulus schon eine reiche mündliche „Tradition“ erhalten hatte, ist diese nicht unbedingt notwendig. Die Heiligen Schriften reichen voll und ganz aus, ihn weise zu machen zur Errettung durch den Glauben, der in Christus ist, und verschaffen ihm Klarheit für seine Lehre, seine Korrektur und seine Unterweisung in der Gerechtigkeit.
Geradezu aktuell erscheint der Zusammenhang, in dem der Apostel Paulus dieses schreibt. Unmittelbar vor dieser Aussage spricht der Apostel von Gauklern (Betörern, Sinnverwirrern, Übertölplern, Täuschern). Diese haben nicht nur nichts mit dem Wort Gottes zu tun, sondern, so Paulus, sie stehen im Gegensatz zu diesem Wort (2.Tim. 3,13-14). Ich meine, dass damit im Kern schon die Frage beantwortet ist, ob Gaukeleien und Halligalli mit der Verkündigung des Wortes zusammengehen können. Auch aus vorgeblich pragmatisch-missionarischen Gründen gehört Derartiges nicht in das Rahmenprogramm einer evangelistischen Verkündigung.
Unmittelbar nach der erwähnten Aussage über die Genugsamkeit und Klarheit der Schrift beharrt Paulus darauf, dieses Wort zu gelegener und ungelegener Zeit zu verkünden (1.Tim. 4,1-2). Dieses sagt der Apostel in der Voraussicht, dass einmal eine Zeit kommen wird, in der die Menschen nicht mehr die gesunde Lehre ertragen, die Ohren von der Wahrheit abkehren und sich selbst nach ihren eigenen Lüsten und Bedürfnissen Lehrer aufhäufen werden. Diese werden ihnen dann Geschichtchen erzählen, die ihnen in ihren Ohren kitzeln (2.Tim. 4,1-4). Es hat den Anschein, dass wir heute in seiner solchen Zeit leben.
Als Amos dem Volk Israel prophezeite, dass er einen Hunger nach dem Wort Gottes in das Land senden werde, heißt es erschreckend weiter: Sie werden von einem Meer zum anderen laufen und das Wort des Herrn suchen, aber es nicht finden (Amos 8,13-14).
Ob Gott mit uns heute anders verfahren wird?