„Wie kann der Mensch vor Gott gerecht sein?“ Dies ist bekanntlich die Ausgangsfrage der Reformation. Die Antwort, die sie anhand der Bibel gegeben hat, ist klar: Allein aus Gottes Gnade, durch den Glauben an Jesus Christus (Röm 1,16 f.; 3,21-24), der aus der Verkündigung von Gottes Wort kommt (Röm 10,14). Doch gibt es heute im Blick auf die zentrale Lehre von der Rechtfertigung keine Einigkeit mehr, weder in den Kirchen der Reformation noch unter den Evangelikalen. Darüber hinaus ist die Bedeutung vieler anderer zentraler Aussagen der Reformation bis zur Unkenntlichkeit verblasst.
Die Akademie für Reformatorische Theologie und die Zeitschrift Bekennende Kirche nennen sich bewusst „reformatorisch“ und signalisieren damit, dass sie sich theologisch den Lehren der Reformation zuordnen – nicht in sentimentaler Nostalgie oder im Konservieren äußerer Formen, sondern darin, dass sie mit der Reformation die Heilige Schrift als Gesetz und Evangelium wieder neu und klar herausstellen. Dies ist in unserer Zeit ebenso notwendig wie vor 500 Jahren. Was heißt nun „reformatorisch“? Ich möchte dies anhand des viermaligen „allein“ näher bestimmen.
1. Allein die Schrift
Dass die Bibel für den Glauben und die Theologie maßgeblich sein muss, wusste die römische Kirche schon vor der Reformation. Doch immer wieder schoben und schieben sich unterschiedliche Autoritäten vor die Bibel. Es bilden sich Schulen und Traditionen der Schriftauslegung, die die Bibel erklären wollen. Aber häufig erreichen sie genau das Gegenteil: Die Schrift wird durch unterschiedliche und oft widersprüchliche menschliche Traditionen verdunkelt. Nicht selten wendet sich dann der Außenstehende ab, weil der Streit der Lehrmeinungen nur Skepsis gegenüber der Heiligen Schrift selbst hervorruft.
Die Reformation hat demgegenüber sehr entschieden von der Klarheit der Heiligen Schrift gesprochen und die Bibel selbst zum Maßstab für alle Auslegung gemacht. Also: Nicht die Auslegung erleuchtet die Schrift, sondern die Schrift ist das Licht, das die Auslegung leuchten lässt. Luther sagt:
Derhalben zwingt uns die Not, mit aller Lehrer Schriften zur Biblien zu laufen und allda Gericht und Urteil über sie zu holen; denn sie ist allein der recht Lehenherr und Meister über alle Schrift und Lehre auf Erden.
Martin Luther
Das heißt für uns: Wir beziehen das Licht für die Auslegung der Bibel nicht aus der kritischen Vernunft, der historischen Forschung, einer kirchlichen Tradition oder einem theologischen System, sondern aus der Schrift selbst.
„Allein die Schrift“ heißt auch, dass die Schrift Heilsmittel ist. Sie sagt uns, wer Jesus war und was er getan hat. Durch sie – wenn sie gepredigt oder gelesen wird – schafft Gott den Glauben und die Erkenntnis Christi, denn der Geist Christi kommt nicht neben oder über ihr zum Menschen, sondern weil sie von seinem Geist geredet ist, kommt er mit ihr zum Menschen.
Das reformatorische Bekenntnis zur Bibel geht schließlich davon aus, dass die Bibel in allen Aussagen wahr ist, weil sie Gottes Wort ist. Dieser Tatbestand ist der Grund aller Glaubensgewissheit.
2. Allein Christus
Auch dass Christus der Erlöser und Versöhner ist, wird von der römischen Kirche bekannt. Doch um die durch Christus erworbene Gnade auszuteilen, bedarf es nach römischer Lehre weiterer Vermittler. Maria, Heilige, Priester, Sakramente und vor allem die Kirche selbst schieben sich zwischen Christus und den Christen. Doch weil Christus als Gottessohn zugleich ganz Mensch ist und wirklich auf unserer Seite steht, weil er allein für uns vor Gott getreten ist, darum kann es keine weiteren Mittelspersonen geben. Christus reicht vollkommen aus.
„Allein Christus“ heißt natürlich auch, dass es neben Christus keinen anderen Heilsweg gibt. Andere Religionen wird es zwar immer geben, und Menschen werden mit ihnen ihre Heilserwartungen verbinden, aber nur Christus hat uns mit Gott versöhnt. Kein anderer hat getan, was er getan hat, und kein anderer konnte dieses tun.
„Allein Christus“ heißt schließlich: Christus steht in seinem Leiden und Sterben sowie in seiner Auferstehung und Himmelfahrt als unser Stellvertreter. An unserer Statt hat er sich selbst geopfert und die Strafe für unsere Sünden erlitten und uns mit Gott versöhnt. Er ist der Gerechte, in dem wir vor Gott gerecht sind. Wir haben in ihm immer ein vollkommenes, fertiges Heil, das durch kein menschliches Werk oder menschliches Erlebnis ergänzt werden kann. Auf sein Werk kann der Glaube bauen.
Christus ist das Zentrum der Heiligen Schrift. Von ihm sprachen die alttestamentlichen Propheten und auf ihn hin führt die alttestamentliche Offenbarung. Von ihm handelt das Evangelium. Sein Leiden und Sterben, seine Auferstehung und Himmelfahrt sind die großen Themen der Bibel. Christus steht im Widerspruch zu einer Christlichkeit, die vornehmlich den Menschen, sein Erleben, seine Befindlichkeit und seinen religiösen Werke beschreibt.
3. Allein aus Gnade
Mit dem Begriff Gnade bezeichnet die Bibel Gottes gnädige Gesinnung gegenüber dem Sünder. Sie meint damit nicht eine geistliche Tugend, die dem Menschen durch ein Sakrament eingeflößt wird und ihn zu einem guten Menschen macht, wie es die römische Kirche lehrt. Gottes gnädige Gesinnung gegenüber den Menschen wird in Christus offenbar. Christus macht in seinem Werk deutlich, dass Gott den Menschen so sehr liebt, dass er sich nicht scheut, seinen Sohn, den er lieb hat, in den Tod zu geben, um die Menschen mit sich selbst zu versöhnen. Gott ist also um Christi willen gnädig.
Dass ein Mensch zu Christus kommt und gerettet wird, ist also an keiner Stelle sein eigenes Verdienst. Verdient hat der Mensch seiner Sünden wegen das Gegenteil, nämlich Zorn und Verdammnis. Gott tut auch nichts Unrechtes, wenn er einen Menschen nicht rettet. Es ist aber Gottes freie Entscheidung, wem er gnädig ist und wem er es gibt, an Christus zu glauben. Kein Mensch kann ihn dabei beeinflussen. Kein Mensch kann mit seiner Entscheidung, seiner Bekehrung oder seinem religiösen Bemühen Gott veranlassen, ihm gnädig zu sein.
Diese Einsicht wird den Menschen entweder dazu bringen, sich in seinem Unglauben und seiner Selbstherrlichkeit von Gott abzuwenden. Er wird mit den Achseln zucken und sagen: „Dann kann ich ja nichts dafür, wenn ich verloren gehe.“ Oder er wird sich eingestehen, dass er verloren ist und nur gerettet werden kann, wenn Gott ihm gnädig ist. Er wird sich vor Gott demütigen und ihn bitten: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ Kein Mensch wird von sich aus eine solche Bitte aussprechen. Eine solche Bitte zeigt vielmehr, dass Gott es ihm gegeben hat, sich selbst vor Gott recht einzuschätzen. Diese Bitte ist schon Ausdruck des von Gott gewirkten Glaubens, dass Gott ihn ohne Verdienst rettet. Ihm gilt die Zusage Gottes, gerecht zu sein. Gott wird es ihm geben, die in Christus offenbare Gnade zu begreifen, darauf zu bauen und auf Grund der Zusagen Gottes im Glauben gewiss zu sein. So wird ihm die Gnade Gottes in Christus zum höchsten Gut.
4. Allein durch den Glauben
Es liegt im Wesen des rechten, christlichen Glaubens, von den eigenen Werken weg zu sehen und auf das Werk Christi zu bauen. Die natürliche Einstellung des Menschen ist die, dass er selbst etwas zu seinem Besten tun möchte und tut. Der Gottlose wird dies etwa dadurch tun, dass er, wo immer er kann, Vorteile für sich herausschindet. Möglicherweise versucht er dies sogar auf kriminellem Wege. In derselben Haltung will sich der religiöse Mensch durch seine guten Werke vor Gott empfehlen. Er meint, er habe es selbst in der Hand, wie Gott zu ihm stehe. Daher nimmt er zum Beispiel Gottes Gebote und versucht, sie zu erfüllen. Weil er es nicht kann, hofft er darauf, dass Gott sein Bemühen, sie zu halten, anerkennt. Doch er merkt nicht, dass er sich auf einem Irrweg befindet, denn durch Werke kann kein Mensch vor Gott gerecht werden. Die Haltung, die Gott ehrt, ist die des Vertrauens. Indem der Mensch den Zusagen Gottes vertraut, macht er deutlich: Gott ist wahrhaftig, er wird mich nicht betrügen, ich rechne fest damit, dass ich wirklich in Christus gerecht und heilig bin, obwohl ich selbst ein Sünder bin.
„Allein aus Glauben“ gilt auch für das Leben als Christ. Es ist ein Irrtum, zu meinen, der Glaube sei nur für die Sündenvergebung und die Rechtfertigung zuständig, und diese hätten bei der Bekehrung ihren Platz. Wenn man aber bekehrt sei, dann sei man zur Heiligung gerufen, und diese beinhalte nichts anderes, als dass man Gottes Gebote halte. Wer Christsein so versteht, macht es zu einem einzigen großen Krampf, denn auch der Christ wird das Gesetz Gottes an keinem Tag seines Lebens erfüllen. Er ist und bleibt in seinem Wesen ein Sünder, und er kann die Gebote nicht erfüllen.
Lebt er aber im Glauben, dann wird die Einsicht in die geschenkte Gerechtigkeit sein Herz erfüllen und ihn willig machen, zur Ehre Gottes zu leben. Er hat im Licht des Gesetzes Gottes gesehen, dass er ein Sünder ist, und erkannt, was Sünde ist. Er hat das Urteil Gottes über seine Sünde verstanden. Er ist mit Gott einsgeworden, dass etwa Lüge, Diebstahl und Ehebruch Unrecht sind. Und er hat Christus erkannt. Er weiß, dass Christus der neue Mensch ist, der von Gott neu geschaffen ist. Diesen schätzt er höher und will ihn gewinnen. Aus dieser Einsicht heraus versagt er sich der Sünde und tut, was Christus ihm zu tun gibt. Heiligung ist Sache des Glaubens! Sie wird ein täglicher Kampf sein, und der Christ wird immer wieder die Neigung zur Sünde bei sich wahrnehmen. Aber sein Glaube trägt ihn darin, zur Sünde Nein und zu Christus und guten Werken Ja zu sagen.
Mit diesen vier Bestimmungen weist die Reformation zu dem dreieinigen Gott, der im Mittelpunkt sowohl der Theologie als auch des christlichen Lebens steht. Seine Erwählung, sein Werk in Christus, sein Wirken im Heiligen Geist sind der Gegenstand der Theologie und des Glaubens. Hier steht nicht der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Erlebnissen und seiner Frömmigkeit im Mittelpunkt. Für den Menschen aber und für die Kirche gibt es nichts Größeres, als durch den Glauben an Gottes Handeln teilzuhaben und ihn darüber zu lieben und zu loben.