Reformatorisch oder Evangelikal?

Reformatorisch oder Evangelikal?

Ist es wirklich nötig, hier „oder“ zu sagen? Es gibt doch nicht wenige Gemeinsamkeiten! Zum Beispiel im Wirklichkeitsverständnis: Der Evangelikale glaubt, so wie es auch die Reformatoren taten, an die Wirklichkeit Gottes im Himmel. Beide lehnen das moderne „wissenschaftliche“ Weltbild ab, in dem für Gott kein Platz ist, bei dem die einzige Wirklichkeit diejenige ist, die man sinnlich wahrnehmen kann. Beide glauben, dass Gott sich aus der unsichtbaren Welt heraus in der sichtbaren Welt offenbart hat und dass er in der sichtbaren Welt wirkt. Deshalb halten sie daran fest, dass die Bibel Gottes Wort ist, und dass die in der Bibel berichtete Geschichte sich auch so zugetragen hat. Sie akzeptieren, dass Gott in dieser Geschichte Wunder getan hat, dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren wurde, dass er leibhaftig auferstanden und zum Himmel aufgefahren ist. Man kann wohl zusammenfassend sagen: Das apostolische Glaubensbekenntnis können beide uneingeschränkt teilen. Deswegen stehen sie gemeinsam der sogenannten modernen Theologie gegenüber. Es sei hinzugefügt, dass dies auch von der traditionellen römischen Theologie gilt. Will man Unterschiede feststellen, muss man schon genauer hinsehen. Ich möchte dies im Folgenden tun, indem ich einige charakteristische Punkte benenne, an denen zum Teil fundamentale Unterschiede erkennbar werden.

1. Die geschichtliche Stellung

Die Reformation hat ihren Platz im sechzehnten Jahrhundert, die evangelikale Bewegung findet ihre Wurzeln im neunzehnten. Die Reformation war eine Bewegung, die in ihrer Zeit anhand der Bibel grundlegend neue Einsichten zutage förderte. Damit stand sie im offenen Widerspruch zur herrschenden Kirche, und es kam zur Trennung von dieser. Biblische Inhalte spielten die tragende Rolle und trennten von den römischen Positionen. Zwar wollten die Reformatoren keine neue Kirche, und sie haben sich in verschiedenen Religionsgesprächen bemüht, sich mit den Katholiken auf ein gemeinsames Bekenntnis zu einigen, aber bekanntlich gelang dies nicht. Die Lehrunterschiede waren zu groß. Hätte man sie um der Einheit willen verwischt, dann hätte die Reformation nie zu einer schriftgebundenen Klarheit in der Lehre gefunden. Obwohl auch politische und kulturelle Gegebenheiten eine Rolle spielten, muss man sagen: Gottes Wort hat zur Bildung der evangelischen Kirchen geführt. Im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert stellte sich die Situation völlig anders dar. Sie war davon gekennzeichnet, dass Kirche und Staat durch die Aufklärung und im beginnenden 19. Jahrhundert die Romantik ganz neue Positionen bezogen hatten. Sowohl das Gottesbild als auch das Menschenbild der Reformation waren längst aufgegeben worden. Über Gott konnte man eigentlich nicht mehr reden, sondern nur noch schweigen. Seine Existenz zu leugnen, galt als modern. Dafür nahm der Mensch den Platz Gottes ein. Die aufstrebende Wissenschaft, die geistigen Fähigkeiten des Menschen, die Erfindungen, die sich entwickelnde Technik schufen ein optimistisches Klima. Die Frage nach Gott war in diesem Umfeld eher nebensächlich. Trotzdem kam es zur Erweckung. Man muss sie bei aller Kritik doch als Werk Gottes ansehen, denn sie hat viele Menschen nicht nur nach Gott fragen lassen, sondern auch zum lebendigen Glauben an Jesus Christus geführt und infolgedessen auch zur Bildung der Gemeinschaften und zu einem nachhaltigen Impuls für die Ausbreitung des Reiches Gottes in der evangelischen Mission. Doch trotz der imposanten „Erfolge“ bleiben etliche Fragen offen. Sie betreffen die oben anvisierten inhaltlichen Unterschiede.

2. Das Menschenbild

Ein wichtiger Unterschied zwischen Reformation und Erweckungsbewegung liegt im Menschenbild. Für die Reformatoren stand fest: Der Mensch ist als ganzer Sünder. Wollte die römische Kirche dem menschlichen Willen die Fähigkeit zuschreiben, sich Gott zuzuwenden, gute Werke zu tun, so lehrten die Reformatoren, dass der Mensch auch in seiner Geistigkeit, seinem Denken und Wollen von Gott abgefallen ist. Sie sahen deutlich, dass der Mensch dann, wenn er sich mit seinem eigenen Willen Gott zuwendet, wenn er gute Werke tut, nur zu schnell seine Werke vor Gott empfiehlt. Wenn der Mensch dann noch sieht, wie fromm er ist und wie gerecht er handelt, wie er betet, die Bibel liest, sich in guten Werken übt, dann wird er selbstzufrieden, dann wiegt er sich in dem Irrtum, in seinem Verhältnis mit Gott sei doch alles in Ordnung. Für die Reformatoren stand fest: Ein solcher Mensch handelt aus Unglauben. Ebenso stand für sie fest, dass der Mensch keine Möglichkeit hat, sich Gott zuzuwenden und zum Glauben zu finden. Er ist wirklich verloren, und er hat keine Plattform, von der aus er seine Rettung ins Werk setzen kann. Wenn er gerettet wird, dann eben „allein aus Gnaden“. Dies bedeutet eben, dass es in der Erwählung Gottes steht, die durch keine menschliche Entscheidung kompromittiert werden kann.

Die Erweckungsbewegung hat in einigen Teilen die Sündhaftigkeit des Menschen nicht in biblischer Klarheit gesehen. Sie hat zwar von Sünde gesprochen, aber die Verlorenheit des Menschen nicht so vollständig gesehen wie die Reformatoren. Sie sprach sehr wohl den Menschen an, dass er sich bekehren solle. Weil der Mensch von Natur aus religiös ist und auch bereit ist, etwas dafür zu tun, kam es zu zahlreichen „Bekehrungen“. Es ist nicht zu bestreiten, dass dabei auch wirklicher schriftgemäßer Glaube an Jesus Christus zu finden war und ist, doch nicht selten wurde der Glaube mit dem Werk der Buße, der Entscheidung, der Absage an die Sünde und der Heiligung vermischt und die Glaubensgerechtigkeit durch die Werkheiligkeit relativiert.

Eine in der Erweckungsbewegung typische Anschauung war die Annahme, der Mensch sei schöpfungsmäßig auf Gott hin angelegt, und wenn der Mensch dem Evangelium begegne, dann würde diese innere Anlage aktiviert und führe ihn zur Umkehr. Der Hallenser Theologe Tholuck sprach in diesem Zusammenhang vom eisenhaltigen Kern im Menschen, auf den die Erscheinung des Erlösers magnetisch wirke. Also müsse man ihm nur den Erlöser plastisch genug vor Augen führen, dann würde die Bekehrung schon kommen. Man sieht also das Problem des Menschen nicht in seiner abgründigen Sündhaftigkeit, sondern mehr darin, dass seine an sich gute Anlage nicht zur Entfaltung kommt. Der Mensch wird in der Verwirklichung seiner Bestimmung gehemmt. Zwar spielt die Sünde dabei eine wichtige Rolle, aber ihr Einfluss muss nur gezähmt und gebändigt werden, und schon ist der heilige, wohlgestylte und gemeinschaftsfähige Mensch da. Wir sehen: Das Evangelium wird dem Menschenbild angeglichen.

Heute steht der Mensch im Rahmen der Verkündigung so sehr im Mittelpunkt, dass kaum noch vom Werk Jesu, dagegen viel von der menschlichen Befindlichkeit und der Lebensbewältigung die Rede ist. Evangelium ist Lebenshilfe – so könnte die Gleichung lauten. Zwar stimmt es, dass der Mensch schöpfungsmäßig auf Gott hin angelegt ist, aber die Sünde hat das Wesen des Menschen so sehr verdorben, dass seine natürliche Neigung die ist, Gott und seinen Nächsten zu hassen. Er mag es nicht leiden, dass über oder neben ihm einer ist, der seine Selbstmächtigkeit beschränkt. Wenn überhaupt, dann sind es vor allem die staatliche Ordnung oder die in dem jeweiligen sozialen Umfeld akzeptierten Werte, die ihn hindern, seiner Bosheit freien Lauf zu lassen.

3. Christsein

Das Menschenbild charakterisiert nicht weniger das Christsein. Der reformatorische Christ sieht sich kompromisslos unter dem Gesetz Gottes und bekennt: „Ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft.“ Darum sieht er im Glauben auf Christus. Er weiß: Ich bin nur ein vergänglicher Mensch, ein Sünder, der bei Gott keinen Staat machen kann. Christus ist meine Gerechtigkeit. Ihn zu haben, ist das Wesentliche, unabhängig davon, wie ich mich selbst wahrnehme. Er sieht seine Gerechtigkeit gerade nicht bei sich, im Vollzug seines Lebens und im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das Wort von Christus ist sein Ein und Alles. Dieses Wort erfüllt sein Herz und trägt sein Leben. Und weil er allein auf Gottes Zusage baut, hat er die Gewissheit: Gott wird sein Wort wahr machen. Der evangelikale Christ nimmt dagegen sein Christsein selbst in die Hand. Er entscheidet sich für Jesus, er pflegt die Beziehung zu Jesus, indem er in der Bibel liest, betet, religiöse Erlebnisse macht, die vor allem im charismatischen Umfeld besonders eindrucksvoll sind, indem er die Gemeinschaft sucht, in der er angeregt wird und andere anregen kann, mit Jesus neue Erfahrungen zu machen, indem er vielleicht missionarisch tätig wird. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin nicht der Meinung, dass dies alles schlecht wäre, ganz im Gegenteil. Aber indem die religiöse Werkerei als Inbegriff des Christseins gesehen wird, indem Christsein als Lebensbewegung verstanden wird, die man ins Werk setzen kann, liegt er doch voll daneben. Er hat zunächst nicht verstanden, dass er so sehr in Sünde ist, dass er sich mit seinen religiösen Werken nicht retten kann. Er verkennt dementsprechend die Bedeutung des Werkes Christi und vergisst nur zu schnell, dass Christsein durch den Glauben an Christus bestimmt ist. Sein Interesse an christlicher Lebensbewältigung ist eben eine falsche Erwartung, die er an das Evangelium stellt. Und seine Gerechtigkeit, mit der er vor Gott treten möchte, sucht er nicht in Jesus allein, sondern vor allem auch bei sich und seinen Mitchristen.

„Du musst dich für Jesus entscheiden“ – das ist die Botschaft der evangelikalen Welt im zwanzigsten Jahrhundert. Wie man das macht, wird einem ausführlich gesagt, doch dass man den Zusagen des Evangeliums glauben soll, nur nebenbei erwähnt. Nicht gesagt wird, dass und wie das menschliche Erleben, die Buße, die Umkehr und das Leben im Heiligen Geist Frucht des Glaubens ist. Das Resultat ist, dass der Mensch, der diese Botschaft aufnimmt, sein Christsein vor allem an seine Entscheidung bindet. Wo immer dies aber geschieht, läuft der Mensch Gefahr, nicht an das Evangelium, sondern an seinen „Glauben“ oder seine Entscheidung zu glauben.

Vielleicht wird nun ein solcher Protest erheben und sagen, er lehre doch klar und entschieden, dass Jesus der Retter sei und dass man nur durch den Glauben an ihn gerettet werde. Richtig. Doch die Frage sei gestattet, warum dann die ausführliche Beschäftigung mit dem menschlichen Werk, mit Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung. Richtig evangelikal wird das Denken, wenn dann gesagt wird, es sei doch kein Widerspruch, wenn man einerseits das Werk Christi betone, andererseits aber auch das menschliche Erleben und Tun beschreibe. Indem hier die verdächtigen Worte „aber auch“ gebraucht werden, wird eine Dialektik erkennbar. Zwei an sich widersprüchliche Dinge werden miteinander verbunden. Es liegt im Wesen dieser Dialektik, dass nie bestimmt werden kann, wo Gottes Handeln aufhört und menschliches Handeln beginnt. Indem aber der Mensch sein Handeln in seine Rettung einschaltet, ist es nicht mehr Christus allein, der rettet. Die Dialektik dient der Legitimation des menschlichen Beitrags. Diese Dialektik ist zugleich der Erzfeind jeglicher Glaubensgewissheit, denn man weiß nie gewiss, ob und wann man seinen Beitrag geleistet hat, sodass die Heilszusage Gottes für einen gilt.

4. Das Wort

Für den reformatorischen Christen ist das biblische Wort von allergrößter Bedeutung. Im Wort wird ihm Christus verkündigt, mit dem Wort verheißt ihm Gott die größten Gaben – die Vergebung der Sünden und das ewige Leben, mit dem Wort gibt ihm Gott Weisheit und Kraft, um als Christ in der Welt zu leben. Mit dem Wort hat er den Heiligen Geist. Dieser kommt nicht auf einer zweiten Schiene zu ihm, indem er innerlich und ohne Wort wirkt als innerer Motor, als Kraft zur Liebe, als schönes Gefühl oder gar als göttliches Wesen. Er kommt auch nicht mit dem Vollzug eines Sakraments. Der Christ hat aber den Heiligen Geist, indem er Christus anhand der Schrift erkennt und dem Evangelium glaubt und im Glauben lebt.

Die Bibeltreue des reformatorischen Christen ist deshalb nicht darauf beschränkt, die Bibel in ihrer normativen Autorität zu akzeptieren. Die Bibel ist für ihn auch das Heilsmittel, durch das ihm Christus mitgeteilt wird. Sie ist ja vom Geist Christi hervorgebracht worden. Sie lehrt, Christus zu erkennen. So hat der Christ in ihr den Heiligen Geist und mit ihm das Heil selbst. Seine Treue zur Schrift besteht auch im Vertrauen auf die Schrift und in der Erkenntnis, dass er durch die Schrift zum Glauben gekommen ist. Der Glaube kann darum auch sagen, was er glaubt. Er ist bekennender Glaube und weist sich mit dem Bekenntnis aus. Mit dem Wort hat er Klarheit und Gewissheit über das, was er glaubt. Deshalb schätzt er eine schriftgebundene Theologie und die ihr entsprechende theologische Ausbildung, denn sie steht im Dienst der rechten Erkenntnis Christi.

Freilich kann man das Wort auch so einseitig betonen, dass nach einem Leben aus Glauben nicht mehr gefragt wird. Dann kommt man schnell zu einer toten Orthodoxie, die zwar geräuschvoll um die rechte Lehre streiten kann, aber die die Liebe, die aus dem Glauben kommt, vergisst. Eine solche Orthodoxie aber brauchen wir nicht. Allerdings es ist auch nicht so, als müsste der Mensch der angeblich toten Lehre das Leben einhauchen. Gottes Wort ist lebendig und so beschaffen, dass es wirklich zu einem Leben aus Glauben führt.

Wer reformatorisch denkt, geht davon aus, dass Gottes Wort die Kraft besitzt, zur Erkenntnis Gottes, zur Sündenerkenntnis und zum Glauben zu führen. Darum reicht ihm das, was der Herr geboten hat: die schriftgemäße Predigt. Sie gut vorzubereiten, ist für den reformatorischen Prediger eine Selbstverständlichkeit, weil es ihm nicht egal ist, was er tatsächlich sagt. Er kann aber getrost darauf verzichten, psychologische Mittel und anderen Zierrat einzusetzen, um den Hörer für das Wort zu interessieren, auf das Wort einzustimmen oder dem Wort in seiner Wirkung nachzuhelfen. Er vertraut darauf, dass Gott mit seinem Evangelium und nach seinem gnädigen Ratschluss dem Hörer das Herz auftut und den Glauben schafft.

Im evangelikalen Raum sehen wir heute, wie Evangelisation und Gemeindebau mit Stilelementen des Showbusiness betrieben werden, so als ob Gottes Wort nicht in sich die Kraft hätte, einen Menschen zu erreichen und als müsste man das Evangelium mit der dem Hörer geläufigen Unterhaltung verpacken, um ihn positiv darauf einzustimmen. Erst dann folgt eine attraktiv geglättete Darstellung der biblischen Botschaft – ganz im Horizont der Erwartung des Hörers, etwas Tolles vorgestellt zu bekommen, auf das man abfahren kann. Er wird nicht vor das Angesicht Gottes, seines Schöpfers gestellt, sondern Gott wird als Helfer für die Lebensprobleme des Menschen dargestellt. Nur so ist ihm der postmoderne „Eventjäger“ gnädig.

Ist es erst einmal ausgemacht, dass Christsein – wie schon die Aufklärung meinte – eine Lebensbewegung ist, dann ist es nur konsequent, das Wort und die Lehre zu relativieren und sogar als nicht so wichtig an den Rand zu stellen. Der evangelikale Christ braucht nicht so sehr die Zusage des Evangeliums und weniger die Fakten von Christus, in denen sein Heil steht, sondern er braucht das Erleben und die Tat. Die Bibel liest er als Anweisung, wie er sein Christsein in die Tat umzusetzen habe. Sie ist wie ein Programm für ein gelingendes Leben. An seinem Leben liest er ab, ob er Christ ist, und er ist enttäuscht, wenn er bei sich allerlei Schuld, Versagen und Schwachheit wahrnimmt. Hier hofft er freilich auf gnädige Nachsicht bei Gott. Aber seine Blickrichtung ändert er deshalb nicht. Nach wie vor hofft er darauf, sein Erleben und seine Taten auf die gewünschte Höhe zu bringen.

Der Evangelikale liebt es überkonfessionell. Er meint, er könne mit seinem Verständnis des Christseins das ganze Spektrum evangelischer Überzeugungen abdecken – Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten, Brüdergemeinden und im Einzelfall sogar Katholiken. Bemerkt er, dass sich unter den verschiedenen Gruppen widersprüchliche Aussagen finden, dann tut er diese als nebensächlich ab. Ihm genügt es, wenn das Interesse an einem nicht näher bestimmten Jesus vorhanden ist. Ob Jesus mit seinem Leiden und Sterben wirklich ein Sühnopfer gebracht hat, oder ob er ein Vorbild für den Gehorsam gegenüber Gott gegeben hat, ob er einen Gnadenschatz erworben hat, den die Kirche austeilen soll, oder ob er Solidarität mit den Sündern bewiesen hat – das zu entscheiden ist nicht so wichtig, denn irgendwie ist ja alles auch richtig. In der Praxis jedenfalls herrscht hier Freiheit, das zu glauben, was man möchte, Hauptsache, es ist ein Glaube an Jesus und nicht an Maria oder Allah. Das ist nur ein Beispiel für den „überkonfessionellen“ Glauben – oder sollte man besser sagen: für den überkonfessionellen Nebel? Man spricht zwar die Sprache der Bibel und wohl auch die der Reformatoren, aber für die konkrete Lehre ist das biblische Wort längst nicht mehr maßgeblich.

Es reicht ihm, wenn biblisch klingende Sätze vorgetragen werden. Das Evangelium als Lehre, in der die einzelnen Aussagen der Bibel in einem sinnvollen Zusammenhang zueinander stehen, die man verstehen und wiedergeben kann und in deren Licht einzelne Sätze geprüft werden können, hält er gar für eine Vergewaltigung der Bibel oder für eine Anmaßung. So liest er die Bibel nur punktuell: Jeder Abschnitt macht seine eigene Aussage, aus der vor allem Anweisungen für das praktische Leben oder die Arbeit in der Gemeinde abgeleitet werden und die im Übrigen in eine mehr oder weniger humanistische Weltanschauung eingezeichnet werden. Aber ein Ganzes der biblischen Lehre kann er nicht als Wahrheit haben. Also hat er einen evangelikalen Pluralismus, bei dem die Wahrheit im Wort wenigstens teilweise auf der Strecke bleibt. Er gesteht den unterschiedlichen Konfessionen und Denominationen je ein größeres oder geringeres Maß an Wahrheit zu, aber keine kann den Anspruch erheben, die Wahrheit des Evangeliums zu haben. An dessen Stelle tritt die Auskunft, wie man mit dem andersdenkenden Allianzbruder umgeht – ein christlicher Knigge oder ein christliches Konfliktmanagement.

Nur zu häufig beobachtet man im evangelikalen Bereich, dass man die Inhalte, die man verkündigt, nur zu selbstverständlich für biblisch hält. Dass man auch als Evangelikaler fehlgehen kann, dass man gar – wie in der Rechtfertigungslehre sehr häufig – katholisierende Positionen vertritt, wird weder wahrgenommen noch diskutiert. Dass man sich mit der Scheidung von Heiligem Geist und biblischem Wort ins Schlepptau der Schwärmerei begibt, will vielen nicht einleuchten, einfach deswegen, weil man es nie anders gehört hat. Doch diese Anschauungen sind falsch, oft habe ich den Eindruck, dass es der Evangelikale als Zumutung empfindet, wenn man die Inhalte, die er vertritt, hinterfragt, so als ob man als Evangelikaler nicht irren könne.

Schluß

Der Vergleich des reformatorischen Denkens mit dem evangelikalen hat gezeigt, dass trotz einiger Gemeinsamkeiten auch grundlegende Unterschiede festzustellen sind. Man kann die Dinge auf eine einfache Formel bringen: Der reformatorische Christ bekennt, dass er sein Heil in Christus allein sucht, und spricht von ihm, seiner Person und seinem Werk. Der evangelikale Christ spricht auch von Christus, um dann sofort sich und sein Erleben und Tun dem Werk Christi hinzuzuzählen. Er versteht nicht, dass das Leben als Christ ein Leben aus Glauben ist. So spricht er den Menschen laufend auf seine Werke an. Die Folge ist ein gebrochener Glaube, eine auf den Sand menschlicher Werke gegründete „Heilsgewissheit“ und ein nicht endender Frömmigkeitsstress. Die Folge kann aber auch ein schwärmerischer Dünkel sein, schon hier so geistlich und vollkommen zu sein, dass man die Wirklichkeit nicht mehr richtig wahrnimmt, nämlich die eigene Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit.