Ein neues Interesse an der Heiligen Schrift im Original
Im letzten Beitrag zu Melanchthon (Bekennende Kirche, Dez. 2010, Nr. 43, S. 16-18) sahen wir, dass Melanchthon als Humanist im Sinne des Humanismus des 16. Jahrhunderts zu verstehen ist. Diese geistige Bewegung beinhaltete ein neues Interesse an den ursprünglichen Quellen, auch an der Heiligen Schrift. Es war ein Interesse, das zu bahnbrechenden Erschließungen des griechischen und hebräischen Textes des Wortes Gottes führte. In dieser Hinsicht war der Humanismus für die Reformation von nicht geringer Bedeutung.
Viele bekannte Humanisten des 16. Jahrhunderts fanden freilich nicht zur Reformation, zum Beispiel Desiderius Erasmus (1469-1536) oder Johannes Reuchlin (1455-1522). Es stellt sich die Frage, wie es sich bei Melanchthon verhielt. Ist er nur aufgrund günstiger Umstände zur reformatorischen Seite übergetreten, etwa aufgrund seiner Berufung an die Universität Wittenberg im Jahre 1518? Oder gab es bei ihm wirklich die Überzeugung, dass die Erkenntnisse der Reformation der Wahrheit der Heiligen Schrift entsprechen? Anders formuliert: Führte Melanchthons Weg in den Norden, von Tübingen nach Wittenberg, letztlich auch vom reinen Humanismus zur Reformation?
Von Tübingen nach Wittenberg
Als gerade Siebzehnjähriger hielt der frischgebackene Magister Melanchthon in Tübingen schon Vorlesungen über die Aeneis von Vergil (70 – 19 v.Chr.) und über die Komödien des Terentius (2. Jh. v.Chr.). Als er, noch keine zwanzig Jahre alt, im Jahre 1516 das für den Humanismus zentrale Fach Rhetorik zu unterrichten begann – dabei auch über klassische Autoren wie Cicero (106 – 43 v.Chr.) und Livius (59 v.Chr. – 17 n.Chr.) dozierte –, schien für Melanchthon eine Laufbahn an einer humanistischen Universität vorgezeichnet zu sein. Noch im gleichen Jahr erschien seine erste Textausgabe eines klassischen Werkes: Es war von Terentius. Dafür bekam er unter anderem von dem berühmtesten Gelehrten jener Zeit, Erasmus, höchstes Lob. Zu einer Karriere als rein humanistischer Gelehrter, wie Erasmus, sollte es allerdings nicht kommen…
Melanchthons griechische Grammatik, die im Frühjahr 1518 herausgegeben wurde – sie wurde später immer wieder überarbeitet und aufgelegt – war sozusagen seine letzte Publikation, bevor er einem Ruf nach Wittenberg als erstem Inhaber des dortigen Lehrstuhls für Griechisch folgte. Man bedenke: Als Melanchthon am 25. August 1518 in Wittenberg eintraf, war die Stadt gerade erst in reformatorischer Aufbruchsstimmung. Es war noch kein volles Jahr vergangen, seitdem Martin Luther im September 1517 seine Thesen zur scholastischen Theologie und dann am 31. Oktober desselben Jahres die berühmten 95 Thesen zur Ablasspraxis veröffentlicht hatte.
In der Elbestadt Wittenberg mit ihrer sehr jungen Universität hielt Melanchthon am 28. August 1518 seine Inauguralvorlesung. Die Vorlesung – obschon beeindruckend in ihrer Gelehrsamkeit – behandelte aber noch das reine humanistische Ideal: eine Reform der Sitten und der moralischen Tugenden. Schon bald aber wird sich der Einfluss Luthers auf seinen jungen Kollegen bemerkbar machen.
Übergang zur Reformation
Im Rückblick stellte Melanchthon fest: „Von Luther habe ich das Evangelium gelernt.“ Vor allem eine Predigt Luthers im April 1519 sowie die Leipziger Disputation (Streitgespräch) zwischen Luther und seinem römisch-katholischen Kontrahenten, dem Theologen Johannes Eck (1486 – 1543) im Sommer 1519 sollen eine große Rolle gespielt haben, um Melanchthon von den reformatorischen Grunderkenntnissen zu überzeugen.
Wie gründlich er sich den reformatorischen Ansatz zu eigen gemacht hatte, zeigte Melanchthon, als er kurz nach der erwähnten Leipziger Disputation die Ergebnisse und Auswirkungen der Diskussion zwischen Wittenberg und Rom klarer herausarbeitete. Vor allem sein Blick auf das Sola Scriptura („Allein die Schrift“) belegt, wie Melanchthon reformatorisch in gewisser Hinsicht sogar weitreichender oder radikaler als Luther dachte. Mit seinen Thesen zu seinem Baccalaureus Biblicus im September 1519 ist er der erste Wittenberger Theologe, der die uneingeschränkte Autorität der Heiligen Schrift bekennt (These 16), eine Autorität, die ausdrücklich über der der Konzilien steht (These 17).
Professor für Griechisch, Theologe aus Wittenberg
Als Professor auf dem neu errichteten Lehrstuhl für Griechisch sollte Melanchthon Zeit seines Lebens neben Griechisch auch Latein, Klassische Literatur, Rhetorik, Dialektik, Philosophische Ethik sowie Biblische Exegese und Theologie unterrichten. Aufgrund dieser Aufgaben und Tätigkeiten ist die Bezeichnung „Brückenbauer“ für Melanchthon sehr zutreffend. In der Tat war er Brückenbauer zwischen Kirche und Universität, zwischen humanen Wissenschaften und Theologie, zwischen Philologie und Geschichte, zwischen Predigt und Katechese.
„Lehrer Deutschlands“
Während Melanchthons philologische Arbeit sehr bekannt ist, übertrifft der Umfang seiner theologischen Werke zu biblischen Texten die humanistischen Werke (zu antiken Texten) bei weitem. Vor allem auf dem Gebiet der pädagogischen Arbeit war er mit zahlreichen Lehrbüchern aus seiner Hand und mit vielen Gutachten zur Reform des Schul- und Universitätswesens nahezu unermüdlich tätig. Nicht ohne Grund hat er später den Ehrentitel „Praeceptor Germaniae“ erhalten, das heißt, „Lehrer Deutschlands“.