Anmerkungen zu einer Veröffentlichung von R. Liebi:
Im Folgenden geht um es das Buch von Roger Liebi, Leben wir wirklich in der Endzeit? Mehr als 175 erfüllte Prophezeiungen. Dübendorf (Schweiz) [Verlag Mitternachtsruf] 2012. Geb. 428 Seiten.
Bei der Besprechung dieses umfangreichen Buches steht man vor der Frage: Wie kann man dem Autor gerecht werden? Es ist unmöglich, im Einzelnen auszuführen, ob alle genannten Prophezeiungen sich jeweils so erfüllt haben, derzeit so erfüllen oder noch so erfüllen werden, wie der Autor sich das vorstellt. Das würde mindestens so viel Platz
beanspruchen wie das Buch selbst.
Wir müssen uns daher auf folgende Punkte beschränken: Erstens fragen wir, mit welcher Hermeneutik (Auslegungsweise) Liebi an die Heilige Schrift herangeht, und zweitens wollen wir mit einigen Beispielen seine Arbeitsweise illustrieren.
1. Liebis Hermeneutik
1.1. Was meint Liebi mit „Endzeit“?
Fangen wir mit der Frage an, die der Buchtitel stellt: „Leben wir wirklich in der Endzeit?“ Dies dürfte vermutlich jeder Christ bejahen. Allerdings fragt sich: Was meinen wir eigentlich mit dem Begriff „Endzeit“? Daher ist es zu begrüßen, dass Liebi in Punkt 2 der Einleitung definiert, wie er diesen Begriff versteht und verwendet (S. 17f). Es gehe dabei „im Gegensatz zu landläufigen Vorstellungen … nicht um einen unmittelbar bevorstehenden ‚Weltuntergang'“; vielmehr bezeichne der Begriff „die Zeitperiode, in welcher der Messias kommen soll, und zwar insbesondere, wenn er als ‚König der Könige‘ in Erscheinung treten wird, um hier auf Erden in Frieden und Gerechtigkeit zu regieren“ (S. 18).
Dass die Endzeit nicht dasselbe ist wie der Weltuntergang, dürfte jedem bibelkundigen Leser klar sein. Ob aber diese Vorstellung wirklich so „landläufig“ ist, geschweige denn, die einzige Alternative zu Liebis Auffassung? Er kennt durchaus die Position, dass die Endzeit „das Ende der langen Periode zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen“ Christi ist, das heißt, die Zeit unmittelbar vor seiner Wiederkunft, auf die ein irdisches Tausendjahrreich folgen soll und erst danach der Weltuntergang (S. 18). Liebi kennt die Lehre, dass die Endzeit „bereits mit dem Kommen Christi vor 2000 Jahren begonnen“ hat (S. 18, Fußnote 5).1 Er lehnt sie jedoch ab: „Wenn man dies so sagt, … ist das nicht korrekt“ (ebd.). Warum? Lehrt Hebräer 1,1f nicht: „Nachdem Gott … ehemals zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet durch den Sohn“? Liebi meint, das stünde seinen Thesen nicht entgegen: Mit „diesem Ende der Tage“ sei nicht gemeint, dass die Endzeit bereits zur Zeit des Neuen Testaments angebrochen sei, sondern es bezeichne den „Abschluss der langen alttestamentlichen Wartezeit auf den Erlöser“ (ebd.). Liebi erklärt: „In den meisten Fällen wird … der Begriff ‚Endzeit‘ nicht für den Abschluss der alttestamentlichen Epoche verwendet, sondern für den Abschluss der langen Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Messias…“ (ebd.). Hierauf werden wir später eingehen.
1.2. Legt das Alte Testament das Neue Testament aus oder umgekehrt?
Bereits an dieser Stelle wird deutlich, wie Liebi an die Heilige Schrift herangeht. Zum einen argumentiert er vorwiegend vom Alten Testament her und legt das Neue Testament im Lichte des Alten aus statt umgekehrt. Zum anderen setzt er die dispensationalistische Deutung der Heiligen Schrift als gegeben und richtig voraus.2 Weiter nennt er eine Anzahl vorwiegend alttestamentlicher Bibelstellen, die (vermeintlich) seine Ansicht stützen (S. 17f). Er wägt sie nicht nach ihrer Stellung im biblischen Kanon ab. Im Lichte der fortschreitenden Offenbarung Gottes, die im Neuen Testament ihren Höhe- und Schlusspunkt erfahren hat (was ja gerade die ersten beiden Kapitel des Hebräerbriefs betonen!), muss man bereits hier das erste Fragezeichen setzen: Ist ein solcher Umgang mit dem Wort Gottes schriftgemäß?
Liebi geht nicht näher darauf ein, was neutestamentliche Schlüsselstellen zu den Begriffen „Endzeit“ oder „letzte Tage“ wie Hebräer 1,1.2, 2Timotheus 3,1 oder 1Johannes 2,18 in ihrem Kontext sowie im gesamtbiblischen Rahmen aussagen. Stattdessen fährt er fort, zahlreiche Bibelstellen losgelöst von ihrem Zusammenhang in sein Deutungsraster einzufügen und zu erklären, wie diese sich seiner Meinung nach erfüllt haben oder noch erfüllen werden.
2. Typische Beispiele für Liebis Umgang mit der Heiligen Schrift
Wie schon gesagt besteht das größte Manko des Buches darin, dass neutestamentliche Lehrtexte zum betreffenden Thema fast völlig unbeachtet bleiben. Stattdessen bietet der Autor Auslegungen zahlreicher Texte aus dem Alten Testament, die haltlos sind.
2.1. Der Umgang des Verfassers mit dem Alten Testament
Wer hätte gedacht, dass sich die Prophezeiungen von Jesaja 13 und 14 in den zwei Golfkriegen der USA gegen den Irak und Saddam Hussein erfüllt haben sollen (S. 209ff)? Unter der Überschrift „Die Meder kommen“ (S. 238) behauptet Liebi: „Jesaja … 13,1-5 bezieht sich auf den Golfkrieg von 1991“ (S. 239). Sogar Einzelheiten wie die genauen Todesumstände Saddam Husseins und seiner Söhne will der Autor als konkrete Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen erkannt haben (S. 254ff). Dabei sind diese biblischen Aussagen so allgemein gehalten, dass man sie, mit Verlaub, auf das Ende beinahe jedes Tyrannen beziehen könnte, wenn man den Kontext außen vor lässt. Bis in die jüngere Vergangenheit gingen Sieger mit Besiegten meist nicht gerade zimperlich um. Gerade der Zusammenhang der betreffenden Bibelstellen aber zeigt, dass diese Prophetien sich schon längst erfüllt haben, und zwar lange vor dem ersten Kommen Christi: beim Untergang des Babylonischen Weltreiches, wie bereits der Prophet Daniel deutlich macht.
Auch die „Liste mit 56 erfüllten Prophezeiungen“ (S. 270ff) erweist sich als unhaltbar, wenn man die angegebenen Stellen nachschlägt. Erneut deutet Liebi Aussagen, die sich nach ihrem Kontext eindeutig auf die Rückkehr aus dem Babylonischen Exil seit 539 v.
Chr. beziehen, auf Ereignisse des 20. und 21. nachchristlichen Jahrhunderts. Um ein Beispiel zu nennen: Jeremia 51,46 spricht nicht von den Gerüchten im Jahre 1950, dass die Juden zunächst nicht den Irak verlassen könnten, dann aber letztlich doch, sondern der Vers lautet schlicht: „Und dass euer Herz nicht zaghaft werde und ihr euch nicht fürchtet vor der Nachricht, die im Land vernommen wird! Denn in dem einen Jahr kommt diese Nachricht und in dem Jahr danach jene Nachricht. Und Gewalttat ist im Land, Herrscher folgt auf Herrscher.“ Mit anderen Worten: Gerüchte lauten mal so, mal so, und die Mächtigen kommen und gehen. Fürchtet euch nicht, sondern vertraut auf Gott den Herrn! – Alles andere ist nicht Exegese (Auslegung), sondern Eisegese, das heißt: Man deutet in den Text eine ihm fremde Aussage hinein.
2.2. Der Umgang des Verfassers mit dem Neuen Testament
Wie das Alte Testament muss auch das Neue Testament bei Liebi als Quelle für Blütenlese herhalten. So behauptet der Autor, „dass die Ereignisse ab Matthäus 24,15ff. … alle noch zukünftig sind“ (S. 373). Leider ist hier kein Raum für eine ausführliche Behandlung der Ölbergrede Jesu. Doch sei zumindest angemerkt, dass man bei gründlicher Exegese durchaus zum gegenteiligen Urteil kommen kann: Fast alle in dieser Endzeitrede Jesu genannten Ereignisse haben sich bis zur Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 nach
Christus erfüllt. Somit kann Jesu Wiederkunft jederzeit ohne weitere Vorzeichen erfolgen.3
Wie schon oben angesprochen, überzeugt auch Liebis Umgang mit Hebräer 1,1ff nicht. Seine Behauptung, der dortige Ausdruck „an diesem Ende der Tage„4 beschreibe lediglich den „Abschluss der langen alttestamentlichen Wartezeit auf den Erlöser“ (S. 18, Fußnote 5), wird der Gesamtaussage des Hebräerbriefs nicht gerecht. Liebi steht mit seiner These auch im Widerspruch zum Gebrauch dieser und ähnlicher Worte im Neuen Testament. So übersetzen etwa Kapazitäten wie Menge5 oder Schlachter6 in Hebr. 1,2 folgendermaßen: „hat er am Ende dieser Tage (das heißt in dieser Endzeit) zu uns geredet im Sohn“ (Menge); „hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn“ (Schlachter).7 Der Apostel will also, wie auch der Zusammenhang von Hebräer 1 und 2 zeigt, sagen: Früher sprach Gott durch die Propheten; jetzt aber, in den letzten Tagen (= in der Endzeit), hat Gott abschließend durch seinen Sohn geredet. Die „letzten Tage“ sind oder die „Endzeit“ ist im Gegensatz zu Liebis These tatsächlich schon „jetzt„, das heißt bereits damals zur Zeit der Apostel!
Das sagen Bibelstellen wie Apostelgeschichte 2,14ff; 2Timotheus 3,1; Jakobus 5,3; 2Petrus 3,3. Petrus erklärt, dass sich die Prophetie Joels von der Ausgießung des Heiligen Geistes (Joel 3,1ff) an Pfingsten erfüllte (Apg 2,14ff). Er bezieht die Worte „in den letzten Tagen“ auf seine eigene Zeit. Paulus warnt in 2Timotheus 3,1 vor „schlimmen Zeiten„, die „in den letzten Tagen“ kommen werden, und diese stehen unmittelbar bevor, ermahnt Paulus doch seinen Zeitgenossen Timotheus selbst in V. 5: „von diesen [den in V. 1ff. genannten Irrlehrern!] wende dich weg!“ Jakobus wirft in seinem Brief, der vermutlich eine der frühesten neutestamentlichen Schriften ist, seinen Zeitgenossen vor: „Ihr habt Schätze gesammelt in den letzten Tagen!“ (Jak. 5,3, Schlachter 2000) oder: „Noch jetzt in der Endzeit habt ihr euch Schätze gesammelt!“ (Menge). Auch aus 1Johannes 2,18 – Liebi (S. 18) erwähnt den Vers nur, ohne weiter darauf einzugehen – wird klar, dass „die letzte Stunde„, das heißt die „Endzeit“, schon zu Lebzeiten des Apostels angebrochen und auch der Antichrist bereits gekommen war, der keine Einzelperson ist, sondern viele umfasst: „Kinder, es ist [!] die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind jetzt [!] viele Antichristen aufgetreten. Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist.“ Zu guter Letzt liefert auch Petrus in 2Petrus 3,3 keine Wegmarken für Endzeit-Fahrpläne (entgegen Liebi, S. 378ff), sondern warnt vor Gefahren durch Irrlehrer, die schon den ursprünglichen Empfängern seiner Briefe konkret drohten – und nicht erst späteren Generationen in 2000 Jahren oder später.8
3. Abschließende Bewertung
Liebis Kernthese lautet: Wir befinden uns jetzt in der Endzeit. Dem stimmt der Rezensent zu, nicht jedoch dem, wie der Autor diesen Begriff inhaltlich füllt und wie der Autor prophetische Bibeltexte interpretiert. Die Argumentationsweise des Verfassers, die damit verknüpften dispensationalistischen Lehren und sein Umgang mit der Heiligen Schrift sind nicht biblisch fundiert. Der Verfasser argumentiert fast ausschließlich mit einer schier endlosen Blütenlese von aus dem Zusammenhang gerissenen alttestamentlichen Zitaten. Neutestamentliche Lehrtexte hingegen ignoriert er weitgehend oder versucht, ihnen seine vorgefertigte Lehrmeinung aufzuzwängen.
Summa summarum: Das Buch ist leider ein Lehrbeispiel dafür, wie man mit Gottes heiligem Wort nicht umgehen darf.
1) Gemeint ist die klassische reformatorische Eschatologie, dass die Endzeit schon mit dem Kommen Christi begann und dass die Welt bei Jesu Wiederkunft ohne ein nachfolgendes, buchstäblich verstandenes Millennium ihr plötzliches Ende im Gericht finden wird. Unter 2.2. findet sich eine ausführlichere Begründung dieser Position, außerdem in dem Artikel „Wann beginnt die Endzeit“ unter http://www.betanien.de/verlag/material/material.php?id=112 (leicht mit der Suchfunktion unter www.betanien.de mit dem Begriff „Endzeit“ aufzufinden).
2) Liebi erwartet die Entrückung der christlichen Gemeinde vor der so genannten Großen Drangsal und die nachfolgende Bekehrung Israels (S. 374ff), anschließend die Erfüllung der 70. Jahrwoche Daniels (S. 376) sowie zuletzt ein buchstäblich verstandenes, irdisches Millennium vor dem Jüngsten Tag und dem Ende der Welt (S.18).
3) Näheres dazu vergleiche zum Beispiel bei Ronald Senk, Das Israel Gottes. 3. Aufl. (Hamburg: Reformatorischer Verlag Beese, 2012), S. 176-179, sowie in der dort genannten Literatur.
4) Mit dieser Eigenübersetzung verändert Liebi den Textsinn, indem er die Wortreihenfolge falsch wiedergibt. Richtig muss es heißen: „am Ende dieser Tage“ (siehe unten).
5) Hermann Menge (1841-1939) war ein führender Altphilologe und Verfasser von noch heute maßgeblichen Lehrbüchern und Wörterbüchern für Latein und Griechisch.
6) Franz Eugen Schlachter (1859-1911) hatte 1882 die Evangelische Predigerschule Basel absolviert, eine theologische Ausbildungsstätte mit Schwerpunkt auf den biblischen Sprachen, und war ein guter Kenner derselben.
7) Hervorhebung jeweils JS, Kommentar in Klammern bei Menge im Original.
8) Auch Liebis Umgang mit dem Ausdruck „bewahren vor“ in Offb. 3,10 und Joh. 17,15 (S. 374, Fußnote 531+532) ist unangemessen. Gerade der vollständige Wortlaut von Joh. 17,15 zeigt, dass es hier nicht um eine Vorentrückung geht, wodurch die Gemeinde vor Versuchung und Verfolgung verschont würde, sondern darum, dass Gott die Gläubigen in einer solchen Situation bewahrt: „Ich bitte dich nicht, sie aus der Welt hinwegzunehmen [!], sondern sie vor dem Bösen zu behüten“ (Menge; Hervorhebung JS).