Nachdem die Übersetzung der „Institutio“ Johannes Calvins, des „Unterrichts in der christlichen Religion“, jahrelang nur noch antiquarisch erhältlich war, wurde das systematische Hauptwerk des Genfer Reformators kürzlich in überarbeiteter Form neu herausgegeben. In gewisser Weise war die Institutio Calvins Lebenswerk. Der Genfer Reformator arbeitete ungefähr zweieinhalb Jahrzehnte daran. Die erste Version erschien im Jahr 1536. Zu jener Zeit war er gerade 27 Jahre alt. Die letzte von mehreren stets erweiterten Überarbeitungen erfolgte im Jahr 1559.
Diese letzte Ausgabe der Institutio – über diese sprechen wir hier – ist in vier Teile („Bücher“) gegliedert. Das erste „Buch“ handelt „von der Erkenntnis Gottes des Schöpfers“, das zweite „von der Erkenntnis Gottes des Erlösers in Christus“, das dritte thematisiert die Frage, wie der Sünder an „der Gnade Christi Anteil bekommt und welche Früchte daraus erwachsen“, und das vierte „Buch“ beschäftigt sich schließlich mit der Kirche (Gemeinde), den Sakramenten und nicht zuletzt mit der (Ein)stellung des Christen zu staatlichen Instanzen.
Im Vorwort erklärt der Genfer Reformator die Absicht, die er mit der Abfassung seines Werkes verfolgt: „die Kandidaten der heiligen Theologie so zum Lesen des göttlichen Wortes vorzubereiten und anzuleiten, dass sie einen leichten Zugang zu ihm haben und sich in ihm mit ungehindertem Schritt vorwärts bewegen können.“
Tatsächlich bezieht sich das über 850 Seiten umfassende Werk durchweg auf die Heilige Schrift. Nicht nur deswegen fällt es schwer, aus der Vielzahl der wertvollen Ausführungen des Werkes einen einzigen Gedanken herauszugreifen. Aber vielleicht ist es angesichts der Thematik unserer Zeitschrift (Aufbau rechtlich eigenständiger, biblisch–reformatorischer Gemeinden) sinnvoll, einmal auf seinen Zugang zur Kirche (Gemeinde) hinzuweisen.
Calvin beginnt bei seinem Nachdenken über die Gemeinde nicht mit nebulösen Spekulationen über die „Unsichtbarkeit“ der Kirche (Gemeinde), die dann je und je auch mal in Erscheinung treten könne, sondern der Genfer Reformator setzt konsequent bei der bestehenden Ortsgemeinde ein. Diese versammelt sich um das Wort Gottes und die Sakramente. In ihr sind ordentlich berufene Amtsträger anzutreffen und das Leben der Gemeinde gestaltet sich in erfahrbarer Gemeinschaft und konkret erwiesener Liebe.
Indem er das lehrt, will er nicht den Eindruck erwecken, Gemeinde Gottes sei eine Art Club Gleichgesinnter, die sich über zum Beispiel einheitliche Vorstellungen von Heiligkeit definieren. Eine derartige Einstellung wäre für den Reformator nichts anderes als pharisäerhafter Selbstbetrug. Es ist für ihn selbstverständlich, dass die Kinder glaubender Eltern zum Bund Gottes und damit in die neutestamentliche Gemeinde gehören, (so dass ihnen die Taufe als Zeichen und Siegel des Gnadenbundes Gottes nicht vorenthalten werden soll).
Auch die Gemeindezucht hält er für unverzichtbar. Dabei geht es ihm nicht um die Herstellung einer sündlosen Gemeinschaft, sondern um das Praktizieren erkennbarer brüderlicher Gemeinschaft, die davor geschützt werden muss, dass sie sich in die Welt auflöst. Was würde das bedeuten, wenn man sich diese biblischen Wahrheiten über Gemeindesein endlich (wieder) klarmachen würde!
Anstatt aus der Fülle von Calvins Werk noch weitere positive Punkte zu nennen, sei einmal der für eine Rezension ungewöhnliche Weg eingeschlagen und die Frage gestellt: Welche Gründe könnte es geben, die Institutio nicht zu lesen? Vermutlich lassen sich zwei (Haupt)gründe bedenken.
Zum einen könnte es daran liegen, dass man dieses Werk Calvins gar nicht kennt, noch nie von ihm gehört hat. In diesem Fall kann man es natürlich auch nicht wertschätzen. Wem zum Beispiel zur Reformation des 16. Jahrhunderts nur der Name „Luther“ einfällt, ist schlecht informiert.
Zweifellos war Luther derjenige, der bis in die tiefsten Schichten seines Menschseins an sich erfuhr, dass Gott ein zorniger Gott ist. Ihn wühlte die Frage auf, wie seine Sünden in ihrem vor Gott unauslotbaren Gewicht gesühnt werden können. Aus diesem Blickwinkel fand Luther das Kernthema der Reformation. Er durchschaute die Hohlheit der römisch–katholischen Bußtheologie, in der man für die eigenen Sünden und für die Sünden seiner Angehörigen Ablass und gute Werke als „Genugtuungen“ („satisfactiones„) leisten könne. Ganz von unten, und damit mit einer ungeheuren, ihn schier zerschmetternden Wucht begriff er, dass, wenn es Rettung gibt, sie ausschließlich von außen kommen muss. Das heißt konkret: von Christus, dem Sohn Gottes.
Aber die Kehrseite dieser reformatorischen Kerneinsicht war, dass manche anderen Wahrheiten für Luther in den Hintergrund traten. Bezeichnenderweise hat der Wittenberger Professor nie versucht, seine Erkenntnisse systematisch zusammenzufassen. Genau dies war die Aufgabe desjenigen, der sich immer als Schüler Luthers verstand: Johannes Calvin. Aus diesem Grund kommt niemand, der die Erkenntnisse der Reformation in einer durchdacht gegliederten Weise zur Kenntnis nehmen will, an Calvins Institutio vorbei.
Aber im Blick auf den Genfer Reformator dürfte es nicht nur Unbekanntheit sein, die einen davon abhalten könnte, zur Institutio zu greifen, sondern auch Vorbehalte bzw. Vorurteile.
Hier sei nur einmal an die hasserfüllte Schrift Stefan Zweigs („Castellio gegen Calvin“) aus dem Jahr 1936 erinnert, in der er Calvin als einen eigenwilligen, intoleranten, (nicht ohne Anklang an die totalitäre Machtausübung im Nationalsozialismus) skrupellosen Tyrannen zeichnet. Natürlich ist ein derartiges Bild von ernsthaften Historikern schon zigmal anhand der historischen Fakten widerlegt worden. Aber man täusche sich nicht! Unterschwellig haben derartige Stereotypen eine lange Halbwertszeit!
Es kann nicht Aufgabe dieser Buchbesprechung sein, derartiges detailliert zu bestreiten. Lediglich sei darauf hingewiesen, dass gerade in neuerer Zeit Calvin wesentlich positiver gesehen wird. Man hebt nicht nur seine Anspruchslosigkeit und sein großes Pflichtbewusstsein hervor. Sein Wahlspruch, mit dem er sich entgegen seiner persönlichen Neigungen dazu bereit erklärte, nach Genf zu gehen, lautete, er wolle „sein Herz Gott zum Opfer darbringen“. Heute wird vielfach gerade seine Milde, seine Sanftmut, seine Bescheidenheit hervorgehoben. Bezeichnenderweise lehnte er es am Ende seines Lebens ausdrücklich ab, dass seine Grabstätte auffindbar sei. Jede Wallfahrtsfrömmigkeit sollte damit im Ansatz unterbunden werden.
Besonders aber ist Calvins außergewöhnliche Fähigkeit, hervorzuheben, strukturiert und verständlich zu schreiben und immer wieder anhand der Heiligen Schrift seine Überlegungen zu überprüfen und daran zu messen. Aber das kann man am besten erkennen, wenn man selbst zu der Institutio greift. Deswegen die Empfehlung: Lesen Sie selbst!
Die Übersetzung stammt von Otto Weber, der dieses Werk in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ins Deutsche übertrug. Dankenswerterweise sind in der jetzigen Neuausgabe die Druckfehler berichtigt worden, und es ist auch eine (leichte) Überarbeitung erfolgt. Dass die frühere Frakturschrift durch eine moderne Antiquaschrift abgelöst worden ist, ist leserfreundlich. Auch ist es durchaus sinnvoll und nicht störend, dass gelegentlich schwierig zu übersetzende Worte in lateinischer Sprache in Klammern hinter die deutsche Übersetzung eingefügt worden sind. Ein Mangel dagegen stellt das Fehlen eines Bibelstellen– und Begriffsregisters dar. Hoffentlich korrigiert der Verlag dieses Defizit bald!
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion [Institutio Christianae Religionis]. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg. Neukirchen–Vluyn
[Neukirchener Verlag] 2008 (ISBN 978-3-7887-2327-9) oder foedus–Verlag [(ISBN 978-3-7887-2327-9), 860 Seiten. € 49.90 (D); € 51.30 (A), CHF 84.00.
Jürgen-Burkhard Klautke