Hoffnung für Europa – jenseits von Politik Reisebericht und Interview

Hoffnung für Europa – jenseits von Politik Reisebericht und Interview

 Carl Trueman ist Professor für Kirchengeschichte im Grove City College im US-Bundesstaat Pennsylvania. In den vergangenen Jahren ist er weltweit in vielen Kirchen und Gemeinden bekannt geworden für seine sorgfältigen und verständlichen Analysen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Denkens im Westen (namentlich im Bereich der Sexualethik). In den letzten Ausgaben der Bekennenden Kirche haben wir wiederholt auf Truemans Bücher hingewiesen, die mittlerweile auch in deutscher Sprache erschienen sind.

Im Juni und Juli dieses Jahres besuchte Trueman die Niederlande und Deutschland, um mehrere Vorträge über diesen Themenkomplex zu halten – unter anderem auf der Evangelium21-Hauptkonferenz Mitte Juni in Hamburg. Im folgenden Reisebericht1 blickt Trueman auf seine Zeit in Europa zurück. Im Anschluss an diesen Bericht ist ein Interview abgedruckt, das Jochen Klautke in Hamburg mit ihm führen konnte. Für die Übersetzung und Transkription bedanken wir uns bei Lukas Strauß.

Die Nachrichten aus Europa werden von den Wahlen in Großbritannien und Frankreich dominiert – und dem offensichtlichen Chaos, das vor allem bei Letzteren zu erwarten ist. Man könnte versucht sein, zu denken, der Kontinent befinde sich mitten im Sterbeprozess einer alten Weltordnung. Unsere Welt ist eine Welt, in der Hoffnungslosigkeit im Trend liegt. Vorhersagen des apokalyptischen Untergangs sind Clickbait und die politischen Vertreter beider Extreme schlagen gerne Kapital aus der Verbreitung der Erzählungen, an denen sie ein Interesse haben (gerade im Internet).

Aber nachdem ich gerade von einem fast dreiwöchigen Aufenthalt in Europa zurückgekehrt bin, freue ich mich, berichten zu können, dass es auch andere Geschichten gibt, über die es sich lohnt nachzudenken.

Während meines Aufenthalts habe ich auf vier christlichen Konferenzen gesprochen: eine in Deutschland und drei in den Niederlanden. Die erste Konferenz (für die Organisation Evangelium21) fand in Hamburg statt. Sie wurde von über 1200 Menschen besucht – sowohl von Gemeindeleitern als auch von Laien. Die große Mehrheit war unter dreißig Jahre alt. Es ist gut möglich, dass ich mit siebenundfünfzig Jahren der älteste Mensch im Gebäude war.

In den Niederlanden sprach ich auf einer vom Tyndale Seminary organisierten Konferenz mit mehreren hundert Teilnehmern, dann auf einer größeren Versammlung, die von der Gruppe Bijbels Beraad gesponsert wurde. Schließlich habe ich bei einem Jugendtreffen an einem Donnerstagabend zwei Vorträge gehalten. Über sechshundert junge Menschen im Alter von sechzehn bis vierundzwanzig Jahren kamen, um mir zuzuhören, als ich über die Wurzeln der modernen Angst und anschließend über die Theologie des öffentlichen Gottesdienstes sprach – und das, obwohl am nächsten Tag Schule war.

Bemerkenswerte Begegnungen

Überall, wo ich hinkam, hatten meine Frau und ich bemerkenswerte Gespräche – sowohl mit Pastoren als auch mit jungen Menschen. Pastoren spüren den gleichen Druck in Europa, den viele in den USA erleben: Politiker, die den Anspruch erheben, die Prioritäten zu bestimmen – seien es die Forderungen der progressiven Internationalisten oder der reaktiven Nationalisten. Sie sind sich dieses Drucks bewusst und verstehen die Gefahr, die Wahrheit des Evangeliums nur zu einer Seite der politischen Landschaft zu sprechen. Eine kurzfristige strategische Verkürzung des Evangeliums ist allzu leicht ein Vorspiel für eine langfristige Entwicklung hin zu einem Christentum, das kein Christentum mehr ist. Politische Zweckmäßigkeit ist ebenso wie kulturelle Relevanz eine wankelmütige und unerbittliche Herrin. Pastoren, die in den Glaubenswahrheiten verwurzelt sind, wissen das.

Sehnsucht nach Wurzeln

Was die jungen Leute angeht, so haben meine Frau und ich viele Gespräche geführt, die auf einen echten Wunsch hinweisen, Wurzeln im historischen christlichen Glauben zu finden. Viele kamen aus Brüdergemeinden, die ihre Wurzeln im Täufertum haben. Sie waren entsprechend dankbar für die Liebe Jesu und die seelsorgerliche Betreuung, die sie in ihren Brüdergemeinden erfahren hatten. Aber sie waren sich bewusst, dass sie in einer Welt, in der die breitere Kultur dem Glauben zunehmend gleichgültig oder sogar feindlich gegenübersteht, solidere Nahrung brauchten: eine zusammenhängende Lehre ausgedrückt in durchdachten gut strukturierten Gottesdiensten, die aus den historischen, konfessionellen Ressourcen eines bewährten Christentums schöpft.

Nichts veranschaulichte dies mehr als das Treffen an besagtem Donnerstagabend: eine große Menge junger Menschen, die wissen wollten, wie der gemeinschaftliche christliche Gottesdienst die theologische Grundlage für eine Antwort auf die grundlegenden anthropologischen Herausforderungen unserer Zeit ist. Dort, in der Liturgie, ruft Gott uns in seine Gegenwart, erinnert uns daran, wer wir sind, und schenkt uns durch Wort und Sakramente Gnade, um als menschliche Wesen in einer Welt zu leben, die die Menschheit auf das Niveau roher Begierden herabgewürdigt hat.

Mutmachende Begegnungen

Wie sollen wir auf die Entwicklungen reagieren? Sicherlich ist Europa nicht im Begriff, zu einem weit verbreiteten kulturellen Christentum zurückzukehren.

Der persönliche Höhepunkt meiner Reisen war ein mehrtägiges Treffen mit Päivi Räsänen, der führenden finnischen Abgeordneten, deren Bemühungen um die Religionsfreiheit allgemein bekannt sind. Doch was an Frau Räsänen auffiel, war die Freude, die ihr Leben prägte. In ihrem Vortrag vor dem Bijbels Beraad ging es ebenso sehr um das Evangelium von Jesus Christus wie um die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte. Das stellt einen ziemlichen Kontrast dar zu den notorisch verärgerten Menschen, die an den vielen christlichen Online-Diskussionen teilnehmen und die wahrscheinlich noch nie mit den Herausforderungen konfrontiert waren, die sie durchgemacht hat.

Hoffnungsvolle Entwicklungen

Aber während Europa als Ganzes keine Zeit für das Christentum hat – geschweige denn für ein konfessionell verankertes evangelisches Christentum –, zeigt sich doch, dass sich bei einem Teil der Jugend etwas tut. Natürlich bewegen sich viele junge Menschen in Richtung einer radikalen Politik der Extreme. Die Suche nach einem Sinn, vielleicht nach einer Sache, für die es sich zu sterben lohnt, ist verständlich in einer Zeit, die den konsumorientierten Traum als Ziel des menschlichen Lebens darstellt (und gleichzeitig wirtschaftliche Realitäten schafft, die diesen Traum für viele unerreichbar machen). Doch radikale Politik, ob von links oder von rechts, ist allzu oft entmenschlichend. Sie reduziert ihre Gegner auf eine Reihe von Überzeugungen und entmenschlicht damit auch ihre Anhänger, was dazu führt, dass sie diejenigen verachten, die ebenfalls nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden. Im Gegensatz dazu ist das Christentum etwas, für das es sich zu leben – und zu sterben – lohnt. Es bietet eine Hoffnung, die wahre Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt, eine Menschlichkeit in Gemeinschaft mit Gott durch das Werk Jesu Christi. Sie gibt Freude im Angesicht der Bitterkeit, Glauben im Angesicht des Zynismus und Erlösung im Angesicht des ewigen Gerichts. Es ist schön zu sehen, dass viele junge Menschen etwas anderes wollen als den tödlichen Online-Kampf, den unzählige politische Meinungsmacher anbieten.

Ich bin nach Europa gekommen in der Erwartung, etwas entmutigt zu sein von dem, was ich sehen würde. Ich bin beschwingt zurückgekommen. Der Herr ist noch nicht am Ende mit seinem Volk, und inmitten all der Wut und Bitterkeit hat er seine Päivi Räsänens und seine vielen anonymen jungen Menschen, die das Evangelium freudig in ihre Generation und weit darüber hinaus tragen.

Interview

Jochen Klautke: Vielen Dank, Carl Trueman, für Ihre Bereitschaft, hier im Rahmen der Evangelium21-Konferenz mit uns zu sprechen. Würden Sie sich zu Beginn kurz vorstellen?

Carl Trueman: Mein Name ist Carl Trueman, ich unterrichte am Grove City College im Westen von Pennsylvania. Ich bin ordinierter Pastor der Orthodox Presbyterian Church, einem US-amerikanischen presbyterianischen Kirchenverband, bin aber selbst Engländer. Mit meiner Frau Catriona lebe ich im Westen Pennsylvanias.

Jochen Klautke: Sie haben zwei Bücher zum Thema fremde neue Welt geschrieben. Eines für ein fortgeschrittenes Publikum mit dem Titel Der Siegeszug des modernen Selbst und eines für ein eher „normales“ Publikum mit dem Titel Fremde neue Welt.

In beiden Büchern haben Sie die Frage diskutiert: Warum sind heute Dinge und Verhaltensweisen normal, die vor 30 Jahren noch seltsam gewesen wären? Als Beispiel erwähnen Sie Ihren Großvater, der vor einigen Jahrzehnten laut gelacht hätte, wenn er von einem Mann gehört hätte, der von sich behauptet hätte: ‚Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes‘.

Warum also sind heute Dinge und Verhaltensweisen normal, die noch vor wenigen Jahrzehnten als seltsam galten?

Carl Trueman: Das ist eine sehr gute Frage. Ich denke, dass viele von uns zu dem Denken neigen, dass diese Dinge erst vor kurzem passiert sind. Und bis zu einem gewissen Grad sind sie das auch, was die Art und Weise angeht. Ein Beispiel wäre, wie Transgenderismus in den letzten zehn Jahren in Europa und Nordamerika zu einem öffentlichen Thema geworden ist.

Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass die Ursachen, die Ursprünge dieser Probleme sehr tief liegen. Sie sind hunderte von Jahren alt. In den letzten 20, 30, 40 Jahren ist dann tatsächlich folgendes passiert: Eine Reihe verschiedener Dinge sind zusammengekommen. So entstand ein sehr interessanter und plötzlicher kultureller Moment. Aber die Ursachen sind nicht plötzlich, sondern sie sind sehr, sehr alt.

Jochen Klautke: Gegen Ende Ihres Buches Der Siegeszug des modernen Selbst, rufen Sie uns als evangelische Christen dazu auf, zu einer hohen Sicht des Körpers zurückzukehren. Ich zitiere: „Der Protestantismus mit seiner Betonung des gepredigten und im Glauben erfassten Wortes ist vielleicht besonders anfällig dafür, die Bedeutung des Körperlichen herunterzuspielen.“ 2

Was können evangelische Kirchen und Gemeinden tun, um bei ihren Mitgliedern eine hohe Wertschätzung für den Körper und das Körperliche zu fördern?

Carl Trueman: Eine Reihe von Dingen. Der erste Punkt ist meiner Meinung nach klar: Wir brauchen gute Lehre über die Bedeutung des Körpers. Dazu gehören meiner Meinung nach mindestens zwei Elemente.

Das erste ist ein gutes Verständnis der Schöpfung, ein Verständnis, dass der Mensch in einer verkörperten Form geschaffen wurde und auch in einer geschlechtlich unterschiedlichen, verkörperten Form: als Mann und als Frau. Ich denke also, dass es zunächst einmal wichtig ist, über die Schöpfung zu lehren. Wir müssen über weitere und bedeutungsvollere Begriffe nachdenken, als wir es vielleicht in der Vergangenheit getan haben.

Zweitens denke ich, dass wir uns auf die Auferstehung konzentrieren müssen. Als evangelische Christen neigen wir oft dazu, uns auf die Kreuzigung zu konzentrieren; wir neigen oft dazu, uns auf die Vergebung der Sünden zu konzentrieren. Das sind biblische Wahrheiten, das sind Dinge, auf die wir uns konzentrieren sollten. Aber das Evangelium besteht natürlich nicht nur darin, dass uns die Sünden vergeben werden. Das Evangelium sagt auch, dass wir nach dem Tod auferstehen und eine Ewigkeit genießen werden, eine körperliche Ewigkeit in der Gegenwart Gottes. Ich denke also, dass wir nicht nur unsere Schöpfungslehre klarer betonen müssen, sondern auch sicherstellen müssen, dass unser Verständnis der Erlösung die volle Bedeutung der Auferstehung Christi einbezieht. Ich sage oft zu meinen Studenten: ‚Wenn das Evangelium einfach nur die Vergebung der Sünden wäre, hätte Christus nicht auferstehen müssen.‘ Auch wir bräuchten dann nicht aufzuerstehen. Wenn wir nur Seelen sind: warum müssen wir dann auferstehen? Und die Antwort darauf ergibt sich natürlich aus einem vollständigen und umfassenden Verständnis der Rolle der Auferstehung in der Erlösung.

Jochen Klautke: Sie haben gerade Ihre Studenten erwähnt. Nehmen wir an, dass ich einen 20-jährigen Studenten in meiner Gemeinde habe, der eine säkulare Universität besucht. Was können wir als Gemeinde tun, um ihn dabei zu unterstützen, eine biblische Sexualethik zu bewahren und bereit zu sein, die ‚sozialen Kosten‘ zu akzeptieren, die das heute mit sich bringen kann?

Carl Trueman: Nun, ich denke, auch hier gibt es ein starkes lehrendes Element. Man muss den ganzen Ratschluss Gottes lehren, und ich denke, man muss besonders die Rolle des Kreuzes und des Leidens im christlichen Leben betonen. Wir sind hier in Deutschland und es gibt keinen größeren Theologen des Kreuzes oder des Leidens im christlichen Leben als Martin Luther. Ich denke also, dass eine Rückbesinnung auf einige Betonungen Luthers entscheidend ist.

Zweitens denke ich, dass starke Gemeinschaften wichtig sind. Es ist sehr schwierig, unter den gegebenen Umständen allein für die Wahrheit einzutreten. Wo gibt es einen Menschen, der auf sich allein gestellt standhalten kann?

Die Gemeinde hat also die Aufgabe, eine starke und unterstützende Gemeinschaft zu sein, die jungen Menschen eine Perspektive gibt, wie gesunde Freundschaften und gesunde Ehen aussehen. Ich bin davon überzeugt, dass es auch diesen körperlichen Aspekt des Lebens gibt. Gute Lehre und ein gutes Miteinander in der Gemeinde sind also absolut entscheidend für die Vermittlung einer guten Sexualmoral und einer biblischen Ethik im Allgemeinen.

Jochen Klauke: Sie haben nicht nur Bücher über die fremde neue Welt geschrieben, sondern auch über die Notwendigkeit und Bedeutung von Glaubensbekenntnissen. Ihr erstes Buch erschien vor etwa 10 bis 12 Jahren unter dem Titel The creedal imperative (Der Auftrag, Bekenntnisse zu haben). Sie haben dieses Buch kürzlich mit einigen Änderungen neu herausgegeben und es trägt nun den Titel Crisis of Confidence (Die Krise des Vertrauens).

Die Neuerscheinung ist also im Grunde das ursprüngliche Buch mit ein paar Aktualisierungen. Inwieweit sind die Aktualisierungen im neuen Buch von dem beeinflusst, was Sie während Ihres Studiums der fremden neue Welt in der Zwischenzeit gelernt haben?

Carl Trueman: Sie sind in hohem Maße beeinflusst. Ich denke, in einigen Bereichen habe ich einfach erkannt, dass diese Bereiche noch wichtiger sind, als ich zuvor dachte. Dabei spielt einerseits die Bedeutung der historischen Wurzeln eine Rolle – die Bedeutung der gemeinschaftlichen Identifikation mit anderen, die sowohl durch ein gemeinsames historisches Glaubensbekenntnis als auch durch eine gemeinsame liturgische Gottesdienstgestaltung entsteht – durch eine Liturgie, die uns miteinander verbindet. Diese Dinge sind also sehr wichtig. Und drittens halte ich die Bedeutung von Ideen und liturgischen Praktiken für die Identität für sehr wichtig. Das ist etwas, das ich vor 10, 12, 13 Jahren nicht wirklich zu schätzen wusste.

Und der andere Aspekt, den ich hervorheben möchte, ist mir in den letzten Jahren immer deutlicher geworden: Dieser Aspekt ist zwar im ursprünglichen Buch erwähnt, aber ich glaube, ich habe jetzt ein schärferes Verständnis davon, wie wichtig es ist, biblische Lehre als Ganzes zu vermitteln. Es geht um die Einsicht, dass keine christliche Lehre völlig losgelöst von einer anderen ist.

Sie haben eben eine Frage zur Sexualethik gestellt. Man kann die Sexualethik nicht von der Lehre von Gott trennen. Denn wir sind nach dem Bild Gottes geschaffen. Unsere Sexualethik (wie auch unsere Ethik im Allgemeinen), muss in dem Gedanken verwurzelt sein, dass wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Und ich denke, dass das pädagogisch sehr wichtig ist. Denn wenn wir jungen Menschen nur beibringen, dass Ethik ausschließlich aus einer Reihe von Geboten und Verboten besteht, ohne dass sie verstehen, wie diese Gebote und Verbote in den Gesamtzusammenhang der Bibel passen – und wie diese Dinge aufgrund dieses biblischen theologischen Rahmens einen Sinn ergeben –, dann werden sie unter dem Druck der Außenwelt schnell aufgeben.

Mein letzter Punkt ist also meine Überzeugung, dass Glaubensbekenntnisse uns eine sehr klare Vorstellung davon geben, wie christliche Lehren miteinander in Verbindung stehen und auch mit der Ethik verbunden sind.

Jochen Klautke: Lassen Sie uns auf den 20-jährigen Studenten zurückkommen. Was können wir als Kirche tun, um ihm die Notwendigkeit und die Schönheit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde zu zeigen, die sich auf Bekenntnisse gründet?

Wir haben in unserer Gemeinde zum Beispiel viele Menschen mit einem nicht-kirchlichen Hintergrund, also einem säkularen Hintergrund ohne Bekenntnisse oder Menschen mit einem eher klassischen evangelikalen Hintergrund, in dem die Lehre keine so große Rolle spielt.

Was können wir also als Gemeinde in der Praxis tun, um vor allem jungen Menschen zu helfen, sich wirklich mit den Glaubensbekenntnissen auseinanderzusetzen?

Carl Trueman: Das ist eine gute Frage! Ich denke, als Erstes müssen wir unseren jungen Menschen immer wieder vermitteln, dass sie dankbar für den kirchlichen Hintergrund sind, den sie haben. Wenn sie zu einer Gemeinde gegangen sind, die vielleicht kein Bekenntnis hat –

aber eine sehr hohe Sicht von der Bibel, eine sehr hohe Sicht von Christus und eine sehr hohe Sicht von der Erlösung hat und dementsprechend gelehrt und geleitet hat – ist es wichtig, dass wir diesen Hintergrund nicht missachten oder schlecht machen. Wir müssen unseren jungen Menschen beibringen, für diejenigen dankbar zu sein, die sie im Glauben erzogen haben.

Dann denke ich, dass wir den jungen Menschen helfen müssen, zu erkennen, dass die Dinge, die diese Kirchen oft zu Recht als die wichtigsten ansehen, z.B. die Schrift, dass diese Dinge am besten von Generation zu Generation geschützt werden, indem man sich an die historischen Glaubensbekenntnisse der Kirche hält.

Und ich würde sie zuallererst auf die Bibel verweisen und sagen: Seht her, Paulus spricht von der Notwendigkeit gesunder Worte. Paulus spricht von der Notwendigkeit, an der Tradition der Apostel festzuhalten. Paulus ist eindeutig nicht der Meinung, dass die Kirche das Evangelium jeden Sonntag neu erfinden soll. Es gibt ein gewisses Element der Kontinuität, und ich würde versuchen, die Bibel zu benutzen, um den Studenten zu zeigen, dass das Festhalten an der Bibel als einziger Autorität nicht bedeutet, dass die Bibel das Einzige ist, was die Gemeinde braucht, um gesund zu sein. Es ist sehr nützlich, Zusammenfassungen der Bibel zu haben, auf die wir uns alle einigen können, um den Glauben von Generation zu Generation weiterzugeben.

Jochen Klautke: Eine letzte Frage: Sie sind gerade in Deutschland zu Besuch. Wie oft waren Sie schon hier?

Carl Trueman: Wahrscheinlich ist das mein dritter oder vierter Besuch.

Jochen Klautke: Es ist ja Ihre Haupttätigkeit, Kirchengeschichte zu unterrichten. Sie haben bereits Luther erwähnt – ist er Ihr Lieblingsdenker aus Deutschland oder jemand anderes? Und warum?

Carl Trueman: (lacht) Es ist Luther! Es gibt niemanden, der ihm nahekommt.

Zunächst einmal kamen eine Menge schlechter Theologen aus Deutschland: große Theologen, aber keine sehr guten Theologen im 19. Jahrhundert.

Ich glaube, ich persönlich finde, dass Luthers existenzielle Betonung seiner eigenen persönlichen Kämpfe bei mir persönlich Anklang findet. Ich fühle also eine große persönliche Zuneigung zu Luther.

Zweitens denke ich, dass er zwar vielleicht nicht in vielen Fällen der größte Bibelausleger ist, aber seine Arbeit, insbesondere seine Predigten und seine Kommentare zur Bibel, bewegen sich immer sehr schnell zu Christus und der Verherrlichung Christi.

Und drittens ist es – wie ich eben schon kurz erwähnt habe – die Theologie des Leidens, der Theologe des Kreuzes. Jeder, der dieses Interview liest, sollte sich Luthers Heidelberger Disputation von 1518 anschauen. Wenn Sie das lesen, werden Sie auf diese Idee des Theologen des Kreuzes stoßen, die eine sehr, sehr wichtige Erklärung dessen ist, was Paulus im ersten und zweiten Korintherbrief lehrt. Und ich denke, diese Theologie ist sehr wichtig in einer Zeit, in der die Kirche im Westen zwar nicht mehr so aktiv verfolgt, aber an den Rand gedrängt und dort verachtet wird. Und es kann die Versuchung entstehen zu denken, dass Gott nicht mehr die Kontrolle über die Kirche hat oder dass die Kirche im Sterben liegt, nur weil sie nicht mehr so stark – äußerlich stark – und mächtig ist wie früher. Ich denke, dass Luthers Vorstellung vom Theologen des Kreuzes in diesem Zusammenhang sehr, sehr wichtig ist. Luther ist der mit Abstand größte deutsche Theologe.

Jochen Klautke: Vielen Dank, Carl Trueman, für dieses Gespräch.

Carl Trueman: Ich danke Ihnen. Es war mir ein Vergnügen.


 1 Der Reisebericht erschien am 11. Juli dieses Jahres in dem Onlinemagazin First Things unter dem Titel Hope beyond politics in Europe https://www.firstthings.com/web-exclusi-ves/2024/07/hope-beyond-politics-in-europe – abgerufen am 09.09.2024. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung

2 Carl R. Trueman: Der Siegeszug des modernen Selbst: Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg zur sexuellen Revolution. Bad Oeynhausen [Verbum Medien] 2022. S. 490.