Gastfreundschaft und Evangelisation

Gastfreundschaft und Evangelisation

„Das stand nun wirklich nicht auf meiner Liste von Dingen, die ich gerne mal machen würde: zum Abendessen zu Christen nach Hause zu gehen. Als geoutete Lesbe und Feministin, Vorkämpferin für die LGBTQ-Rechte*, in jüngster Zeit Mitverfasserin der ersten Richtlinie für Verpartnerungen an der Syrakus University und demnächst habilitierte Radikale war es nicht mein Herzenswunsch, mich mit dem Feind anzufreunden. Christen schienen mir ein engstirniger, unbarmherziger, unmoralischer Haufen zu sein. Sie aßen Fleisch, glaubten an die Prügelstrafe, verstießen hochgradig gegen Menschen- und Umweltrechte, versagten der Frau das Recht auf Entscheidungsfreiheit und meinten, dass die ganze Welt dem totalitären Gehorsam gegenüber der Bibel unterworfen werden solle – einem veralteten Buch voller Rassismus, Sexismus und Homophobie. Sie hielten an abergläubischen Konzepten von ‚Sünde‘ fest und erfanden noch weitere dazu. Ich hingegen glaubte, dass sich dahinter – wie Freud erklärte – lediglich eine kulturelle Phobie verberge, an die sich die Getäuschten klammern. Ihr Denken wird durch eine universale Zwangsneurose manipuliert […] Doch vor allem jagten Christen mir einfach gehörig Angst ein. Unsere Weltanschauungen – und die moralische Brille, die wir verwendeten, um Dinge zu verstehen – waren völlig inkompatibel. Unüberwindbar.“[1]  So berichtet Rosaria Butterfield in dem Buch „Offene Türen öffnen Herzen“ aus ihrem Leben.

Eine unerwartete Begegnung

Dennoch ging sie auf die freundliche Einladung eines Pastors ein, denn sie schrieb an einem Buch über „die religiösen Rechten und ihre Grundsätze, Praktiken und Narrative des Hasses“ gegen Leute wie sie. Butterfield war sich bewusst, dass sie dazu die Bibel lesen und zudem „Kontakt mit dem Feind“ aufnehmen musste. „Doch die Aufgabe, die mir bevorstand, war beängstigend. Aus diesem Grund saß ich so lange in meinem Pickup und fühlte mich nicht recht bereit, an die Tür dieses Hauses zu klopfen und über die Türschwelle zu treten […]

Ich quälte mich durch die ungewöhnlich dicke, feuchte Juli-Luft zur Haustür und klopfte an. Die Türschwelle zu ihrem Leben war wie keine andere. Die Türschwelle zu ihrem Leben brachte mich zum Kreuz.

Nichts an jenem Abend entwickelte sich nach meinem vertrauten Drehbuch. Nichts geschah so, wie ich es erwartete. Weder an jenem Abend noch in den Jahren danach, weder bei hunderten von Mahlzeiten noch an den langen Abenden, an denen Psalmen gesungen wurden und gebetet wurde, während andere Gläubige durch die Tür dieses Hauses ein- und ausgingen, als gäbe es dort keine Tür. Nichts bereitete mich auf diese Offenheit und Wahrheit vor. Nichts bereitete mich auf das nicht aufzuhaltende Evangelium und die Liebe Jesu vor, die sich in der Gastfreundschaft manifestierten, die in diesem einfachen christlichen zu Hause täglich praktiziert wurde. Dieses christliche Zuhause wurde für zwei Jahre mein Zufluchtsort und meine Zwischenstation. Lange, bevor ich durch die Türen einer Gemeinde ging, war das Haus der Familie Smith ein Ort, an dem ich mit der Bibel rang – mit der Realität, dass Jesus wirklich der ist, der er zu sein behauptet.“[2]

Die meisten unserer Mitmenschen scheinen für uns Christen heutzutage kaum noch erreichbar zu sein. Doch die Autorin schlussfolgert aus ihrer eigenen Erfahrung: „Wir leben in einer nachchristlichen Welt, die gründlich satthat, von Christen zu hören. Aber wer kann über von Barmherzigkeit motivierte Gastfreundschaft streiten? Was für ein potenzielles Zeugnis, das wir als Christen direkt hier zur Hand haben, und es liegt brach.“[3]

In diesem Artikel geht es um das Thema Gastfreundschaft und Evangelisation. Beide biblischen Themen sind nicht nur sehr wichtig, sondern eng miteinander verbunden. Viele Gedanken in diesem Artikel verdanke ich dem Buch über Gastfreundschaft von Rosaria Butterfield, welches ich sehr empfehle.

Ein wirksames Zeugnis

So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt 5,16). Doch wie sollen die Menschen um uns herum tatsächlich etwas von unserem Glauben und unserem Leben als Christen und vor allem unserer Liebe und Barmherzigkeit mitbekommen, wenn nicht, indem wir sie in unser Leben und damit in unsere Häuser hineinschauen lassen?

Was den Menschen heute vielleicht am meisten fehlt, ist Familie: enge, herzliche, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen. Das können, ja, das sollen wir ihnen durch Gastfreundschaft zeigen und geben. Johannes schreibt: Wer aber die Güter dieser Welt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz vor ihm verschließt — wie bleibt die Liebe Gottes in ihm? Meine Kinder, lasst uns nicht mit Worten lieben noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit! (1Joh 3,17) Wer aber Familie und herzliche Gemeinschaft in dieser Welt hat und seine Mitmenschen an ihrer Einsamkeit leiden sieht und sein Herz vor ihnen verschließt – wie bleibt die Liebe Gottes in ihm oder wie will er ihnen die Liebe Gottes bezeugen?

Ein ungestillter Hunger

Um uns herum hungern Menschen nach tiefer Gemeinschaft. Auf der Suche danach gehen sie in alle möglichen Vereine oder Internetforen. Was sie aber wirklich von Herzen brauchen, ist die Bundesgemeinschaft mit Gott. Dafür sind sie geschaffen und durch Gastfreundschaft von Christen können, ja sollen sie diese besondere Gemeinschaft der Familie Gottes erleben und an ihr teilhaben.

Dieses Zeugnis, dieses Hineinnehmen in die Familie, kann vor allem für junge Menschen, für Kinder und Jugendliche zum großen Segen werden. Nicht in der Gesellschaft, nicht im Internet, nirgends als in einem christlichen Zuhause können sie erleben, dass die Familie zum Essen zusammenkommt, dass man zu Tisch betet, dass man die Bibel tatsächlich liest, ja, dass der Fernseher ausgeschaltet wird, damit das Gespräch beginnen kann. Darum öffnen Sie ihr Haus für die Freunde ihrer Kinder! Junge Menschen wissen meistens nicht, wie sie gute Ehemänner und Väter, Ehefrauen und Mütter werden. Es gibt keinen Ort, keine Schule, kein Seminar, wo man das erlernen kann. Es gibt nur Dinge, die so etwas zerstören und verhindern: Pornographie, Gaming, Entertainment, Fernsehen usw.

Mit Ihrer Gastfreundschaft können Sie ein Zeugnis der christlichen Werte und des Segens der biblischen Gebote auf eine Art und Weise weitergeben, wie es sonst wohl kaum möglich ist.

Eine verlorene Heimat

Aber Gastfreundschaft hat noch eine weitere, eine tiefere Bedeutung, wenn es um Evangelisation geht. Wir leben in einer nachchristlichen Zeit. Das heißt nicht nur, dass es nur noch sehr wenige überzeugte Christen gibt, sondern auch, dass Christen an den Rand, ja mehr und mehr über den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Das, was Christen glauben, ist nicht mehr nur nicht zeitgemäß, sondern wird vielfach als gefährlich betrachtet. Wer Christ wird, muss deshalb damit rechnen, seine bisherige Akzeptanz unter seinen Freunden und Kollegen, ja sogar in seiner Familie zu verlieren, was nichts anderes bedeutet, als sein bisheriges Zuhause zu verlieren. Denn unser Zuhause sind vielmehr unsere Beziehungen, als der Ort und das Haus, wo wir wohnen.

Butterfield schreibt: „Christliche Bekehrung bedeutet immer, das Leben einzutauschen, das man einst liebte. Man kann die Bekehrung nicht auf dieses alte Leben aufsatteln. Deshalb haben Menschen viel zu verlieren, wenn sie zu Christus kommen – und manche Menschen haben mehr zu verlieren als andere.“[4]  Wir tragen gegenüber Menschen, die sich in dieser Lebenssituation befinden, die besondere Verantwortung, ihnen ein neues zu Hause zu geben.

Ein neues Zuhause

Da begann Petrus und sprach zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt! Jesus aber antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker verlassen hat um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfältig empfängt, jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker unter Verfolgungen, und in der zukünftigen Weltzeit ewiges Leben (Mk 10,28-30).

Der hundertfache Segen, den Jesus hier verheißt, fällt nicht einfach vom Himmel. Jesus will, dass er durch die Gemeinde, durch die Familie Gottes, durch uns Christen verwirklicht wird.

Doch wie schnell sind wir nur noch damit beschäftigt, unsere schöne kleine, christliche Parallelwelt aufzubauen, in der wir außerhalb unserer Arbeit fast nur noch engere Kontakte zur eigenen Familie und zur geistlichen Familie haben. Wir genießen die einzigartige Gemeinschaft, die wir als Christen untereinander haben dürfen. Und das ist auch sehr gut. Aber wir dürfen nie vergessen, dass auch wir sie nicht verdient haben, weil wir so freundlich und herzlich sind. Wir haben diese Gemeinschaft allein durch Christus! Gastfreundschaft ist das Mittel, wie wir Jesu ansteckende Gnade den Menschen zeigen können und sie in diese Gemeinschaft hineinnehmen können.

In Psalm 68 preist David Gott, denn er ist ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen […] ein Gott, der die Einsamen nach Hause bringt (68,6.7). Gott verheißt, dass er Einsamen eine Familie schenken wird. Und wissen Sie was, Gott möchte unsere Häuser und Familien als lebendigen Beweis dafür gebrauchen. Durch Gastfreundschaft zeigen wir den Menschen, dass sie tatsächlich schon jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker trotz Verfolgungen, Ausgeschlossensein, Anfeindungen und Verlusten hundertfältig empfangen. Wir zeigen, dass unser Glaube nicht nur eine Vertröstung auf das Jenseits ist.

Ein göttliches Vorbild

Gastfreundschaft ist kein Randthema der Bibel. Im Gegenteil! Schon bei den Geschichten der Erzväter lesen wir immer wieder davon. Auch im Gesetz wird sie mehrfach geboten. Doch vor allem Jesus offenbart uns Gott als den großen Gastgeber. Kein Wunder, dass auch sein Leben von Anfang an durch Gastfreundschaft geprägt war. Nach der Taufe war es Jesu erste „Amtshandlung“, dass er zwei der Johannesjünger zu sich nach Hause einlud (Joh 1,39). Wenige Zeit später waren seine Jünger und er auf einer Hochzeit in Kana zu Gast. Als der Wein ausging, verwandelte Jesus über 500 Liter Wasser in Wein. Ihm ging es nicht nur darum, dass die Hochzeit weitergehen konnte und dem Brautpaar eine Peinlichkeit erspart bliebe. Ihm ging es darum, den Menschen zu zeigen, welche Herrlichkeit mit ihm kommt.

Christus war Essen und Trinken immer wichtig. Selbst als sie draußen in der Wildnis waren, 5000 Männer plus Frauen und Kinder, und sie nur fünf Brote und zwei Fische hatten, lud Jesus alle ein. Und sie aßen und wurden satt. Jesus selbst schlug auch keine Einladung aus. Ob er von Pharisäern eingeladen wurde oder von den allseits verachteten Zöllnern. Er ging auf jede Feier, um Gemeinschaft zu haben, Beziehungen aufzubauen und Gottes Segen weiterzugeben. Jesus lud sich sogar selbst ein. Auch das ist biblisch: Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren (Lk 19,5). Welcher Segen ging von diesem Besuch bei Zachäus aus! Jesus ging so weit, seinen Jüngern die Füße zu waschen. Das war ein Dienst, den traditionell der Gastgeber seinen Gästen durch einen Sklaven bereitstellte.

Kurz vor seiner Himmelfahrt lud Jesus seine Jünger nochmals ein, als sie wieder einmal von erfolglosem Fischfang zurückkamen. Er rief den erschöpften und sicher ernüchterten Jüngern zu: Kinder, habt ihr nichts zu essen? (Joh 21,5) Dann folgte der zweite wunderbare Fischfang. Aber als sie an Land kamen, ging es weiter: Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. Jesus spricht zu ihnen: Kommt zum Frühstück! Aber keiner der Jünger wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt es ihnen, und ebenso den Fisch (Joh 21,9.12-13). Er stärkte sie mit dieser Mahlzeit nicht nur für den Tag, der vor ihnen lag, sondern für die Aufgabe der Weltmission, die er ihnen anvertraute. Sie durften durch seine Gastfreundschaft erneut erkennen: Jesus wird uns versorgen.

Ein wichtiger Auftrag

Und was war für die Weltmission, für die Verbreitung des Evangeliums, für die Rettung von unzähligen Menschen bis heute absolut notwendig? Gastfreundschaft! Denn wo entstanden die ersten Gemeinden? In Häusern (Apg 2,46).

Durch Lydias Gastfreundschaft entstand in ihrem Haus die erste Gemeinde in Europa. Der Kerkermeister von Philippi nahm Paulus und Silas sofort in sein Haus auf, nachdem er zum Glauben kam. Auch seine erste Amtshandlung als Christ war Gastfreundschaft. Nachdem Paulus aus der Synagoge in Korinth vertrieben wurde, konnte sein Dienst weitergehen, weil Justus sie in sein Haus aufnahm (Apg 18,7).

Christus zeigte seine Liebe dadurch, dass er für Sünder ans Kreuz ging. Dort nahm er unsere Schuld auf sich und trug die göttliche Strafe an unsrer statt. Doch sein Ziel war nicht nur, dass wir vor dem Gericht Gottes gerettet werden. Sein Ziel war die ewige Gemeinschaft zwischen dem dreieinen Gott und uns geretteten Sündern (Joh 17,22-24). Den Himmel beschrieb Jesus darum auch als ein großes Festmahl. Und deswegen zeigte Jesus seine Liebe zu den Menschen, bevor er ans Kreuz ging, indem er mit Vorliebe Tischgemeinschaft mit ihnen pflegte.

Sollten nicht auch wir unsere Häuser öffnen und (mehr) Gastfreundschaft üben? Manche mögen davor zurückschrecken, weil Gastfreundschaft Geld, Zeit und Kraft kostet. Das stimmt. Gastfreundschaft fordert zudem oft, dass wir unsere Wohlfühlzone verlassen müssen. Aber Gastfreundschaft ist ein Dienst, den wir direkt für Jesus tun dürfen, und durch den wir selber gesegnet werden.

Lasst uns unseren Herrn nachahmen und dabei auf ihn vertrauen, dass er uns befähigt und ausrüstet, seine Liebe durch unsere Gastfreundschaft weiterzugeben. Was hat Jesus zu den Jüngern im Angesicht der 5000 gesagt? Gebt ihr ihnen zu essen! Was gaben sie ihnen dann zu essen? Das, was sie von Jesus erhielten.

Und vergessen wir nicht, dass wir selbst und unsere Familien und Häuser eine Gabe Jesu an die sind, die alles verlassen haben, um Jesus zu folgen: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker verlassen hat um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfältig empfängt, jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker unter Verfolgungen, und in der zukünftigen Weltzeit ewiges Leben.

Wer sein Haus öffnet, dem öffnen sich Herzen, denn Gastfreundschaft wird Glaubwürdigkeit bewirken. Und Glaubwürdigkeit wird dazu führen, dass Menschen sich für das Evangelium öffnen. So hat Gastfreundschaft ungeahnte Auswirkungen in zwei Richtungen: Herzen und Himmel.

Rosaria Butterfield schreibt: „Gastfreundschaft klingt häuslich. Aber in Wirklichkeit rüttelt sie an den Himmelspforten für die Leute, um die Sie sich kümmern, die Sie im Arm halten und lieben.“[5]

Ludwig Rühle arbeitet als Pastor der Bekennenden Ev. Gemeinde in Osnabrück und unterrichtet als Lehrbeauftragter Praktische Theologie an der Akademie für Reformatorische Theologie. Er ist verheiratet mit Katharina und Vater von vier Kindern.


[1] Rosaria Butterfield: Offene Türen öffnen Herzen. Dillenburg [CV/Ev21] 2021, S. 58.

[2] AaO. S. 61f.

[3] AaO. S. 118.

[4] AaO. S. 119.

[5] AaO. S. 56.