Bibelabschnitte aus dem fünften Buch Mose, oder wie es auch genannt wird, dem Deuteronomium, bilden heutzutage selten die Grundlage für die Verkündigung in Gottesdienst und Bibelstunde. Das ist bedauerlich. Denn dieses Buch ist für alle weiteren Bücher der Heiligen Schrift grundlegend. Eine zentrale Verheißung dieses Buches ist die Verheißung der Beschneidung des Herzens.
In der mit diesem Artikel beginnenden Serie soll dieser Verheißung nicht nur im Rahmen der fünf Bücher Mose nachgegangen werden, sondern auch in den späteren Propheten, Jesaja bis Maleachi. Es geht darum zu erkennen, wie wichtig die Botschaft des fünften Buches Mose und dessen rechtes Verständnis für die Auslegung und die Verkündigung aller weiteren biblischen Bücher ist.
Abgesehen von den Psalmen hat Jesus selbst wohl kein anderes alttestamentliches Buch so häufig zitiert wie das fünfte Buch Mose. Es wird deshalb von besonderem Interesse sein, zu untersuchen, auf welche Weise durch den Sohn Gottes die Erfüllung dieser zentralen Verheißung der Beschneidung des Herzens gekommen ist.
Im 5.Mose lesen wir mehrere Reden von Mose. Mose erinnert an die Entstehung des Bundes, er listet die Satzungen und Ordnungen auf, geht auf den Zustand des Volkes Gottes ein und schlägt den Bogen bis zu den Auswirkungen des Bundes in Gericht und letztlich in Gnade. Dieses Buch handelt nicht nur von dem Bund mit dem alttestamentlichen Volk Israel, sondern es wird darin bereits der Neue Bund verheißen.
Der Mensch ist ein hoffnungsloser Fall?
Das fünfte Buch Mose berichtet von einem dreimaligen Versagen des Volkes Israel: das Versagen des Volkes bei der Einnahme des Landes (Kapitel 1), das Versagen des Volkes am Berg Sinai (Kapitel 9 und 10) und das zukünftige Versagen des Volkes im verheißenen Land (Kapitel 31). Dieses dreimalige Versagen macht offenbar, dass das Volk zu jeder Zeit unfähig war, Gott in rechter Weise mit Liebe (6,5) und Gehorsam (10,16) zu antworten. Bis zum Tag des Bundesschlusses in der Ebene von Moab (1,1-5) war das Volk unwürdig geblieben. Es war und ist ohne Aussicht auf Besserung (31,16). Der in der Ebene Moab geschlossene Bund gründete deshalb von Beginn an auf der Gnade Gottes. Er war nicht verankert in der Möglichkeit des Volkes, den Bund zu halten. Dies wird nicht zuletzt durch die Gesetze bestätigt. Nicht nur, dass die Berichte des Versagens einen Rahmen um die Gesetze bilden (Kapitel 9 und 31), sondern auch jedes einzelne Gesetz und jede einzelne Gesetzesauslegung vertieft den Graben zwischen einerseits dem Maßstab Gottes und damit der Bedingung, im verheißenen Land leben zu dürfen, und andererseits der Halsstarrigkeit des Volkes. Mit jedem Gesetz wird es unmöglicher, dass Israel auch nur einen einzigen Tag im verheißenen Land die verheißene Ruhe Gottes erfahren kann. Die Gebote, die zwischen den Kapiteln 10 und 29 angeführt werden, gehen deshalb vor allem darauf ein, wie man mit Versagen und Sünden umgeht. Das Gesetz will somit Menschen nicht helfen sündlos zu sein, sondern es geht darum, dass sie ihre Sündhaftigkeit erkennen.
Zwar wird das Volk zum Gehorsam aufgefordert und am Ende des Buches sogar vor die Wahl gestellt, die Satzungen und Rechtsbestimmungen zu halten oder nicht zu halten, also Leben oder Tod zu wählen (30,19.20), aber die Grundbotschaft des fünften Buches Mose macht deutlich, dass das Volk nicht in der Lage ist, das Leben zu wählen. Vielmehr soll das Volk erkennen, dass es in sich keine Kraft hat, Gott gehorsam zu sein, sondern dazu auf Gottes Gnade allein angewiesen ist (29,3; 30,6).
Diese Botschaft findet in Kapitel 30 in der Verheißung des beschnittenen Herzens ihre Zuspitzung. In diesem Kapitel wird die Spannung zwischen der Untreue des Volkes und der Treue Gottes überbrückt. Gott wird das Herz des Volkes beschneiden.
Natürlich darf „Herz“ hier nicht als das körperliche Organ verstanden werden. Gemeint ist der Sitz der Lebenskraft des Menschen, das innere Zentrum seines Fühlens und Wollens, Denkens und Urteilens. Aus dem Herzen kommen Gehorsam und Sünde. Es ist der Ort der moralischen Antwort auf die Forderungen Gottes (29,17; 30,17.18). Der Zustand des Herzens entscheidet dabei, wie die Antwort ausfällt.
Kurz vorher (29,3) wurde von Gott selbst festgestellt, dass das Volk noch kein Herz hat, das Gott erkennen und ihm folgen kann. Nun aber verheißt Gott, dass er das Herz beschneiden will. Aber was heißt es eigentlich, das Herz zu beschneiden?
Wie kann ein Herz beschnitten werden?
Der Begriff beschneiden begegnet uns im fünften Buch Mose nur zwei Mal (10,16; 30,6). In beiden Fällen geht es nicht um die physische Beschneidung der männlichen Vorhaut, sondern um einen Eingriff in das Herz, also in das Lebenszentrum des Menschen.
Um die Bedeutung der Beschneidung zu klären, müssen die betreffenden Stellen im ersten Buch Mose untersucht werden. In diesem Buch kommt das Verb beschneiden am häufigsten vor. Die Beschneidung ist das Zeichen des Bundes zwischen einerseits Gott und andererseits Abraham zusammen mit seinen Nachkommen (1Mos. 17,10). Wer beschnitten ist, gehört zu Gott, das heißt, er ist Gottes Eigentum. In 1.Mose 17,10 werden Bund und Beschneidung gleichgesetzt: „Das ist aber mein Bund, den ihr bewahren sollt, zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden.“ Wer beschnitten ist, dem gilt der Bund Gottes, ein Unbeschnittener aber bricht den Bund (1 Mos. 17,14).
Damit wird deutlich, dass die Beschneidung nicht nur ein äußerliches Zeichen war. Die äußere Beschneidung verlangte vom Beschnittenen, Gott auch innerlich, also mit ganzem Herzen treu zu folgen. Die Begriffe Beschneidung und Herz finden wir in 3.Mose 26,41. Gott droht im Fall eines Bundesbruchs das Gericht an, namentlich geht es um die Verbannung in das Exil (3Mos. 26,33ff.).
Neben der Absicht im Fall des Bundesbruchs auf die Bestrafung als dessen Konsequenz hinzuweisen, bezwecken die Flüche, das Volk zur Demut und zum Schuldbekenntnis zu führen (3Mos. 26,41). Hier ist vom unbeschnittenen Herzen die Rede, das sich demütigen soll. Wenn dies geschieht, wird Gott wieder an den Bund mit den Vätern gedenken (3Mos. 26,42). Demzufolge meint ein unbeschnittenes Herz ein Nicht-Demütigsein vor Gott. Ein unbeschnittenes Herz lebt in Hochmut gegenüber Gott. Es befolgt nicht sein Wort (vgl. 3Mos. 26,3). Es gehorcht auch nach Warnungen und Gerichten Gott nicht (3Mos. 26,14.18.27). Es lässt sich nicht zurechtweisen (3Mos. 26,23). Es stellt sich gegen Gott (3Mos. 26,23.40). Durch die Verknüpfung der Begriffe Beschneidung und Herz wird der Bund Gottes mit dem Volk ausdrücklich mit seiner Herzenseinstellung verbunden. Nicht das äußere Zeichen, sondern die innere Einstellung ist entscheidend für die Beziehung zu Gott.
Im fünften Buch Mose ist abgesehen von Kapitel 30 nur noch in 5.Mose 10,16 vom beschnittenen Herzen die Rede. Diese Stelle greift auf 3.Mose 26,41.42 zurück. Das Herz zu beschneiden ist hier eine Aufforderung an das Volk.
Der Zusatz „und verhärtet euren Nacken nicht mehr“ macht deutlich, was den Zustand eines unbeschnittenen Herzens kennzeichnet. Menschen mit unbeschnittenem Herzen sind gegenüber Gott verhärtet. Sie leben nicht im Gehorsam, sondern befinden sich in Opposition zu Gott. Mit der Formulierung der Beschneidung des Herzens wird damit noch einmal signalisiert, dass das Volk Gottes nicht äußerliche Veränderungen braucht, um Gott folgen zu können, sondern dass es innerlich verändert werden muss.
Die Beschneidung des Herzens ist nicht nur irgendein Detail innerhalb des Neuen Bundes, sondern es ist dessen Basis. In der Beschneidung zeigt Gott seine Treue und seine Liebe zu seinem Volk, so dass durch sie das Volk endlich Gott mit Treue und Liebe antworten wird. Die Folgen der Beschneidung werden darum zusammenfassend mit „lieben“ und „Leben“ beschrieben. Das Volk wird Gott lieben. Das bedeutet, dass es seine Gebote erfüllen wird (5Mos. 6,4-9). Dadurch wiederum wird das Volk leben, und das heißt: unter dem Segen Gottes stehen und seine Gemeinschaft genießen (5Mos. 30,15.16).
Wer geht den ersten Schritt?
Eine wichtige Frage stellt sich im Blick auf die Aussage in 5.Mose 30: Wer kehrt zuerst um? Wer lenkt zuerst ein und wendet sich dem anderen zu? Ist es Gott, oder ist es das Volk? Bei oberflächlichem Lesen kommt man vermutlich zu der Auffassung, dass erst nachdem das Volk Buße getan hat und zu Gott umgekehrt ist, Gott sich wieder seinem Volk zuwenden wird. Erst dann wird Gott sich erbarmen, ihr Herz beschneiden und sie reichlich segnen.
Doch beachtet man die Gedankenführung des gesamten Kapitels und besonders der ersten zehn Verse, gelangt man zu einem anderen Ergebnis. Verschiedene Schlüsselwörter wie umkehren und Herz aber auch andere Details machen deutlich, dass 5.Mose 30,1-10 so strukturiert ist, dass die Hauptaussage im Zentrum, nämlich in den Versen 6 bis 8 zu finden ist. Durch diese Mitte wird die Priorität des Handelns Gottes deutlich. Alle anderen Aussagen der ersten zehn Verse hängen von dieser zentralen Aussage ab: Gott muss das Herz des Volkes verändern, damit dass Volk ihn erkennen, zu ihm umkehren und von ihm gesegnet werden kann.
Diese Botschaft entspricht der Aussage des gesamten Buches: Das Volk ist von sich aus unfähig, Gott in Gehorsam und Liebe zu folgen, und es ist darum völlig von seiner Gnade abhängig.
5.Mose 30 gibt dem Leser entscheidende Antworten auf die Fragen nach dem Grund des Versagens des Volkes, aber auch nach seiner Rettung und warum allein Gott der Retter seines Volkes sein kann. Der Grund für das Versagen in der Vergangenheit und auch in der Zukunft ist das unbeschnittene Herz. Es ist ein Herz, das Gott nicht erkennen und ihm nicht gehorsam sein kann (29,3). Die Rettung liegt allein im gnädigen Eingreifen Gottes. Er muss dem Volk ein verständiges Herz geben, also das Herz beschneiden.
Es geht um Gott
Diese Botschaft weist den Leser auf Gott hin, also weit über das Volk Israel, über die ihm gegebenen Gesetze und seine Geschichte hinaus. Es geht um Gott selbst und seine Offenbarung in dieser Welt. Diese Offenbarung erfolgt durch sein Handeln in der Geschichte des Volkes, durch die Gesetzgebung und den Bund mit den dazugehörigen Flüchen und Segnungen.
Im fünften Buch Mose offenbart Gott sich als alleiniger, souveräner, lebendiger und handelnder Gott. Er ist voller Heiligkeit, Gerechtigkeit, Liebe, Gnade und Treue. Die Gesetze, Ordnungen und Ermahnungen offenbaren dieses Wesen Gottes (4,7.8; 4,23.24; 5,9; 6,24.25). Das Volk wiederum ist dazu aufgerufen, durch seinen Gehorsam und seine Liebe zu Gott das Wesen dieses Gottes in der Welt widerzuspiegeln (4,6-8; 10,17-20; 14,1.2.21; 28,1-10). Dadurch dass Gott selbst das Volk zu wahrer Liebe und Gehorsam befähigt, tritt Gottes Souveränität und seine Gnade umso deutlicher in Erscheinung. Im fünften Buch Mose geht es also im Kern um den souveränen und gnädigen Gott, der sich über den sündigen und unfähigen Menschen erbarmt.
Damit lautet die Botschaft dieses Buches, dass der Mensch sich demütig Gottes Gnade übereignen soll. Denn nur durch die souveräne Gnade Gottes kann der Mensch in eine Beziehung zu Gott treten und als Gottes Zeuge und unter seinem Segen in der Welt leben.
Wie und wodurch wird sich die Verheißung der Beschneidung des Herzens erfüllen? Die Antwort findet sich nicht erst im Neuen Testament. Bereits die Propheten des Alten Testaments greifen die Verheißung auf und geben viele weitere entscheidende Hinweise zu ihrer Erfüllung. Diesen Hinweisen soll in den weiteren Artikeln nachgegangen werden.