Es ist Sünde, einem unbußfertigen Sünder zu vergeben. Das mag anstößig klingen, für manche vielleicht sogar gotteslästerlich. Aber es ist das, was die Bibel lehrt und – wie viele Kirchenordnungen zeigen – auch historisch von Christen vertreten wurde, wie ich im ersten Artikel der Serie gezeigt habe. Wenn ich jemandem automatisch und sofort erkläre, dass ich ihm vergebe, ohne dass derjenige sein Handeln bereut, ist das die Sünde der Vergebung.
Wenn ein fünfzehnjähriger Junge mit einem Sturmgewehr drei seiner Mitschüler ermordet, ist es falsch, wenn die Eltern und Freunde der Opfer sofort und öffentlich erklären: „Wir vergeben dir.“ Wenn ein Vater seine Tochter vergewaltigt, wäre es Sünde für die Tochter, ihm sofort und bedingungslos zu vergeben und eine noch schlimmere Sünde für den vergewaltigenden Vater, dies von ihr zu verlangen: „Papa, ich vergebe dir, auch wenn es dir nicht leidtut. Und da du mir beigebracht hast, dass Vergeben gleichbedeutend mit Vergessen ist, werde ich versuchen zu vergessen, was du getan hast. Und ich verspreche, es niemandem sonst zu erzählen.“
In diesem Fall wäre es nicht anstößig, Vergebung zu verweigern. Es wäre anstößig, sie zu gewähren.
Dennoch gibt es Menschen, die glauben, dass alles andere als eine sofortige und automatische Vergebung den biblischen Grundsätzen widerspricht und gegen das Prinzip der Gnade verstößt. Für sie müssen diejenigen, denen gnädig vergeben worden ist, auch anderen gnädig vergeben. Sie fragen: Ist das nicht das, was Jesus gelehrt hat? So zu denken und zu reden, scheint auf den ersten Blick biblisch zu sein, bis wir uns die Sache genauer anschauen.
Vergebung ist kein Gefühl
Um der Angelegenheit auf den Grund zu gehen, ist es wichtig zu verstehen, dass Vergebung nicht ein Gefühl ist, das ich gegenüber einem Sünder habe. Damit ist Vergebung nicht das Loslassen von Bitterkeit gegenüber einem Sünder. Es ist nicht einmal eine Entscheidung, nicht länger wütend zu sein und die Sünde zu vergessen. Vielmehr ist Vergebung eine hörbare Erklärung des Betroffenen gegenüber dem Täter: „Ich erlasse dir deine Sünde; ich entlasse dich aus deiner Schuld; ich werde nicht mehr auf der Grundlage deiner Sünde mit dir umgehen oder im Lichte deiner Sünde an dich denken. Ich habe damit abgeschlossen.“ Wenn ein Sünder jedoch seine Sünde nicht einsieht, ist eine solche Reaktion falsch. Aber warum ist das falsch?
Sei ein Nachfolger Gottes
Erstens entspricht die automatische und sofortige Vergebung für unbußfertige Sünder nicht dem Muster der Vergebung Gottes. Gott vergibt uns nur dann, wenn wir unsere Sünde bereuen. Und er hält die Vergebung zurück, bis wir es tun. Wir sollen nach seinem Vorbild vergeben: Vergebt einander, gleichwie auch Gott euch vergeben hat in Christus. (Eph 4,32b). Gottes Vergebung ist seine Erklärung an uns, so wie er David durch den Propheten verkündete: „Ich tilge deine Sünde“, die David erst durch die von Gott gewirkte Reue erfuhr. Davor war David unglücklich. Er betet in Psalm 32,5: Da bekannte ich dir meine Sünde […] Da vergabst du mir meine Sündenschuld.“ Das Westminster-Bekenntnis bringt es so auf den Punkt: „Niemand darf ohne Umkehr Vergebung erwarten“ (Artikel 15,3). Johannes Calvin schreibt, dass „die Vergebung der Sünden niemandem zugesprochen werden kann, ohne dass er Reue zeigt“. (Das bedeutet natürlich keineswegs, dass der Tod Jesu nicht für die Sünde bezahlt hat; es bedeutet nur, dass Gott unserem Gewissen nicht die Vergebung der Sünde zuspricht.) Und da Gott den Unbußfertigen keine Vergebung zuspricht, dürfen wir es auch nicht tun: Wenn aber dein Bruder gegen dich sündigt, so weise ihn zurecht; und wenn es ihn reut, so vergib ihm (Lk 17,3).
Suche das Wohl des Bruders
Zweitens: Automatische und sofortige Vergebung für unbußfertige Sünder verkürzt das, was Gott für uns Christen beabsichtigt: die gnädige Zurechtweisung von Sündern und die Heilung von Brüchen, während beide unter dem Schatten des Kreuzes Christi stehen. Wenn mein Bruder eine große Sünde begeht, ist es meine Aufgabe, sein Bestes zu suchen. Das bedeutet nicht, ihm automatisch zu vergeben, solange er seine Sünde nicht bereut. Stattdessen muss ich wie der Prophet Nathan sein, der zu dem uneinsichtigen David kam mit dem Ziel, ihn zuerst zu überführen, ihn danach zu einem Sündenbekenntnis zu bewegen, ihn anschließend zur Reue aufzurufen und ihm erst dann Vergebung zuzusprechen. Es wäre keine Liebe zu David gewesen, ihn mit der nicht bekannten Sünde weiterleben zu lassen. Leider sehen die Befürworter der automatischen und sofortigen Vergebung nicht, dass es fatale Folgen hat, wenn sich dieses Muster durchsetzt. Damit geht nämlich die wunderbare Praxis verloren, einem reuigen Sünder die Vergebung seiner Sünde zuzusprechen.
Wir dürfen die Anweisung Jesu in Matthäus 18,15 nicht vergessen: Wenn aber dein Bruder an dir gesündigt hat, so geh hin und weise ihn zurecht unter vier Augen. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen.[1] Wenn sich jemand an uns versündigt hat, verlangen christliche Liebe und Gnade von uns, dessen Reue zu suchen und ihn zu „gewinnen“. Wenn er nicht umkehrt, verlangt die christliche Liebe sogar, den schwierigeren Weg zu gehen, nämlich Zeugen zu nehmen und die Sache vor die Gemeinde zu bringen (Mt 18,16.17). Unser Ziel ist es immer, den Sünder zu gewinnen. Weniger zu tun, ist keine Liebe. Bei Gottes Anweisungen dürfen wir keine Abkürzungen nehmen.
Sei nicht egoistisch
Drittens: Auch wenn automatische und sofortige Vergebung fromm klingt – sie kann sogar selbstsüchtig sein. Sie entpuppt sich dann häufig als „Prozess, der nicht wirklich Vergebung ist, sondern einfach eine Strategie, um weiterzumachen“[2] Andere haben es „therapeutische Vergebung“ genannt, weil es für Betroffene eine gute Therapie zu sein scheint. Bei dieser therapeutischen Vergebung geht es nicht um die Heilung von Beziehungen, sondern um die Heilung des Opfers der Sünde. Natürlich müssen Pastoren, Älteste und Seelsorger die Notwendigkeit sehen, Menschen seelsorgerlich zu helfen, die unter der Sünde anderer leiden. Aber die Therapie, die sie brauchen, besteht nicht darin, einem unbußfertigen Menschen Vergebung zuzusprechen. Unsere Vergebung hat die Vergebung Gottes zum Vorbild. Von daher ist unsere Vergebung ebenso wenig eine Therapie für uns selbst, wie Gottes Vergebung eine Therapie für ihn selbst ist.
Handle entsprechend der Gerechtigkeit
Viertens: Die automatische und unmittelbare Vergebung birgt die Gefahr, Gottes Gerechtigkeit aus den Augen zu verlieren, die er in der Bestrafung der Sünde an seinem eigenen Sohn offenbart hat. Wir empfangen Gottes Vergebung allein durch den Glauben – durch den Glauben, der Christus im Licht der Gerechtigkeit Gottes erfasst. Der Glaube erkennt an, dass Christus an unserer Stelle zu Recht bestraft wurde. Und der Glaube bekennt, dass Gottes Gerechtigkeit dabei nicht übergangen werden durfte. Genauso beinhaltet eine Beziehung, in der wir Vergebung erklären und empfangen, immer eine gegenseitige Anerkennung der Gerechtigkeit, nämlich dass die Sünde Strafe verdient.
Auf der einen Seite bekennt sich der Sünder zur Gerechtigkeit: „Meine Sünde ist eine Schuld, für die ich zu Recht eine Strafe verdiene, aber ich bitte dich, dass du mich nicht zur Kasse bittest.“ Wenn die Aussage „Es tut mir leid, bitte vergib mir“ nicht diesen Sinn hat, haben wir dem Sündenbekenntnis das Herz genommen. Auf der anderen Seite unterstreicht der Betroffene auch die Gerechtigkeit. Wenn er sagt: „Ich vergebe dir“, bedeutet das, dem Sünder nicht das zu geben, was er verdient, denn Gott gibt ihm selbst auch nicht das, was er verdient hat. Mit anderen Worten: Immer, wenn ein Mensch einem anderen vergibt, treffen sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, küssen sich Gerechtigkeit und Frieden (Ps 85,10). Unser Dankeslied soll immer von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit handeln (Ps 101).
Mache die Vergebung nicht zur Waffe
Schließlich ist die sofortige und automatische Vergebung, eine tödliche Waffe für gottlose Menschen, die in ihrer Sünde fortfahren wollen. Ich habe von Opfern schrecklichen Missbrauchs gehört, die davon berichteten, der Täter habe von ihnen immer automatische und sofortige Vergebung gefordert. Und da Vergebung schließlich bedeute, dass die Angelegenheit abgeschlossen ist, dürfe niemand sonst erfahren, was passiert war. So konnte der schreckliche Missbrauch weitergehen. Selten wurde eine falsche Lehre so effektiv gegen wehrlose Menschen eingesetzt wie diese.
Mögliche Einwände
Fördert die Verweigerung der Vergebung nicht Bitterkeit in uns?
Die Weigerung zu vergeben, fördere Bitterkeit, Wut und Rachegefühle. Das ist der häufigste Grund, der für die automatische Vergebung angeführt wird. Doch das ist ein Missverständnis. Zwei Dinge müssen wir im Auge behalten.
Erstens: Christen müssen Bitterkeit, Zorn und Rachegefühle immer ablegen. Opfer schrecklicher Verbrechen sollen täglich dafür beten, dass der Geist Christi sie vor Bitterkeit bewahrt und sie mit Freundlichkeit, Liebe, Barmherzigkeit und Gnade erfüllt. Gott will nicht, dass wir bitter oder zornig sind. Selbst wenn wir Vergebung verweigern, müssen wir Güte zeigen.
Zweitens: Wie wir gesehen haben, ist Vergebung kein Loslassen von bösen Gedanken und Gefühlen, sondern eine Erklärung an den Sünder, die diesen davon befreit, für seine Sünde bezahlen zu müssen.
Hat nicht Jesus denen vergeben, die ihn gekreuzigt haben, obwohl sie keine Reue gezeigt haben?
Als Jesus gekreuzigt wurde, betete er ein wunderschönes Gebet, in dem er seinen Vater bat, denen zuvergeben, die ihn zu Unrecht hingerichtet hatten. Es passt zu dem letzten Gebet des Märtyrers Stephanus, der während seiner Steinigung betete: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an (Apg 7,60). Wichtig ist, dass Jesus in seinem Gebet niemandem vergibt. Er sagte nicht zu den gottlosen Soldaten: „Ich vergebe euch eure Sünde und befreie euch von eurer Verantwortung, dafür zu bezahlen.“ Er sagte nicht zu den Obersten, die sich gegen ihn verschworen hatten: „Ich trage euch nichts nach, ihr müsst für dieses unfassbar schwere Vergehen nichts bezahlen.“ Stattdessen bat Jesus seinen Vater, das Werk der Vergebung zu übernehmen. „Vater, vergib ihnen“ ist eine Bitte an den Vater, zu den schuldigen Herzen und verurteilten Gewissen seiner Mörder zu sprechen.
Tatsächlich hat der Vater dieses Gebet erhört. Als Petrus nach Pfingsten zu eben diesen Mördern Christi predigte, zeigte er ihnen zunächst ihre Sünden auf. Man kann die Predigt so zusammenfassen: „Jesus war ein gerechter Mann, und ihr seht das an den Wundern, die er unter euch getan hat. Dennoch habt ihr ihn auf böse Weise gekreuzigt und verdient es, für diese Sünde zu bezahlen“ (siehe Apostelgeschichte 2,23-36). Anschließend rief Petrus sie auf: Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden. (Apg 2,38) Als sie in ihrer Not schrien, wies Petrus sie darauf hin, dass sie für ihre Sünden Buße tun und sich auf den Namen Jesu taufen lassen sollten. Daraufhin taten dreitausend Sünder Buße und erhielten Vergebung: Sie hörten, wie Gott zu ihrem Herzen sprach: „Ich habe deine Sünde weggetan.“ Gott erhörte das Gebet Jesu, als diese Sünder Buße taten – nicht automatisch und sofort. Und die bemerkenswerte Antwort auf das Gebet des Stephanus war, dass einer der Mitschuldigen an der Ermordung des Stephanus Buße tat: aus dem Christenverfolger Saulus wurde der Apostel Paulus.
Wenn Jesus uns auffordert, siebzig Mal sieben Mal zu vergeben, dann erwartet er doch bestimmt nicht, dass der andere jedes Mal vorher Buße tut, oder? Sollten wir nicht einfach weiter vergeben?
Nichts deutet darauf hin, dass diese Aussage Jesu im Widerspruch zu Lukas 17 steht, wo wir aufgefordert werden, denen zu vergeben, die umkehren. „Wenn er bereut, vergib ihm.“
Sollen wir wirklich warten, bis unser Ehepartner jede kleine Sünde bereut, bevor wir ihm vergeben? Sollte unser Ehepartner wirklich auch die kleinen Dinge bereuen, bevor wir verzeihen?
Meine Ehe wäre nicht so glücklich, wie sie ist, wenn meine Frau und ich so leben würden. Um die Sache umzudrehen: Ich bin dankbar, dass sie über viele meiner Sünden hinwegsieht. In einer Ehe, wie auch in anderen christlichen Beziehungen, deckt die Liebe eine Menge von Sünden zu (1Pt 4,9). Manchmal besteht dieses „Zudecken“ darin, die Sünde zu ignorieren. Wir sind in der Lage, diese Fehler zu ignorieren, weil wir wissen, dass unser Ehepartner (genau wie wir) ein bußfertiger Mensch ist, dass er jeden Abend betet (und vielleicht dabei sogar unsere Hände hält): „Vergib mir die Sünden, die ich dir bekannt habe; vergib mir die heimlichen Sünden, die ich nicht sehe; führe mich, liebe mich, und sei mein Beschützer. Amen.“
Immer vergebungsbereit
Die Warnung vor unangemessener Vergebung darf niemanden von uns dazu verleiten, die Hauptsache im christlichen Leben zu vergessen – dass wir uns als Kinder des Vaters erweisen, indem wir anderen Sündern bereitwillig vergeben, die – wie wir – Vergebung nicht verdienen (Eph 4,32 – 5,1). Es sollte immer unser Ziel sein, die Beziehung wiederherzustellen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns (zurecht) weigern zu vergeben, weil keine Reue da ist, darf das nie dazu führen, dass wir nicht vergeben wollen, denn Gott ist immer vergebungsbereit (siehe Ps 86,5).
Denn wenn derjenige, der gegen mich gesündigt hat, in mir keine Bereitschaft zur Vergebung, keine Gnade, keinen barmherzigen Geist sieht, wird er mich genauso wenig um Vergebung bitten wollen wie der verlorene Sohn, als er seinen Vater als einen harten Mann gesehen hat. Aber der verlorene Sohn kam zu sich selbst (Lk 15,17) und erinnert sich daran, wer sein Vater wirklich war: ein gnädiger Mann, von dem er wusste, dass er ihn zuhause wieder aufnehmen würde. Tatsächlich war es die Güte Gottes, die ihn zur Umkehr führte (Röm 2,5). Beten wir, dass die Güte, die wir anderen erweisen, von Gott dazu gebraucht wird, Umkehr in denen zu wirken, die gegen uns sündigen. Dann werden sie wissen, dass wir sie mit offenen Armen empfangen, das „gemästete Kalb schlachten“ und wirklich vergessen, was sie uns angetan haben. Denn so geht mein Vater mit mir um.
Barrett Gritters ist Dozent für Praktische Theologie und Neues Testament am Protestant Reformed Theological Seminary in Grand Rapids (US-Bundesstaat Michigan). Er ist verheiratet mit Lori, Vater von sechs Kindern und mehrfacher Großvater.
[1] Dabei muss berücksichtigt werden, dass ein Sünder den Täter gerade im Fall von schwerer Sünde niemals alleine konfrontieren sollte (beispielsweise im Fall von
sexuellem Missbrauch).
[2] Bulletin of Ecclesial Theology, V. 8.1 (August 2021), ii.