Deo volente wird es in acht Jahren soweit sein. Dann, im Jahre 2017, wird nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten protestantischen Welt der Reformation vor 500 Jahren gedacht werden – auch in den reformierten, also in den mehr oder weniger calvinistisch geprägten Kirchen (Gemeinden) weltweit. Das Jubiläumsjahr 2017 bezieht sich auf den 31. Oktober 1517, als Martin Luther (1483–1546) seine berühmten 95 Thesen an die Schlosskirchentür zu Wittenberg anschlug.
Obwohl man sagen könnte, dass alle anderen Reformatoren, gerade in Deutschland, in gewissem Maße neben dem großen Reformator von Wittenberg verblassen, verhält es sich in der übrigen Kirchenlandschaft und gelegentlich auch in der säkularen Welt außerhalb Deutschlands anders. Da ist die Gestalt des Genfer Reformators Johannes Calvin (1509–1564) manchmal von gleicher Größe, gelegentlich sogar bekannter.
Sowohl mit Blick auf das Jahr 2017, aber auch aus Anlass des fünfhundertsten Geburtstages Calvins in diesem Jahr, 2009, lohnt es sich folglich, in der Bekennenden Kirche eine Reihe von kurzen, historischen Artikeln dem Thema „Reformation“ zu widmen. Vor allem die Beziehung zwischen Calvin und den deutschen Kirchen bzw. Calvin und den Deutschen soll beleuchtet werden. Verschiedene Fragen drängen sich auf: Gab es Berührungspunkte, und wenn ja, welche? Haben sich Luther und Calvin gekannt? Welche Rolle spielte die damalige deutsche Stadt Straßburg im Werdegang und in der theologischen Entwicklung des jungen Calvin? Wie verhielt es sich mit Bucer? Und mit Melanchthon? Oder mit Wittenberg überhaupt?
Vorurteile und Mythen – Der Mann hinter dem Bild
Das Calvinjahr 2009 – „Calvin 500“ – wurde am letzten Reformationstag, dem 31. Oktober 2008 feierlich mit einem außerordentlich gut besetzten internationalen Kongress auf der Vanenburg in Putten in den Niederlanden eingeleitet. Das Thema des Kongresses lautete: „Saint or Sinner? The Reformation of John Calvin (1509–1564)“ („Heiliger oder Sünder? Die Reformation des Johannes Calvin„). Damit ist der Brennpunkt der Beschäftigung internationaler Forscher im Calvinjahr einigermaßen vorprogrammiert.
Dieses Kongressthema hängt natürlich damit zusammen, dass Calvin die zweifelhafte Ehre zukommt, so häufig verleumdet worden zu sein wie vielleicht kein anderer der anerkannten Reformatoren oder Protagonisten der Reformation im 16. Jahrhundert – manchmal sogar aus den eigenen Reihen. Keiner wurde so oft verunglimpft, über keinen so viel Übles geredet, ohne dass es irgendeinen Wahrheitsbezug hatte. Sogar im elektronisch–digitalen Zeitalter, in der eine Informationsexplosion ungeahnten Ausmaßes stattfindet, werden noch immer jahrhundertealte, in der internationalen seriösen Geschichtsschreibung (z.B. bei Parker, Cottret, Millet usw.) längst widerlegte Thesen und Behauptungen aufgegriffen, neu aufgewärmt und nicht zuletzt auf deutschen Webseiten und in deutschsprachigen Publikationen serviert.
Diese Tatsache ist erstaunlich, gerade weil der Unterschied zwischen Calvin und Luther nach dem jetzigen Forschungsstand weniger auf einen radikalen theologischen Gegensatz zurückzuführen ist, als auf unterschiedliche, nicht wirklich weit auseinander liegende Akzentverschiebungen. Die unterschiedlichen Betonungen wiederum beruhen eher auf andersartigen Hintergründen und damit zusammenhängenden, unterschiedlichen Fragestellungen als auf nicht miteinander zu vereinbarenden Auffassungen in den Hauptpunkten des reformatorischen Ansatzes. Allerdings haben sich manche Schüler (gar Jünger) bzw. Nachfolger beider Reformatoren theologisch auseinandergelebt, als seien die differenzierten Nuancen zwischen Luther und Calvin von wesentlich gegensätzlicher oder unüberbrückbarer Natur gewesen.
Calvin – ein Schüler Luthers
Während Calvin auf der einen Seite von bestimmten Autoren in einen großen Gegensatz zu Luther gebracht wird, gibt es auf der anderen Seite renommierte Historiker und Theologen, die Calvin als treuesten Lutherschüler darstellen. Vor allem im angelsächsischen Raum sowie in der aufkommenden Protestantismusbastion Korea, aber auch in Ländern wie Ungarn, den Niederlanden und Südafrika, wo Calvin freilich ein wenigstens ebenso bekannter Reformator wie Luther ist, wenn nicht namhafter, wird der Gegensatz zwischen beiden keinesfalls so scharf wahrgenommen, wie es häufig noch in Deutschland der Fall ist. Die Rede ist eher von komplementären oder sich ergänzenden Rollen als von einander gegenüberstehenden Polen.
Darüber hinaus ist zu bemerken, dass Calvin unter seinen kirchlichen Erben, den Reformierten, einen bescheidenen Platz einnimmt; er stellt kein vergleichbares ‚Heiligenbild‘ dar, wie Luther innerhalb der lutherischen Theologie. „Andererseits wurde Calvins Theologie für die reformierte Tradition normativer als Luthers Lehre für die lutherische Tradition.“1
Treffen sich Luther und Calvin bei Augustinus?
Wenn sich die Frage zum Verhältnis zwischen Luther und Calvin stellt, dann begegnet einem schon im Vorfeld die Tatsache, dass beide sich auf den Kirchenvater Augustinus (354–430) berufen, bzw. dass sich beide von ihm geprägt und beeinflusst wissen. Sowohl Luther als auch Calvin sehen die reformatorische Aufgabe ad fontes – zurück zu den Quellen – als Aufforderung. Wie einst in der Alten Kirche, wollen sie der Heiligen Schrift als dem Wort Gottes den uneingeschränkten Vorrang zuerkennen. Wenn es um die Frage der Wahrheit bzw. des Wahrheitsanspruches geht, spricht Christus das letzte Wort. Das heißt: Sein Wort, die Heilige Schrift, ist die oberste Autorität. In zweiter Linie aber ging es im Anliegen der Reformation auch um die Übereinstimmung mit der Alten Kirche. Nicht die römisch–katholische Kirche sei die Fortsetzung der wahren Kirche in den Spuren der Alten Kirche, sondern die Reformation in Anlehnung an Augustinus.
Calvin, der im jungen Alter von 27 Jahren durch seine 1536 erschienene Institutio bekannt geworden war, machte sich mit seinem Beitrag zur Disputation von Lausanne, Oktober 1536, erstmals auch durch einen öffentlichen Auftritt einen Namen. Während dieses Lausanner Disputs bezog er sich neben Tertullian und Chrysostomus häufig auf Augustinus. Mehrfach zitierte er Buch, Kapitel und korrekten Hinweis auf Stellen bestimmter Ausgaben ihrer Werke auswendig. Calvin ging es darum aufzuzeigen, dass die Evangelischen keine neue Lehre vertreten, sondern dass sie zur Heiligen Schrift, zum Wort Gottes und zu den Überzeugungen der Alten Kirche zurück wollten. Luther wiederum, der ein ehemaliger Augustinermönch war, hatte ebenfalls das Sakrament, bekanntlich in Anlehnung an Augustinus, als sichtbares Wort, als eine besondere Gestalt des Wortes Gottes verstanden. Bei ihm ist der theologische Bezug zu Augustinus fast selbstverständlich.
In ihrem reformatorischen Anliegen fühlten sich beide Reformatoren demzufolge Augustinus verpflichtet, wussten beide nicht nur die theologische Leistung des Augustinus zu schätzen, sondern erhoben in diesem Sinne auch den Wahrheitsanspruch gemeinsam mit dem zweifellos bedeutendsten lateinischen Kirchenvater.
„Augustinus totus noster“
Es wäre wahrscheinlich nicht weit daneben gegriffen, den programmatischen Satz Calvins, „Augustinus totus noster“ („Augustinus ist ganz unser“) ohne Schwierigkeiten so zu deuten, dass er mit dem Wort „noster“ („unser“) Luther einschloss. Demzufolge ist es durchaus gut begründet, wenn Christen von „Luther Calvinque toti nostri“ („Luther sowie Calvin sind ganz unser“) sprechen.
1) H.J. Selderhuis. in: Selderhuis, H.J.[Hrsg], Calvin Handbuch. Tübingen [Mohr Siebeck] 2008. S. 5.