Die Ideologie hinter Künstlicher Intelligenz – zwischen Fortschrittsglauben und transhumanistischer Eschatologie

Die Ideologie hinter Künstlicher Intelligenz – zwischen Fortschrittsglauben und transhumanistischer Eschatologie

Teil 2/3 der Serie: Künstliche Intelligenz: der digitalisierte Turmbau zu Babel

Einleitung

Nachdem im ersten Teil dieser Artikelserie die technischen Grundlagen und erkenntnistheoretischen Grenzen der Künstlichen Intelligenz (KI) beleuchtet wurden, widmet sich dieser zweite Beitrag der tiefer liegenden Ideologie, die bestimmte einflussreiche Strömungen der KI-Entwicklung und -Diskussion prägt. Dabei geht es nicht primär um die unbestreitbar nützlichen Anwendungen von KI als Werkzeug, sondern um die theologische Interpretation, die KI als einen entscheidenden, vielleicht sogar finalen Schritt in der Evolution der Menschheit versteht. Diese Interpretation hat tiefe Folgen für die Theologie, die einer sorgfältigen Untersuchung bedürfen. Ziel dieses Artikels ist es, diese ideologischen Strömungen, insbesondere den Transhumanismus, kritisch zu analysieren und aus biblischer Perspektive zu bewerten.

1. Das hinterfragte Selbstbild: KI als Spiegel menschlicher Einzigartigkeit

Die rasanten Fortschritte der KI, die mittlerweile in Bereiche wie autonome Forschung, medizinische Diagnostik oder Rechtsberatung vordringt, konfrontieren uns unweigerlich mit der Frage nach dem Wesen des Menschen. Wenn Maschinen Aufgaben übernehmen können, die in der Vergangenheit ausschließlich Menschen übernommen haben – was macht uns Menschen dann noch einzigartig? Die Debatte um KI wird so zu einer grundsätzlichen Reflexion über unser Selbstverständnis und den Wert, den wir uns als Menschen zuschreiben. Die klassische christliche Anthropologie (Lehre vom Menschen), die zwischen Körper und Seele unterscheidet, begründet die Einzigartigkeit des Menschen damit, dass der Mensch im Ebenbild Gottes geschaffen ist. Diese Überzeugung wird durch die Vorstellung herausgefordert, dass KI den menschlichen Geist nicht nur nachahmen, sondern potenziell übertreffen kann, indem sie Robotern einen funktionalen Körper geben und vielleicht sogar eine Form von Bewusstsein oder ‚Seele‘ entwickeln könnte.

Wenn man eine solche Entwicklung erwartet oder befürchtet, vereinfacht das jedoch die Komplexität der menschlichen Existenz unzulässig und reduziert sie auf beobachtbare Funktionen. Die Frage nach der Einzigartigkeit des Menschen stellt sich seit jeher auch im Vergleich zum Tierreich. Traditionell werden Vernunftbegabung, moralisches Bewusstsein und die Fähigkeit zur Gottesbeziehung (die Seele im weiteren Sinne) als Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen und Tieren genannt (vgl. 1Mos 1,26-28; Ps 8,5-7). Für ein rein materialistisches Weltbild jedoch, das Bewusstsein und Intelligenz als Phänomene komplexer Materie – als Ergebnis neuronaler Prozesse – betrachtet, bleibt die Entstehung dieser subjektiven, qualitativen Fähigkeiten ein tiefes Rätsel, das oft als das ‚harte Problem des Bewusstseins‘ bezeichnet wird.

Für die christliche Theologie hingegen sind menschliche Intelligenz und Personalität kein Zufallsprodukt blinder physikalischer Prozesse, sondern wurzeln in der Ebenbildlichkeit Gottes: Der Mensch ist als personales Gegenüber Gottes geschaffen, ausgestattet mit Vernunft, Willen und Beziehungsfähigkeit als Abbild des unendlich personalen Schöpfers. Dies verleiht dem Menschen eine unveräußerliche Würde, die nicht von seinen messbaren Leistungen abhängt.

Die Schwierigkeit, die Einzigartigkeit des menschlichen Geistes und Bewusstseins rein naturalistisch (d.h. nur rein vom Körper her ohne die Seele) zu erklären, war lange Zeit ein Argument gegen einen umfassenden Materialismus. Die Entwicklung der KI, die auf ausgeklügelter Mustererkennung und Wahrscheinlichkeitsrechnung basiert und erstaunliche kognitive Leistungen simuliert, wird nun von manchen als entscheidender Triumph über diese letzte Bastion des ‚Immateriellen‘ gefeiert. Der scheinbare Erfolg, Intelligenz ‚künstlich‘ herzustellen, scheint die evolutionäre Erklärung des Geistes endgültig zu bestätigen und den Menschen als komplexen, aber letztlich berechenbaren biologischen Algorithmus zu entlarven. Diese enge Beziehung zwischen einer bestimmten Interpretation der Evolutionstheorie und der KI-Ideologie ist zentral für das Verständnis der aktuellen Entwicklungen und der KI-Ideologie.

2. Der evolutionäre Imperativ: KI als nächste Stufe der Entwicklung

Die Verbindung von KI und Evolutionstheorie ist mehr als nur eine beiläufige Feststellung oder wissenschaftliche Einordnung; sie bildet die ideologische Grundlage für die ambitioniertesten und zugleich problematischsten Visionen dieser Technologie.

Im säkularisierten Weltbild des Westens fungiert die Evolutionstheorie oft nicht nur als biologische Erklärungstheorie für die Entstehung der Arten, sondern als umfassender Deutungsrahmen, als Metanarrativ, das das menschliche Selbstverständnis, gesellschaftliche Strukturen, ethische Vorstellungen und sogar Zukunftsperspektiven prägt. Denker wie Yuval Noah Harari nutzen dieses Narrativ bewusst, um die gesamte Menschheitsgeschichte – von der Entwicklung des Gehirns über soziale Systeme bis hin zu politischen Machtverhältnissen – als Ergebnis blinder, aber gerichteter evolutionärer Prozesse zu deuten, die primär auf Überlebens- und Fortpflanzungsvorteilen beruhen und keinen Raum für übernatürliche Ziele oder göttliche Vorsehung lassen.

In diesem Denkmuster erscheint KI folgerichtig nicht nur als Möglichkeit, sondern als der nächste logische, ja notwendige Schritt der Evolution. Intelligenz, so die zugrundeliegende Annahme, löst sich von ihrer bisherigen biologischen, „organischen“ Basis – dem menschlichen Gehirn mit all seinen Beschränkungen – und geht in eine „anorganische“, digitale, potenziell weitaus leistungsfähigere und langlebigere Form über. Die Grenzen des menschlichen Gehirns – seine vergleichsweise langsame neuronale Verarbeitungsgeschwindigkeit, seine begrenzte Speicherkapazität, seine Anfälligkeit für Emotionen, Alterung und schließlich der Tod – sollen durch KI überwunden werden. Diese sogenannte Intelligenz, die auf mathematischen Modellen, lernenden Algorithmen und exponentiell wachsender Rechenleistung basiert, verspricht eine enorme Verbesserung kognitiver Fähigkeiten – Rationalität, Problemlösung, Wissenserwerb – in einem Ausmaß, das menschliche Vorstellungen übersteigt und die biologische Evolution gleichsam überholt.

Es ist von entscheidender Bedeutung, die tiefgreifenden Folgen dieses evolutionären Fortschrittsglaubens zu erkennen. KI wird hier nicht als neutrales Werkzeug verstanden, das der Mensch nach ethischen Maßstäben und zum Wohle der Gemeinschaft einsetzt oder nicht einsetzt, sondern als notwendiger Schritt auf einer unaufhaltsamen Entwicklungsleiter zu immer höherer Komplexität und Intelligenz. Diese Vorstellung ähnelt einer säkularisierten und mechanistischen Prädestinationslehre: Der Fortschritt ist vorherbestimmt und führt zwangsläufig zu höheren Formen der Intelligenz, denen sich der Mensch letztlich unterwerfen muss. Die Faszination und teilweise Besessenheit, mit der die Entwicklung der Allgemeinen Künstlichen Intelligenz (AGI) und der Superintelligenz verfolgt wird, kann vor diesem Hintergrund als Versuch gedeutet werden, die als Mangel und Kränkung empfundene menschliche Begrenztheit zu sprengen – ein Streben nach Allwissenheit, Unvergesslichkeit und totaler Kontrolle, ermöglicht durch eine selbstgeschaffene Intelligenz, die die Grenzen des Geschöpflichen endgültig überwinden soll.

3. Transhumanismus: Die Utopie der Technologischen Selbstvergottung

Aus diesem Nährboden des evolutionären Fortschrittsglaubens und des tiefen Wunsches nach Überwindung menschlicher Begrenzungen und Leiden erwächst der ‚Transhumanismus‘. Diese einflussreiche geistig-kulturelle Bewegung, die vor allem in akademischen, technologischen und politisch einflussreichen Kreisen Anklang findet, strebt eine grundlegende Verbesserung und Transformation des Menschseins durch den gezielten Einsatz von Technologie an[1]. Dabei geht es ausdrücklich nicht mehr nur um die traditionellen Ziele der Medizin – Heilung von Krankheiten oder Kompensation von Behinderungen –, sondern um sogenanntes ‚Enhancement‘: die gezielte Steigerung menschlicher Fähigkeiten (kognitiv, physisch, emotional) über das heute als normal angesehene Maß hinaus bis hin zur Schaffung einer posthumanen, „übermenschlichen“ Existenzform, die Altern, Leiden und Tod hinter sich lässt.

Dieser Transhumanismus kann treffend als säkulare Ersatzreligion verstanden werden, die in das Vakuum stößt, das durch den Rückgang des Christentums entstanden ist. Sie bietet eine technologisch begründete Antwort auf die letzten Fragen nach Herkunft, Sinn und Zukunft des Menschen. An die Stelle der christlichen Hoffnung auf Erlösung von Sünde und Tod durch die Auferstehung zu einem ewigen Leben in der Gegenwart Gottes tritt die Erwartung einer technologischen „Verbesserung“ des biologischen Körpers oder gar seiner vollständigen Überwindung. Der Tod wird nicht als Folge der Sünde (vgl. Röm 6,23) oder als natürliche Grenze verstanden, die es hinzunehmen gilt, sondern als lösbares „technisches Problem“, das durch Fortschritte in der Bio- und Nanotechnologie und insbesondere der KI überwunden werden kann. Das Böse und das Leid in der Welt sollen nicht durch Umkehr, Vergebung und die verändernde Kraft Gottes überwunden werden, sondern durch technologische Kontrolle, genetische Optimierung, algorithmische Steuerung und Ausmerzung biologischer und sozialer „Fehlentwicklungen“.

Die Parallelen und zugleich fundamentalen Gegensätze zur christlichen Heilslehre sind offensichtlich und aufschlussreich. Statt der Erwartung der Wiederkunft Christi und der Vollendung des Reiches Gottes durch Gottes Wirken propagiert der Transhumanismus die ultimative Selbstermächtigung des Menschen zum Gott: das bedeutet zum Schöpfer seiner eigenen Zukunft, zum Designer seiner Nachkommen und zum potentiellen Eroberer des Kosmos. Diese Vision speist sich aus einem tiefen, oft unkritischen Glauben an die Allmacht der Technik und einem radikalen Optimismus hinsichtlich der Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu verändern und zu perfektionieren. Die religiöse Dimension dieser Bewegung wird gerade im Kontrast zum christlichen Weltbild deutlich: Es handelt sich um einen alternativen Heilsplan, der die Erlösung nicht von einem allmächtigen Gott, sondern von menschlichem Erfindungsgeist und ständig wachsender technologischer Machbarkeit erwartet. Dieses neue ‚Evangelium‘ betrachtet christliche Tugenden wie Demut, Dankbarkeit und die Annahme der eigenen Geschöpflichkeit als Hindernisse.

4. Homo Deus: Hararis Vision vom Mensch-Gott

Einer der prominentesten und global einflussreichsten Vordenker, der diese transhumanistische Vision einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ist der israelische Historiker und Philosoph Yuval Noah Harari (geb. 1976). Sein Bestseller „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“[2] entwirft ein provokantes Szenario, in dem die Menschheit, nach der weitgehenden Überwindung traditioneller Menschheitsprobleme wie Hunger, Seuchen und Krieg, vor neuen, ambitionierten Zielen steht: Unsterblichkeit (oder zumindest radikale Lebensverlängerung durch Bekämpfung des Alterns), Glück (durch biochemische und technologische Manipulation des Bewusstseins) und Göttlichkeit (durch biotechnologische und informationstechnologische Upgrades, die den Menschen über seine biologische Natur hinausheben). Harari argumentiert eindringlich, dass die gleichen wissenschaftlichen und technologischen Kräfte, die uns bisher gedient haben, uns nun in die Lage versetzen – und vielleicht sogar dazu drängen –, uns von Grund auf neu zu erschaffen.

Der von Harari geprägte Begriff ‚Homo Deus‘ – der lateinische Ausdruck für ‚Mensch-Gott‘ – ist Programm und bringt den ultimativen Anspruch des Transhumanismus prägnant auf den Punkt. Harari beschreibt die mögliche Entstehung eines neuen Menschentyps, ja einer neuen Spezies, die ihre biologischen Grenzen durchbricht und Fähigkeiten erlangt, die traditionell den Göttern zugeschrieben wurden. Dazu gehört zunächst die Überwindung der Sterblichkeit. Harari sieht den Tod nicht mehr als metaphysisches Schicksal oder biologische Notwendigkeit, sondern als technisches Problem, das prinzipiell lösbar ist, wenn genügend Ressourcen und Intelligenz investiert werden.[3] Zweitens strebt der ‚Homo Deus‘ nach absolutem, dauerhaftem Glück und Wohlbefinden, das durch präzise Eingriffe in unsere Biochemie (z.B. durch Psychopharmaka oder genetische Programmierung) und möglicherweise durch direkte Stimulation von Lustzentren im Gehirn technologisch herstellbar und steuerbar werden soll.[4] Drittens – und hier kommt die KI zentral und entscheidend ins Spiel – strebt der ‚Homo Deus‘ nach Göttlichkeit durch Verschmelzung mit oder Überwindung durch Technik. Dies könnte die Entwicklung übermenschlicher Intelligenz durch Gehirn-Computer-Schnittstellen, Gentechnik oder das (hypothetische) Hochladen menschlichen Bewusstseins in digitale Substrate umfassen, wodurch die Grenzen des organischen Gehirns und Körpers endgültig überwunden würden.[5]

In der Frage, ob diese Entwicklung tatsächlich wünschenswert oder aufzuhalten ist, bleibt Harari selbst in seiner Darstellung oft distanziert und zweideutig. Er weist explizit auf die enormen sozialen und ethischen Risiken hin, etwa die Entstehung einer neuen, nie dagewesenen Ungleichheit zwischen einer Kaste von technologisch optimierten ‚Supermenschen‘ und der möglicherweise überflüssig werdenden, nicht optimierten Masse.[6] Unabhängig von Hararis persönlicher Einstellung und seinen Warnungen hat seine prägnante Formulierung des ‚Homo Deus‘ die transhumanistische Agenda enorm popularisiert und die Vorstellung beflügelt, der Mensch könne und solle sich durch Technologie selbst zum Gott erheben – eine Vorstellung, die tief in den Denkstrukturen einflussreicher Kreise verankert ist.

5. Theologische Reflexion: Der wahre Deus Homo und die Arroganz des Homo Deus

Aus christlicher Sicht ist die Vision des ‚Homo Deus‘ eine fundamentale Herausforderung und zugleich eine tiefgreifende Verdrehung biblischer Wahrheiten. Hararis Konzept des ‚Homo Deus‘ – des Menschen, der sich aus eigener Kraft, mit eigener Intelligenz und mit Hilfe der Technik zu Gott erhebt, um Leid und Tod zu überwinden – steht in eindeutigem Gegensatz zum Kern des christlichen Bekenntnisses: dem ‚Deus Homo‘, dem einen wahren Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist (Joh 1,1.14; Phil 2,6-8). Während der Transhumanismus eine Aufwärtsbewegung des Menschen zu einem gottähnlichen Status durch Selbstoptimierung und Machterwerb anstrebt, bezeugt das Evangelium die unbegreifliche Abwärtsbewegung Gottes in die menschliche Existenz hinein – seine Selbstentäußerung, seine Annahme der menschlichen Begrenztheit und Verletzlichkeit, seine Erniedrigung bis zum schmachvollen Tod am Kreuz – motiviert nicht durch Machtstreben, sondern durch die erlösende Liebe zur gefallenen Menschheit.

Die Sprache, die Harari verwendet, ist kaum zufällig gewählt. Sie spiegelt die tiefe und doch zweideutige Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz, nach Überwindung der eigenen Begrenztheit, nach Unsterblichkeit und gottähnlicher Macht wider, die seit dem Sündenfall (1Mos 3) tief in uns Menschen steckt und in der biblischen Erzählung vom Turmbau zu Babel (1Mos 11,1-9) ihren sichtbaren Ausdruck findet. Dort versuchen die Menschen, getrieben von der Angst vor Zerstreuung und dem Wunsch, sich „einen Namen zu machen“ (d.h. ihre Existenz zu sichern und Sinn zu stiften), aus eigener Kraft einen Turm „bis in den Himmel“ zu bauen. Das Projekt ist ein Akt kollektiver Selbstüberschätzung und des Misstrauens gegenüber Gottes Verheißung und Führung. Die KI-getriebene Vision des ‚Homo Deus‘ erscheint wie ein hochtechnisierter, digitalisierter Turmbau zu Babel im 21. Jahrhundert: der Versuch, die gottgegebenen Grenzen der menschlichen Natur mit technischen Mitteln zu sprengen, selbstgemachte Unsterblichkeit und Allmacht zu erlangen und sich damit endgültig von der Abhängigkeit vom Schöpfer zu lösen.

Dieser Versuch ist jedoch von einer tiefen Selbstüberschätzung geprägt – einem Hochmut, der nach biblischem Verständnis die Wurzel der Sünde ist. Er verkennt die grundlegende Geschöpflichkeit des Menschen, der seine Würde und seinen Wert nicht aus eigener Leistung oder technischem Fortschritt bezieht, sondern aus dem Geschenk der Gottebenbildlichkeit und der Beziehung zu seinem Schöpfer (Ps 8; Apg 17,28). Er ignoriert oder verharmlost die Realität der Sünde, die nicht nur zu physischem Tod und Leiden führt, sondern auch zu einer tiefen Entfremdung von Gott, von sich selbst, von den Mitmenschen und von der ganzen Schöpfung (Röm 8,19-22). Die transhumanistische Hoffnung auf technologische Erlösung übersieht, dass wahre Heilung, Versöhnung und Vollendung nicht durch menschliche Machbarkeit und Optimierungsstrategien erreicht werden können, sondern allein durch Gottes Gnade, Vergebung und Neuschöpfung in Jesus Christus. Der wahre ‚Mensch-Gott‘ ist nicht das kalte Produkt menschlicher Selbstoptimierung und algorithmischer Perfektion, sondern der menschgewordene Gottessohn, der nicht durch eiskalte Logik und technokratische Macht, sondern durch aufopfernde Liebe, Barmherzigkeit und Dienst regiert (vgl. Jes 53; Mt 20,28).

6. Spekulationen über die Endzeit: KI als Werkzeug oder Wegbereiter des Widersachers?

Die Vorstellung einer zukünftigen Superintelligenz, die den Menschen kognitiv weit übertrifft und potentiell beherrscht, nährt auch düstere eschatologische Szenarien, wie sie etwa im Konzept des „Krieges der Artilekte“ (artificial intellects) des Physikers und Informatikers Hugo de Garis anklingen[7]. Solche Visionen, in denen die Menschheit in einem existentiellen Konflikt mit ihren eigenen höheren Intelligenzschöpfungen unterzugehen droht oder sich einer allumfassenden technokratischen Diktatur unterwerfen muss, um ihr Überleben zu sichern, spiegeln oft einen tiefen Kulturpessimismus wider, der nicht selten aus einem säkularen, gottlosen Weltbild resultiert. Ohne die Hoffnung auf Gottes souveränes, zielgerichtetes Handeln in der Geschichte und sein gerechtes Endgericht erscheint die Zukunft als ein unkontrollierbarer, katastrophaler Prozess, der entweder zur Selbstzerstörung durch unkontrollierte Technologie oder zur totalen Versklavung unter eine künstliche Macht führt.

Auch wenn solche Szenarien oft dem Bereich der Science-Fiction zugeordnet werden und ihre Wahrscheinlichkeit schwer einzuschätzen ist, berühren sie doch eine tiefere, theologisch relevante Wahrheit: Das menschliche Streben nach Macht und autonomer Kontrolle, losgelöst von göttlicher Weisheit und ethischer Verantwortung, birgt immer die Gefahr der Selbstzerstörung und der Schaffung menschenverachtender Systeme in sich. Die Entwicklung immer mächtigerer Technologien wie der KI stellt die Menschheit vor immense ethische Herausforderungen und Versuchungen. Die Versuchung ist groß, diese Werkzeuge zu missbrauchen, um Überwachung, Manipulation und soziale Kontrolle zu perfektionieren und totalitäre Systeme zu errichten, die die Freiheit und Würde des Einzelnen untergraben. Die scheinbare Effizienz, Objektivität und Unfehlbarkeit von KI-Systemen könnte dazu verleiten, menschliche Verantwortung, Empathie und moralisches Urteilsvermögen zunehmend an intransparente Algorithmen zu delegieren, was zu einer schleichenden Entmenschlichung von Entscheidungsprozessen in allen Lebensbereichen führen würde.

In diesem Zusammenhang stellt sich für manche Christen unweigerlich die Frage, ob eine zukünftige globale KI-gesteuerte Kontrollordnung Züge des in der Bibel prophezeiten endzeitlichen Gegenspielers, des Antichristen, tragen könnte (vgl. 2Thess. 2; Offb 13). Es wäre theologisch unzulässig und höchst spekulativ, eine bestimmte Technologie wie KI dogmatisch mit der Person oder dem System des Antichristen gleichzusetzen. Die biblischen Prophezeiungen sind komplex und ihre Interpretationen vielfältig. Dennoch ist die Beobachtung relevant und bedenkenswert, dass die mit bestimmten KI-Visionen und dem Transhumanismus verbundene Hybris – der Stolz auf menschliche Allmacht, die Ablehnung göttlicher Autorität und die Schaffung einer Ersatzreligion – durchaus Züge aufweist, die an die biblische Beschreibung des Geistes des Antichristen erinnern. Selbst wenn die KI nicht der Antichrist ist, so könnte sie doch ein mächtiges Werkzeug in seinen Händen sein oder den Weg zu einer Gesellschaft ebnen, die sich selbst genügt, absolut auf menschliches Wissen und technologische Kontrolle vertraut und die Abhängigkeit von Gott und die Notwendigkeit der Erlösung grundsätzlich leugnet. Die Bibel warnt eindringlich vor menschlichem Hochmut (Spr 16,18) und ruft zu Demut und Gottesfurcht auf.

Schlussfolgerung

Die Auseinandersetzung mit der Ideologie hinter einigen einflussreichen Strömungen der Künstlichen Intelligenz führt unweigerlich von rein technischen Fragen zu tiefgreifenden theologischen Grundsatzdiskussionen. Die Vorstellung, KI sei der nächste logische Schritt der Evolution und könne den Menschen zum ‚Homo Deus‘ erheben, wurzelt in einem säkularen, oft naiven Fortschrittsglauben und einer transhumanistischen Ersatz-Eschatologie, die technologische Lösungen für existenzielle und spirituelle Probleme verspricht. Diese Sichtweise steht in fundamentalem Widerspruch zu einem biblisch begründeten Verständnis des Menschen als geliebtes Ebenbild Gottes, dessen unveräußerliche Würde in seiner Geschöpflichkeit begründet ist und dessen wahre Hoffnung nicht in der technologischen Selbstoptimierung, sondern in der Erlösung und Neuschöpfung durch Jesus Christus liegt. Die Selbstüberschätzung, die im Streben nach technologischer Selbstvergöttlichung sichtbar wird, stellt eine ernste geistliche Gefahr dar, weil sie den Menschen von seinem eigentlichen Ursprung und Ziel entfremdet.

Auch wenn apokalyptische Szenarien eines ‚Kriegs der Artilekte‘ oder die direkte Identifikation von KI mit dem Antichristen spekulativ bleiben müssen, ist eine kritische Wachsamkeit gegenüber den ideologischen Folgen und potenziellen Verführungen dieser Technologie geboten. Die ihr oft zugrunde liegende eingeschränkte Perspektive, die den Menschen auf einen berechenbaren Algorithmus und die komplexe Wirklichkeit auf quantifizierbare Daten reduziert, ebnet potenziell den Weg in eine entmenschlichte, kontrollierte Gesellschaft, in der Effizienz über Würde und Funktion über Personsein gestellt wird. Als Christen sind wir gefordert, die Entwicklungen nüchtern und sachkundig zu beurteilen. Konkret sollen wir die unbestreitbaren Potentiale der KI verantwortungsvoll und zum Wohl des Nächsten nutzen, zugleich aber auch entschieden ihre Grenzen aufzeigen und die dahinter stehenden Weltbilder und Heilsversprechen kritisch an der Heiligen Schrift prüfen.

Im dritten und letzten Teil dieser Artikelserie werden wir uns daher konkreter mit praktischen Anwendungen von KI in verschiedenen Lebensbereichen auseinandersetzen. Dabei sollen sowohl die Chancen als auch die Risiken differenziert beleuchtet werden, um Kriterien für einen weisen, ethisch verantworteten und theologisch fundierten Umgang mit dieser mächtigen Technologie aus christlicher Perspektive zu entwickeln. Es gilt, den Wert der KI als nützliches Werkzeug anzuerkennen, ohne ihren ideologischen Verführungen und falschen Heilsversprechungen zu erliegen, während wir ihre Grenzen stets im Bewusstsein der unverlierbaren Würde des Menschen und der Souveränität Gottes berücksichtigen.

„Verführende“ Literatur

de Garis, Hugo (2005): The Artilect War: Cosmists vs. Terrans: A Bitter Controversy Concerning Whether Humanity Should Build Godlike Massively Intelligent Machines. Palm Springs, CA: ETC Publications.

Harari, Yuval Noah (2017): Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. München: C.H. Beck.

 

Didier Erne arbeitet als Berater in der Finanzwelt und hat an der Universität Genf Wirtschaftswissenschaften und an der Faculté Jean-Calvin in Aix-en-Provence reformierte Theologie studiert. Mit seiner Frau Michelle und seinen drei Kindern gehört er der Presbyterianischen Gemeinde Zürich an.


[1] Siehe Bostrom, Nick. Transhumanist Values. Journal of Philosophical Research, vol. 30, Supplement, 2005, pp. 3–14.

[2] Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 2017 in München bei C.H. Beck.

[3] Vgl. Harari, Homo Deus, 2017, z.B. S. 31ff.

[4] Vgl. ebd., S. 45ff.

[5] Vgl. ebd., S. 348ff., S. 401ff.

[6] Vgl. ebd., S. 360ff.

[7] de Garis, Hugo: The Artilect War: Cosmists vs. Terrans: A Bitter Controversy Concerning Whether Humanity Should Build Godlike Massively Intelligent Machines. ETC Publications, 28.02.2005.