Wenn ich Vorlesung über die Königebücher im Alten Testament halte, sind Studenten meist überrascht, dass diese nicht bloß eine Reihe unterhaltsamer Geschichten bieten, sondern eine zutiefst theologische Botschaft aufweisen. In diesen Texten, die ursprünglich ein einziges literarisches Werk „Könige“ darstellten, wird Geschichte nicht bloß als eine Aneinanderreihung von Fakten berichtet. Es geht viel mehr darum, die Entwicklung des Volkes Israel und seiner Leiter zwischen dem Tod Davids und dem babylonischen Exil unter theologischen Gesichtspunkten zu erklären.
Das Königebuch als scheinbar hoffnungslose Geschichte
Inspiriert durch den Heiligen Geist will der Schreiber der Königebücher (kurz: SdK) dabei vor allem eine Frage für seine Hörerschaft klären, die im babylonischen Exil lebt: Wie ist es möglich, dass das Königtum Israels trotz Gottes Versprechen an David, dass dieser ein beständiges Haus haben würde (2 Sam 7,1-17), so katastrophal scheiterten konnte?
Die Antwort fokussiert sich vor allem auf den Gottesdienst Israels. Von Salomo an, den SdK als schlechten König bewertet (1Kön 11,6), war Israels Geschichte mit wenigen Ausnahmen durch eine Abfolge von Königen geprägt, die das Volk zu einem falschen Gottesdienst verführten. In 2Kön 17,7-23 entfaltet SdK den theologischen Kern seiner Geschichtsschreibung am deutlichsten: Israel und Juda sündigten gegen Gott, indem sie einen falschen Gottesdienst betrieben. Sie beteten den Gott Israels nicht in Jerusalem an, wie Gott es eigentlich befohlen hatte (5. Mose 12), sondern bei den goldenen Kälbern in Bethel und Dan (die Sünde Jerobeams im Nordreich; vgl. 1Kön 12,25-33) oder auf den Höhen (die von Rehabeam eingeführte Sünde des Südreiches; vgl. 1Kön 14,22-24).
Das Problem der Baalsanbetung
Neben diesen Irrwegen, den wahren Gott auf eine falsche Weise anzubeten, findet sich im Königebuch auch noch eine weit größere gottesdienstliche Krise: die Hinwendung zu Baal, den Gott der Kanaanäer. Die Regierungszeit Ahabs und seiner Dynastie, die diesen Götzendienst im Nordreich einführten, wird daher besonders hervorgehoben (1Kön 16 bis 2Kön 10). Manasse, den SdK deutlich als einen neuen Ahab darstellt (2Kön 21,1-3), führt den Baalsdienst schlussendlich auch im Süden ein und besiegelt somit das Gericht Gottes über Jerusalem. Wie Gott Samaria wegen ihres Baalsdienstes ins Exil führte (2Kön 17), tut er es nun auch mit der Hauptstadt Judas (2Kön 21,10-15). Am Ende liegt das Land verwüstet da. Der Tempel, dessen Bau das Ende der Gefangenschaft in Ägypten symbolisierte (1Kön 6,1-2), wird als Zeichen für ein neues, babylonisches Exil geplündert und zerstört (2Kön 24-25). Am Ende scheint nichts als Hoffnungslosigkeit für Israel zu bleiben.
Für die Gemeinde Jesu zeigt diese Erzählung vor allem, wie wichtig Leiter sind, die das Volk Gottes im wahren Gottesdienst anleiten. Das Königebuch klärt dabei, dass nicht bloß die Anbetung falscher Götter Götzendienst ist. Auch der Gottesdienst am wahren Gott auf eine falsche Weise wird im Buch nicht nur verurteilt, sondern auch als Weg hin zum Baalsdienst präsentiert. Es ist daher wichtig, die Schrift heute daraufhin zu erforschen, wie Gott angebetet werden möchte. Das Königebuch trennt nicht zwischen dem, was man über Gott glaubt, und der Art und Weise, wie man sich Gott nähert. All das spielt eine Rolle, wenn die Gemeinde zum Gottesdienst zusammenkommt.
2Kön 25,27-30 und die Frage nach Hoffnung am Ende des Buches
Was ist aber nun mit David? Bedeutet das Scheitern seiner Nachfahren, dass Gott seine Linie genauso wie die Städte Jerusalem und Samaria richten wird? Das Buch endet mit einer kurzen Notiz darüber, dass der letzte legitime König aus Davids Linie, Jojachin, im babylonischen Exil aus dem Gefängnis entlassen wird und dort einen „Thron“ (hebräisch: kisse) erhält. Dieser etwas kryptische Abschnitt findet sich in 2Kön 25,27-30. Hier meine eigene Übersetzung:
Und es geschah im 37. Jahr der Gefangenschaft Jojachins, des Königs von Juda, im 12. Monat am 27. Tag, dass Evil-Merodach, der König von Babel, im Jahr seiner Königswerdung den Kopf Jojachins, des Königs von Juda, aus dem Gefängnis erhob. Und er sprach freundlich mit ihm und setzte seinen „Thron“ (kisse) über den Thron (kisse) der Könige, die mit ihm in Babel waren.Und er (Jojachin) änderte die Kleider seiner Gefangenschaft. Und er aß immer Brot in seiner (Evil-Merodach) Gegenwart, alle Tage seines Lebens. Und seine Ration war eine andauernde Ration. Sie wurde ihm täglich vom König gegeben alle Tage seines Lebens.
Ausleger des Königebuches haben sich lange die Frage gestellt, ob dieser Abschnitt das Buch zu einem hoffnungsvollen Ende bringt oder nicht. Viele Exegeten meinen, dass hier bloß der letzte Fakt der traurigen Geschichte Israels erzählt wird. Andere vermuten, dass die finale Notiz dieses Textes zeigt, dass SdK eine Hoffnung für David über das Exil hinaus hegte. Diese Überlegungen sind nicht unwichtig. Gerade weil das Königebuch die Geschichte Israels als eine Geschichte des Scheiterns darstellt, drängt sich die Frage auf, ob diese Verse irgendeine Hoffnung für David oder das Volk kommunizieren.
Davon hängt ab, wie dieses Buch ausgelegt oder gepredigt werden muss. Gibt es im Königebuch nur Gericht oder auch Hoffnung? Predigt man hier nur das Gesetz oder auch das Evangelium?
Eben dieser Frage habe ich mich vor Kurzem in einer Forschungsarbeit gewidmet. Dabei bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Ende des Königebuches tatsächlich Hoffnung kommuniziert. Dies wird deutlich, wenn man diesen Abschnitt im Zusammenhang des gesamten Buches auslegt und dabei die Besonderheiten der hebräischen Erzählkunst beachtet. Die Ergebnisse meiner Arbeit will ich hier gerne für eine breitere Leserschaft erläutern und geistlich einordnen.
Zwei dynastische Anwärter auf den Thron in 2Kön 25,27-30
Zunächst einmal zu 2Kön 25,27-30: Dieser Abschnitt steht natürlich nicht für sich allein, sondern ist in die größere Erzählung der Wegführung Judas nach Babylon in 2Kön 24,8-25,30 eingebettet. Dabei fällt auf, dass es am Ende des südlichen Königreiches zwei Könige gibt. Auf der einen Seite findet sich Jojachin, der bei der ersten Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezzar ins Exil geführt wird. Auf der anderen Seite findet sich Zedekia, den der babylonische Herrscher als Marionettenkönig einsetzt. Schaut man in diesem Abschnitt genau hin, merkt man, dass SdK diese beiden judäischen Monarchen durch verschiedene Bemerkungen bewusst kontrastiert:
Der Gegensatz zwischen Jojachin und Zedekia
Während Evil-Merodach „freundlich“ mit Jojachin redet (2Kön 25,28), spricht Nebukadnezzar „das Urteil“ über Zedekia (dieser Kontrast wird vor allem im parallelen Wortlaut des Hebräischen deutlich);[1] während Nebukadnezzar Zedekia „fesselt“ (2Kön 25,6), befreit Evil-Merodach Jojachin aus dem Gefängnis und gibt ihm neue Kleider (2Kön 25,27-29); während Zedekia mit Gewalt ins Exil geht und danach verschwindet (2Kön 25,6-7), taucht Jojachin hergestellt wieder auf (2Kön 25,27-30); während Zedekias Nachkommen vor seinen Augen getötet werden (2Kön 25,6-7), unterstreicht SdK das andauernde Leben Jojachins in Babylon (2Kön 25,27-30). Am wichtigsten ist jedoch, dass Jojachin am Ende des Buches nicht bloß wieder auftaucht, sondern auf einem „Thron“ (kisse) sitzend und als „König von Juda“ präsentiert wird.
Am Ende des Königebuches schildert SdK daher nicht bloß einen externen Kampf zwischen Juda und Babylon, sondern auch einen internen Konflikt zweier judäischer Monarchen. Antike israelitische Leser haben bei 2Kön 24-25 natürlich die Frage gehabt, welche königliche Linie sich nun durchsetzen würde: Jojachin oder Zedekia? SdK beantwortet dies, indem er aufzeigt, dass Jojachin am Ende des Buches auf einem „Thron“ (kisse) sitzt.
Schaut man sich nun das Königebuch im Gesamten an, finden wir ähnliche Erzählungen von zwei dynastischen Anwärtern auf einen „Thron“ (kisse) an zwei weiteren Stellen. Man kann daher von einem literarischen „Motiv“ sprechen, dass SdK bewusst einsetzt. Um zu verstehen, was er damit bezweckt, müssen wir uns diese Stellen genauer ansehen.
Zwei dynastische Anwärter auf den Thron in 1Könige 1 und 2Könige 11
Das Motiv zweier dynastischer Anwärter auf einen „Thron“ (kisse) erscheint nicht nur am Ende des Buches, sondern auch an dessen Anfang. In 1Kön 1,1-53 schildert SdK den Konflikt zwischen Salomo und Adonija um die Nachfolge Davids. Obwohl Adonija der Erstgeborene war, hatte David Batseba zuvor geschworen, dass Salomo König werden solle. Wie bereits in 2Kön 25,27-30 auch, entscheidet sich diese Auseinandersetzung in dem Moment, als Salomo seinen Platz auf dem „Thron“ (kisse) einnimmt.
Der Kampf zwischen Adonija und Salomo
Die Darstellung dieser Ereignisse ist bemerkenswert. Hier meine Übersetzung von 1Kön 1,43b-48:
Unser Herr, der König David hat Salomo zum König gemacht. Und der König hat Zadok den Priester, Nathan den Propheten, Benaja, den Sohn Jojadas, die Kerethiter, und die Peletither mit ihm gesandt. Sie haben ihn auf den Esel des Königs gesetzt. Und Zadok der Priester hat ihn gesalbt zum König am Gihon mit Nathan dem Propheten. Und sie brachten ihn von dort freudig herauf und die Stadt machte ein Geläut. Das habt ihr gehört. Außerdem: Salomo sitzt auf dem Thron (kisse) des Königreiches. Außerdem: Die Knechte des Königs kamen, um unseren Herrn, den König David, zu segnen: „Dein Gott hat den Namen Salomos besser gemacht als deinen Namen und seinen Thron erhöht über deinen Thron.“ Und der König betete auf seinem Bett an. Außerdem: Das hat der König gesagt: „Gesegnet sei der HERR, der Gott Israels, der heute einen gegeben hat, der auf meinem Thron sitzt. Und meine Augen sehen es.“
Dass Salomo hier auf dem Thron sitzt, bedeutet nicht allein, dass er König geworden ist. Schaut man sich die Worte Davids in diesem Abschnitt genau an, dann signalisiert Salomos Thronfolge, dass Davids Linie überhaupt weitergeht: Gesegnet sei der HERR, der Gott Israels, der heute einen gegeben hat, der auf meinem Thron sitzt. Und meine Augen sehen es.
Im Konflikt der beiden dynastischen Anwärter war die Linie Davids an sich gefährdet. Salomo war der erwählte Nachfolger des Königs (1Kön 1,30), der im Falle eines erfolgreichen Coups wahrscheinlich getötet worden wäre. Es ist der Zusammenarbeit Batsebas und Nathans zu verdanken, dass Salomo diesen Tag überlebte. Im Angesicht dieser Entwicklungen preist David Gott nun dafür, dass dieser seine Dynastie erhalten und ihr eine Zukunft über seinen Tod hinausgegeben hat.
Zwei dynastische Anwärter auf den Thron in 2Kön 11
Diese Gefährdung des Fortbestandes der davidischen Linie intensiviert sich in 2Kön 11. Auch hier findet sich das Motiv zweier dynastischer Anwärter auf einen „Thron“ (kisse). In 2Kön 11,1 lesen wir, dass Atalja die „gesamte Nachkommenschaft des Königtums“ auslöscht. Der einzige Nachkomme Davids, der dieses Massaker überlebt, ist der Säugling Joasch.
Um dieses Ereignis zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen. Nach Salomos Tod war das Königreich Israel in zwei Teile zerbrochen (1Kön 12). Während die Nachfahren Davids weiterhin im Südreich Juda regierten, wechselten sich verschiedene Dynastien damit ab, Israel im Norden zu beherrschen. Atalja war eine Prinzessin aus ebendiesem Nordreich und entsprang dem Clan Omris, der während seiner Herrschaft den Baalsdienst in Israel eingeführt hatte (2Kön 8,25-27; 1Kön 16,29-33). Durch eine wahrscheinlich politisch motivierte Heirat mit Joram von Juda wurde Atalja dann Teil der königlichen Familie des Südreiches und dadurch Mutter des judäischen Königs Ahasja (2Kön 8,25-27). All das war nur möglich, weil die Königreiche Juda und Israel zu diesem Zeitpunkt auf vielfältige Weise miteinander kooperierten.
Diese Kooperation hatte aber katastrophale Konsequenzen für den Süden. Durch den Einfluss Ataljas und ihrer Familie wurde die Linie Davids massiv korrumpiert. Dies hatte zur Folge, dass Gottes lange angekündigtes Gericht am Haus Omri wegen seines Baalsdienstes (1Kön 19,13-18) auch Ahasja, den Herrscher des Südreiches traf, der Juda immer mehr dem sündigen Nordreich anglich (2Kön 9-10). Jehu, das von Gott erwählte Instrument seines Urteils am Götzendienst Israels, tötete daher sowohl Joram, den König Israels, als auch Ahasja, den König Judas. Die scheinbar verrückt gewordene Atalja nutzte nun das entstandene Machtvakuum, um die Herrschaft über das Südreich an sich zu reißen und die Linie Davids auszurotten.
Der Kampf zwischen Atalja und Joasch
Als moderne Leser entgeht uns häufig die Brisanz der hier dargestellten Geschehnisse. In 2Kön 11 hängt das Versprechen Gottes an David, dass dieser ewiglich einen Nachkommen auf dem Thron haben wird, am sprichwörtlichen seidenen Faden. Joasch überlebt als einziger möglicher Thronfolger das Massaker Ataljas als kleines Baby. An seinem Schicksal hängt nun der gesamte Heilsplan Gottes, der in Jesus Christus, dem wahren Nachfahren Davids, gipfelt.
Auffallend ist, dass wir auch in 2Kön 11 das Motiv zweier dynastischer Anwärter auf einen „Thron“ (kisse) finden. Hier begegnen sich Joasch und Atalja wie zuvor Salomo und Adonija. Dazu kommt, dass dieses Kapitel in vielerlei Hinsicht die literarische Mitte des Buches darstellt. Dass Gottes Wort dieses Motiv am Anfang, am Ende, und im Zentrum des Königsbuches verwendet, deutet somit darauf hin, dass es bewusst als sinnstiftender Rahmen um das gesamte Buch gespannt ist.
Erstaunliche Parallelen
Die Parallelen zwischen 1Kön 1 und 2Kön 11 machen deutlich, wie sehr SdK diese beiden Ereignisse bewusst aufeinander bezieht. In beiden Berichten finden sich die folgenden Elemente in gleichlaufender Abfolge:
- a) Ein Mitglied des Königshauses unternimmt einen illegitimen Versuch, den Platz des eigentlichen Thronfolgers einzunehmen (1Kön 1,5-10 ~ 2Kön 11,1-4).
- b) Die Koalition eines weiblichen Mitglieds der königlichen Familie und eines Mitglieds der sozialen Elite rettet das Leben des gefährdeten Thronfolgers und erwirkt, dass dieser zu seiner Königwerdung und zu seinem Thron gebracht wird (Batseba und Nathan in 1Kön 1,11-37 ~ Joseba und Jojada in 2Kön 11,2-11).
- c) Der eigentliche Thronfolger wird dann gesalbt und durch den Ausruf „Möge der König leben!“ sowie durch ein fröhliches Geläut des Volkes bejubelt (1Kön 1,38-40 ~ 2Kön 11,12).
- d) Der daraus resultierende Jubelruf macht den falschen Anwärter auf den Thron darauf aufmerksam, dass ein Gegner aufgekommen ist (1Kön 1,41-42 ~ 2Kön 11,13-14).
- e) Die Erscheinung und Annahme des eigentlichen Thronfolgers bei dem Volk und sein Sitzen auf dem Thron (kisse) besiegelt den Untergang des falschen Anwärters und sichert den Fortbestand der davidischen Linie (1Kön 1,43-53 ~ 2Kön 11,15-20).
All das zeigt, dass SdK dieses Motiv bewusst verwendet, um seine sonst eher negative Geschichte der beiden israelitischen Königreiche in eine positive Rahmenerzählung einzubetten. Während die Könige Israels und Judas das Volk zu immer größeren gottesdienstlichen Sünden verleiten, bleibt Davids Linie auch im Angesicht allergrößter Gefahren bestehen. Das Motiv der zwei Anwärter auf einen Thron (kisse) kommuniziert also, dass Gott Davids Nachkommen entgegen deren Sünden erhält. Die Worte des scheidenden Königs aus 1Kön 1 klingen damit ebenso in 2Kön 11 nach: Gesegnet sei der HERR, der Gott Israels, der heute einen gegeben hat, der auf meinem Thron sitzt. Und meine Augen sehen es.
Eine geschwächte Linie
In all dem darf uns allerdings nicht entgehen, wie Davids Linie trotzdem auch immer schwächer und zerbrechlicher wurde. Ataljas Angriff auf die königliche Thronfolge war in ihrer Intensität wesentlich schwerwiegender als Adonijas Coup. Im Falle eines Scheiterns Salomos in 1Kön 11 schien der Fortbestand der Dynastie zumindest denkbar, da Adonija auch ein Sohn Davids war. In 2Kön 11 allerdings stand tatsächlich alles auf dem Spiel. Die Beständigkeit von Davids Familie wird im Verlauf der Geschichte und ihrer Rahmung also immer ungewisser.
Diese beiden Entwicklungen bestimmen nun, wie die Verwendung des Motivs der zwei Anwärter auf einen Thron (kisse) in 2Kön 25,27-30 ausgelegt werden muss. Auf der einen Seite kommuniziert dieses Motiv den Fortbestand der davidischen Linie. Auf der anderen Seite unterstreicht es den zunehmenden Verfall der Dynastie und den Verlust ihrer königlichen Souveränität.
Die Hoffnung von 2Kön 25,27-30
Was also bedeutet Jojachins Sitzen auf dem Thron (kisse) in 2Kön 25,27-30 für das Ende des Buches? Im Angesicht der vorangehenden Beobachtungen muss man davon ausgehen, dass SdK Jojachin durch den Gebrauch seines Motivs bewusst mit Salomo und Joasch vergleicht. Während der erste Vergleich den Verfall der davidischen Dynastie unterstreicht, kommuniziert der zweite Vergleich eine wirklich vorsichtig ausgedrückte Hoffnung für Davids Linie über das Exil in Babylon hinaus.
Die Rolle Jojachins
Zunächst einmal ist Jojachin ein Salomo im Exil. Das zeigen verschiedene Berührungspunkte der beiden Geschichten: Salomo regierte über alle Reiche westlich des Euphrat und erhielt gewaltige tägliche Essenslieferungen von diesen Untertanen (1Kön 4-5). Jojachin hingegen ist ein Gefangener des Königs östlich des Euphrat und lebt in Abhängigkeit seiner täglichen Essensrationen (2Kön 25,29-30). Während Salomo einen Thron „größer als der Thron“ Davids empfing (1Kön 1,37.47), erhält Jojachin lediglich einen Thron „über den Thronen“ seiner Mitgefangenen in Babylon (2Kön 25,27). Wichtiger noch: Während der erste König des Buches die Fremdlingsschaft Israels in Ägypten durch den Bau des Tempels beendete (1Kön 6,1), leitet der letzte König Judas ein erneutes Exil in Babylon durch dessen Plünderung ein (2Kön 24).
Zweitens ist Jojachin ein Joasch im Exil. Während beide Nachkommen Davids aus ihrer Gefangenschaft (entweder im Tempel oder Gefängnis) entlassen werden, kann allein Joasch wirklich freikommen. Während beide durch ihr Sitzen auf einem Thron (kisse) signalisieren, dass es mit der königlichen Linie trotz schlimmster Widerstände weitergeht, ist allein Joasch ein wirklicher König Judas. Dennoch ist die Parallele zwischen diesen beiden Monarchen unverkennbar: Davids Dynastie überlebt die Katastrophe des Exils wie einst das Massaker der Atalja. Es geht weiter mit David und seiner korrumpierten Familie.
Theologische Kommentare
In diesem Punkt überlappt der Gebrauch des Motivs der zwei Anwärter auf einen Thron (kisse) in 2Kön 25,27-30 sowohl inhaltlich als auch literarisch mit den theologischen Kommentaren, die SdK durch sein Buch hindurch an verschiedenen Stellen in Bezug auf die Linie Davids platziert. In 1Kön 11,9-13 lesen wir, dass Salomos Bundesbruch Gottes Treue an David nicht in Frage stellt. Im direkt darauffolgenden Gericht der Reichsteilung bleibt Juda den Nachfahren Davids daher erhalten. In 2Kön 8,17-19 erfahren wir, dass sogar Jorams Ahab-gleiche Sünden Gottes Treue an David nicht auslöschte. Joaschs Überleben im darauffolgenden göttlichen Gericht an Israel und Juda durch Jehu und Atalja (2Kön 9-11) bestätigt das.
Der letzte dieser Kommentare von SdK findet sich in 2Kön 21,10-15. Hier verheißt Gott das Gericht an Juda (Israel war bereits im Exil) wegen Manasses Ahab-gleichen Sünden. Wie bereits Joram vor ihm, hatte Manasse Juda den abartigsten Sünden des Nordreiches angeglichen. In beiden Fällen folgte ein katastrophales Gericht Gottes: Jehus Massaker in 2Kön 9-10 als Reaktion auf Joram; das babylonische Exil in 2Kön 24-25 als Reaktion auf Manasse.
Während (wie eben gezeigt) direkt vor Jehus Massaker noch eine Notiz über Gottes Treue an David eingeschoben wird (2Kön 8,17-19), fehlt eine solche Bestätigung des göttlichen Schutzes in den Passagen vor dem Exil völlig. Die Gerichtsverheißung in 2Kön 21,10-15 ist allerdings höchst auffällig in Bezug auf das, was sie nicht sagt. Hier wird zwar das Urteil über Jerusalem und Juda vorweggenommen, aber Gott verliert kein Wort über die königliche Dynastie. Es scheint, als wäre David aus dem Gericht herausgenommen.
Eine reservierte Hoffnung
Das alles passt zur Verwendung des Motivs der zwei Anwärter auf einen Thron (kisse) in 2Kön 25,27-30. Am Ende des Buches wird keine triumphale Hoffnung für Davids Dynastie verkündet. Die Darstellung von Jojachins Sitzen auf dem Thron signalisiert zwar den Fortbestand der königlichen Familie, qualifiziert diesen aber in schmerzvoller Weise. Jojachin ist nur noch ein Schatten dessen, was Salomo einmal war.
Parallel dazu entwickeln sich die theologischen Kommentare über Gottes Treue an David im Königebuch. Während 1Kön 11,9-13 und 2Kön 8,17-19 noch Gottes Schutz für die königliche Linie bekräftigen, bietet 2Kön 21,10-15 lediglich noch die Möglichkeit, dass David aus dem Gericht Gottes an Jerusalem und Juda herausgenommen wird. Obwohl sich diese Vermutung dann durch das Auftauchen des Motivs der zwei Anwärter auf einen Thron (kisse) am Schluss des Buches bestätigt, bleiben die letzten Kapitel des Werkes dennoch ernüchternd. Die Hoffnung von 2Kön 25,27-30 ist zwar da, bleibt aber reserviert.
Das Königebuch und die christliche Hoffnung
Geleitet durch den Heiligen Geist schreibt SdK eine Geschichte des Volkes Israel zwischen Salomo und Jojachin, die mit einer außerordentlich zurückhaltenden Hoffnung endet. Alles, was bleibt, ist ein scheinbar letzter Nachkomme Davids auf einem traurigen Thron in der babylonischen Gefangenschaft.
SdK würde jetzt vielleicht sagen, dass dies auch kein größeres Hindernis für Gott darstellt als Ataljas Massaker seinerzeit. Damit hätte er Recht. Was SdK nun gedacht haben mag oder auch nicht, bleibt uns natürlich verborgen. Wichtiger ist deshalb, wie dieses Buch sich im Zusammenhang des gesamten Wortes Gottes in die Verkündigung des Evangeliums Jesu einfügt. Und da gäbe es viel zu sagen. Ich möchte hier nur zwei Punkte nennen:
Erstens sehen wir, wie die zerbrechliche Hoffnung, die das Ende des Königebuches ausmacht, auch den Anfang und das Ende des Evangeliums markiert. Ein schwacher Nachkomme Davids begegnet uns sowohl im Stall von Bethlehem als auch am Kreuz von Golgotha. Dass Israels Hoffnung auf dem Zerbrochenen fußt, sollte uns als Christen kaum überraschen.
Zweitens: Wenn man gemäß der Bücherfolge des dreiteiligen jüdischen Kanons, den auch Jesus gebrauchte (Luk 24,27), bei 2Kön 25 eine Seite weiter blättert, dann kommt man direkt zum Propheten Jesaja. Dieser prophezeite nicht nur einen zukünftigen Friedensfürst – er machte im Laufe seiner Prophetien auch immer deutlicher, dass dieser Gesalbte Gottes ebenfalls ein zerbrochener Israelit sein wird (Jes 53).
Am Ende ist die Hoffnung des Königebuches somit nicht weit von unserer Hoffnung entfernt. Auch wir leben bereits im Königreich Gottes, wie zerbrechlich dieses auch manchmal sein mag. Auch wir hoffen bereits auf Gottes Treue mitten im Gericht, so unscheinbar diese auch manchmal wirken mag. Und auch wir verlassen uns auf einen Nachkommen Davids, der in einer gewissen Weise fernab von uns auf seinem Thron im Himmel sitzt (Mk 14,62; Röm 1,3-4). Anders als Joasch oder Jojachin wird dieser jedoch einst wiederkommen, um sein Reich auf ewig aufzurichten.
Dr. Mario Tafferner ist Dozent für Altes Testament am Tyndale Theological Seminary in Badhoevedorp in den Niederlanden. Er ist verheiratet mit Elsbeth und Vater von vier Kindern.
[1] Einige deutsche Bibelübersetzungen schreiben in 2Kön 25,6, dass „sie“ das Urteil über Zedekia „sprachen“. Dieser Wechsel in die Mehrzahl hat damit zu tun, dass ein wichtiger überlieferter hebräischer Text, der Leningrad Codex, hier die Mehrzahl bietet. Die Mehrheit der Textzeugen sowie die Parallele im Jeremiabuch lesen aber in der Einzahl und sind an dieser Stelle vorzuziehen.