Die bleibende Botschaft des Buches Genesis (1. Mose)

Die bleibende Botschaft des Buches Genesis (1. Mose)

Wer die ersten Seiten eines Buches verpasst, verpasst Wesentliches. Ein Roman führt auf den ersten Seiten die Hauptpersonen ein und setzt sie in einen entsprechenden Rahmen. Ein Sachbuch liefert auf den ersten Seiten Definitionen, sodass die späteren Ausführungen nachvollzogen werden können. Hier werden die Grundlagen für alles gelegt, was folgt. Anfänge sind auch deshalb wichtig, weil sie uns etwas über das Ganze verraten. Sie tragen bereits den Samen des Endes in sich.

Auch in der Bibel werden die Grundlagen auf den ersten Seiten gelegt. Wer die Bibel verstehen will, muss das erste Buch Mose verstehen.

In der hebräischen Bibel leitet sich der Titel des Buches vom Anfangswort des Textes ab. Das Buch 1. Mose heißt daher „Im Anfang“. Auch die griechische Überschrift „Genesis“ bedeutet „Ursprung“, „Anfang“ oder „Geburt“. Das sind passende Bezeichnungen, denn in diesem Buch geht es tatsächlich um Anfänge: Der Anfang der Zeit, der Anfang des Universums, der Anfang der Menschheit, der Anfang der Sünde, der Anfang der Erlösung und der Anfang des Volkes Israels. Den Anfang eines Buches sollte man als Leser also nicht verpassen.

Keine Frage: Das Buch Genesis erzählt nicht alles, was in der abgedeckten Zeitspanne geschah. Als der Schreiber des Buches hätte Mose dem Volk Israel noch eine Reihe anderer Ereignisse hinterlassen können. Aber Gottes Souveränität beabsichtigte, dass die Geschichten, die in diesem Buch enthalten sind, dazu dienen, Gottes Volk heute noch das zu lehren, was Gott uns beibringen möchte. Was ist nun die bleibende Botschaft dieses ersten Buches der Bibel?

Wir beginnen die Beantwortung dieser Frage mit einem kurzen Überblick über den Inhalt des Buches. Welche Ereignisse wählte der vom Heiligen Geist inspirierte Verfasser aus, um seine Botschaft zu vermitteln?

1. Der Inhalt des Buches

Die christliche Bibel unterteilt das Buch in 50 Kapitel, die größtenteils aus spannend berichteten Erzählungen bestehen. Man denke da z.B. an das Leben von Jakob. Er täuscht seinem Vater Isaak vor, er sei Esau, um so an den Erstgeburtssegen zu kommen. Später täuschen seine eigenen Söhne den Tod seines Sohnes Josefs vor. Der Betrüger wird selbst zum Betrogenen. Es überrascht daher nicht, dass für viele Menschen Genesis einfach ein Durcheinander berühmter biblischer Personen ist wie Adam und Eva, Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Josef usw. Worum geht es aber in diesem Buch insgesamt?

Traditionell wird das Buch in zwei große Abschnitte unterteilt: Die Urgeschichte (1Mos 1,1-11,26) und die Erzvätergeschichte (1Mos 11,27-50,26).

  • Die Urgeschichte umfasst den jahrhundertelangen Zeitraum zwischen Schöpfung und Turmbau zu Babel. Die menschlichen Hauptakteure sind hier Adam und Noah. Schöpfung, Sündenfall, Brudermord, Sintflut und Turmbau zu Babel sind die bekannten Erzählungen, die an verschiedenen Stellen von Geschlechtsregistern unterbrochen werden.
  • Die Erzväter-Geschichte unterscheidet sich vom ersten Teil dadurch, dass sich die Geschichte verlangsamt und sich auf eine bestimmte Person und dessen Familie konzentriert: Abra(ha)m. Durch ihn will Gott die ganze Welt segnen. In kurzen Episoden werden hier Ereignisse aus dem Leben Abrahams, Isaaks und Jakobs berichtet. Der letzte Teil widmet sich dann einem der zwölf Söhne von Jakob: Josef.

Was aber hält alle diese Geschichten zusammen? Was ist das gemeinsame Thema dieser Erzählungen?

2. Das Thema des Buches

Gehen wir ein paar Schritte zurück, um ein Gesamtbild des Buches zu erhalten. Die dominierenden Personen des Buches, die alle Geschichten miteinander verbinden, sind Gott und die Menschheit. Die Erzählungen machen deutlich, was sowohl Gott als auch die Menschen charakterisiert und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Durch die verschiedenen Erzählungen hindurch wird dem Leser folgendes Verhältnis aufgezeigt:

  • Gott herrscht souverän über seine Schöpfung
  • Der Mensch rebelliert gegen Gottes Herrschaft
  • Gott ruft den Menschen aus seiner Verlorenheit

Hier erkennen wir bereits die Grundbotschaft der gesamten Bibel, die oft in drei Schritten erklärt wird: Schöpfung, Sündenfall und Erlösung. Oft bleibt unerkannt, dass diese drei Schritte bereits im ersten Buch der Bibel und insbesondere in den ersten drei Kapiteln des ersten Buches der Bibel vorgezeichnet sind. Genesis 1-3 sind ein Mikrokosmos – sowohl für das Buch als auch für die gesamte Bibel (siehe nebenstehende Grafik).

Müsste man den Inhalt des ersten Buches der Bibel in einem Satz zusammenfassen, könnte dieser Satz folgendermaßen lauten:

Gott verspricht den Menschen, die gegen ihren Schöpfer rebellierten, einen Retter, der den Fluch der Sünde, der durch Anstiftung des Satans über die Menschheit kam, besiegen wird.

Wie ziehen sich diese Linien durch das Buch und was sagen sie aus?

3. Die Botschaft des Buches

3.1. Gott herrscht souverän über seine gute Schöpfung

Die ersten zwei Kapitel sind sprachlich ein Meisterwerk. Die sieben Schöpfungstage werden sieben Mal mit „gut“ betitelt und von der Ruhe am siebten Tag gekrönt. Vor allem machen sie deutlich, dass Gott der Schöpfer von allem ist. Das Universum ist das Ergebnis eines bewussten Planes eines souveränen Gottes. Er sprach und es geschah (1,7.9.11.15.24.30). Aber es sagt noch mehr aus. Während in der Antike die Schöpfung oft als Ergebnis eines Kampfes zwischen Göttern angesehen wurde, zerstört Genesis 1 diese Mythen mit einem Schlag. Gott ist selbstexistent. Niemand hat ihn geschaffen und keiner ist ihm ebenbürtig. Alles ist ihm untertan und ihm gegenüber verantwortlich.

Gott der Schöpfer sucht die Beziehung zu seiner Schöpfung. Der Höhepunkt der Schöpfung ist der sechste Tag. Gott legt eine Pause ein und spricht zu sich selbst – etwas, das er in den Tagen vorher nicht gemacht hat:

Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen nach unserem Bild, uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde, auch über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht! (1Mos 1,26)

Bei der Erschaffung des Menschen hat Gott nicht nur ein Wort gesprochen, sondern sich selbst „die Hände schmutzig gemacht“: Er formte Adam aus der Erde (1Mos 2,7) und Eva aus der Rippe des Mannes (1Mos 2,21-23). In der Ebenbildlichkeit Gottes geschaffen zu sein, gibt dem Menschen sowohl seine Würde als auch seine Bestimmung. Es ist Gabe und Aufgabe zugleich. Der Mensch steht in der Verantwortung, als Ebenbild Gottes das Wesen Gottes widerzuspiegeln. Selbst nach dem Sündenfall bleibt die Gottesebenbildlichkeit des Menschen vorhanden (1Mos 9,6). Indem der Mensch schöpferisch tätig ist, spiegelt er auch das Wesen Gottes wider. Die Entwicklung von Gesellschaft, Kultur, Musik und Handwerk (1Mos 4,20-22) bringen zum Ausdruck, wie der Mensch sich die Erde immer mehr untertan macht und damit dem Schöpfungsauftrag nachkommt (1Mos 1,28) – wenn auch getrübt durch die Sünde.

Als Schöpfer hat Gott auch das Recht, zu beurteilen und zu verurteilen. Das tut er immer wieder: beim Ungehorsam von Adam und Eva, beim Brudermord von Kain, zur Zeit von Noah, beim Turmbau zu Babel. Er beurteilt nicht nur das menschliche Verhalten, sondern bestimmt das Urteil und führt es auch aus: Er verweist die ersten Menschen aus dem Paradies, zieht Kain zur Rechenschaft, schickt die Sintflut und bewirkt die Sprachverwirrung in Babel.

Der Schöpfer und Richter ist auch gleichzeitig Herrscher über alles. Immer wieder wird deutlich: Er lenkt die Geschichte der Menschheit. In der Erzvätergeschichte tritt die Souveränität Gottes vielleicht weniger dramatisch zu tage, aber dafür umso konkreter. Er wählt Abraham, nicht seinen Bruder Nahor. Er wählt Isaak, nicht seinen Bruder Ismael. Er wählt Jakob, nicht seinen Bruder Esau. Dieser souveräne Gott verbietet selbst dem heidnischen König Abimelech, seine Zuneigung gegenüber Abrahams Frau Sarah auszuleben (1Mos 20,6). Nicht zuletzt erleben wir Gottes Souveränität in den Details des Lebens von Joseph (1Mos 37-50).

In der Schöpfung, nach dem Sündenfall und auch bei der Sintflut wird deutlich, dass der Mensch Gott gegenüber verantwortlich ist. Die Aufgabe des Menschen ist es, eine verantwortungsvolle Beziehung zu Gott und zur Schöpfung zu gestalten. Die Beziehung zu Gott drückt sich in Gemeinschaft und Unterordnung aus, die Beziehung zur Schöpfung in Herrschaft und Dienst. Die Situation im Garten Eden stellte eine ideale Vision des menschlichen Lebens dar: die Menschheit in der Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen und zur Schöpfung. Dass wir heute in einer weit weniger idealen Welt leben, ist offensichtlich. Wie konnte es dazu kommen?

3.2. Der Mensch rebelliert gegen Gottes Herrschaft

Während es im ersten Kapitel des Buches heißt: Und Gott sah, dass es gut war, steht in 1Mos 6,5:

Als aber der Herr sah, dass die Bosheit des Menschen sehr groß war auf der Erde und alles Trachten der Gedanken seines Herzens allezeit nur böse…

Wie konnte es zu dieser niederschmetternden Bewertung der Menschheit kommen?

Kapitel 3 ist die Erklärung dafür, dass wir heute in einer Welt leben, die von menschlicher Bosheit, Krankheit, Naturkatastrophen und politisch-sozialen Zusammenbrüchen gekennzeichnet ist. Gott hat diese Welt sehr wohl gut erschaffen, aber durch bewussten Ungehorsam und Rebellion hat der Mensch sich gegen Gott gewendet. Dieses Kapitel macht deutlich, was es heißt, Sünder zu sein. Hier begegnen wir der Geschichte der ersten Sünde, als Adam und Eva die Frucht von dem einen Baum nahmen, der ihnen verboten war. Wir lesen von Eva, die törichterweise die Frucht betrachtet, mit der Schlange über Gottes Gebot diskutiert und über die Frucht nachdenkt, bis sie letztendlich davon isst. Adam kommt seiner Verantwortung, seine Frau zu beschützen und zu führen, nicht nach und probiert ebenfalls von der Frucht. Die Folge ist:

Da verbannte Gott der HERR ihn aus dem Garten Eden, um den Boden zu bearbeiten, von dem er genommen worden war (1Mos 3,23).

Mit dem Übertreten der Gebote Gottes bringen die ersten Menschen zum Ausdruck, dass sie selbst Herrscher sein wollen. Sie beanspruchen für sich den Platz, der für Gott vorgesehen ist. Sie meinen, besser zu wissen, was gut für sie ist.

Geschickt stellt die Schlange Gottes Charakter infrage: Sollte Gott wirklich die Wahrheit gesagt haben? Sollte er es wirklich gut gemeint haben? Als Adam und Eva diese Gedanken zulassen, beginnen sie, der Güte Gottes zu misstrauen.

Die Folgen ihres Misstrauens, ihres Anspruchsdenken und ihres Ungehorsams gegenüber Gott sind für alle Beteiligten katastrophal:

  • Die Schlange wird verflucht und muss fortan auf den Boden kriechen und Staub fressen (1Mos 3,14).
  • Eva, die zur gemeinsamen Herrschaft über die Schöpfung geschaffen wurde, wird als Konkurrentin und Gegnerin wahrgenommen. Kindergebären ist fortan mit Schmerzen verbunden (1Mos 3,16).
  • Der Erdboden wird verflucht, sodass der Mensch nur unter Kraftanstrengung seinen Nutzen aus ihm ziehen kann (1Mos 3,17-18) und schließlich muss der Mensch, der aus dem Staub gemacht ist, wieder zum Staub zurückkehren (1Mos 3,19).
  • Letztendlich werden Adam und Eva aus dem Garten Eden und damit auch aus der göttlichen Gegenwart verbannt (1Mos 3,23.24).

Auf den ersten Blick scheinen die folgenden Kapitel 4-11 eine lose Ansammlung von skurrilen Geschichten zu sein. Ein genaues Studium macht jedoch deutlich: Das moralische Versagen der Menschheit wird immer schlimmer. Eine Erzählung nach der anderen schildert eindrucksvoll die Auswirkungen der Sünde und ihre Folgen. Kapitel 4 beschreibt den ersten Mord, einen Brudermord, und die Rachsucht eines Nachkommens des Mördes Kain, nämlich Lamech (1Mos 4,23.24).

Im sechsten Kapitel ist dann das Maß der Gewalt und des Blutvergießen so voll, dass Gott beschließt:

Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, vom Menschen an bis zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln des Himmels; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe! (1Mos 6,7)

Die Sintflut ist das göttliche Gericht über die Boshaftigkeit des Menschen. Allerdings ist die Welt nach der Sintflut nicht eine andere als vorher. Immer noch gilt: Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an (1Mos 8,21). Die Geschichte vom Turmbau zu Babel verdeutlich das auf eindrückliche Weise (1Mos 11). Der Bau ist die Wiederholung der menschlichen Rebellion, nämlich der Versuch des Menschen, Gott zu sein. Die Menschen, ihre Fähigkeiten und ihre Errungenschaften sind durch und durch von der Sünde beeinträchtigt.

Die makellose Schöpfung wurde mit dem Sündenfall zu einer Quelle des Schmerzes. Am Ende der Urgeschichte steht der Leser vor der Frage, ob es eine Lösung für das menschliche Problem gibt. Was ist die göttliche Antwort auf die menschliche Rebellion?

3.3. Gott ruft den Menschen aus seiner Verlorenheit

Schon in den ersten Augenblicken nach der Rebellion der Menschheit wird Gottes Gnade sichtbar. Nach der Sünde von Adam und Eva ist es Gott, der die Menschen sucht, obwohl sie sich verstecken (1Mos 3,8.9). Gott stellt ihnen bohrende Fragen (1Mos 3,10-19), kümmert sich aber auch ganz praktisch um ihre Bedürfnisse und bekleidet den Menschen (1Mos 3,21). Die Strafe für Sünde ist der Tod, aber der physische Tod ist hinausgeschoben. Selbst die Verbannung aus dem Garten Eden stellt ein gnädiges Handeln Gottes dar. Anderenfalls hätte der Mensch Zugang zum Baum des Lebens gehabt und müsste ewig in seinem sündigen Zustand verharren (1Mos 3,22).

Aber Gottes Gnade führte nicht nur zu einem Aufschub der Bestrafung, sondern auch zu einer Heilsstrategie. Der Fluch über die Schlange enthält bereits das erste Zeichen der Hoffnung für die Menschheit und die Schöpfung. Indem Gott die Schlange verflucht, schränkt er die Macht des Bösen ein und garantiert ihren endgültigen Untergang:

Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen: Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen (1Mos 3,15).

Schon früh bezeichneten Bibelausleger diesen Vers als die „Mutter aller Verheißungen“ oder als das sogenannte Protevangelion („erstes Evangelium“). Hier wird angekündigt, dass ein Konflikt zwischen dem Nachkommen der Frau und der Schlange schließlich zum Untergang der Schlange, Satan, führen wird. Da die Rettung durch den verheißenen Nachkommen der Frau kommen würde, ist der Stammbaum im gesamten Buch von großer Wichtigkeit. Die vielen Geschlechtsregister machen deutlich, dass der verheißene Same noch aussteht.

Gottes Gnade durchzieht dann auch die weiteren Ereignisse im Buch. So endet die Geschichte Kains nicht damit, dass Kain verzweifelt ein Leben in der Abgeschiedenheit führen muss. Gott erlaubt ihm, eine Familie zu gründen und versieht ihn mit einem Zeichen, damit klar wird, dass er immer noch unter dem Schutz steht (1Mos 4,5). Auch das ist ein Ausdruck von Gottes Güte.

Auch nach der Sintflut sehen wir das. Das menschliche Herz ist nach wie vor dasselbe. Und dennoch garantiert Gott den Fortbestand der ganzen Schöpfung (1Mos 9,19-27). Man kann hier von einer „erhaltenden Gnade“ sprechen. Das Ziel der erhaltenden Gnade ist die Bewahrung, bis im verheißenen Nachkommen die „rettende Gnade“ kommen würde.

Aber am Ende der Urgeschichte steht die Menschheit immer noch vor ihrem Problem, das sie selbst nicht lösen kann. Gott jedoch kann dieses Problem lösen. Und so ergreift er die Initiative, indem er Abraham beruft. In Genesis 1,1 ruft Gott das Universum durch die Kraft seines Wortes ins Leben; in Genesis 12,1 ruft Gott durch die Kraft seines Wortes ein besonderes Volk ins Leben und konkretisiert seine Verheißung des Segens, des Nachkommens und des Landes. Kapitel 12,1–3 ist einer der wichtigsten Abschnitte der gesamten Bibel, denn er beschreibt den göttlichen Plan für die Welt:

Der HERR aber hatte zu Abram gesprochen: Geh hinaus aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde! Und ich will dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf der Erde!

Diese Verse funktionieren wie ein Scharnier, das die zwei Buchteile miteinander verbindet. Die Verbindungen im Buch sind folgende:

  • Die Verheißung des Landes: Landlosigkeit ist ein zentrales Motiv in den vorherigen Kapiteln (1Mos 3,24; 4,14-16; 6-9; 11,1-6). Abram gehorcht dem Ruf Gottes und zieht in das unbekannte Land. Indem er Altäre baut, beansprucht er das Land für Gott (1Mos 12,7). Den Rest seines Lebens wandert er, ebenso wie seine Nachkommen, durch das Land, bauen Altäre oder graben Brunnen (1Mos 12,8.9; 13,4.18; 22,9; 26,13-25; 28,16-22; 35,6-15; 46,1.2). Ironischerweise sind die einzigen Ländereien, die die Erzväter kaufen, Grabgrundstücke (1Mos 23,1-20; 50,7-16). Die letzten Worte des Buches machen jedoch die Sehnsucht nach der Erfüllung der Landverheißung deutlich, indem sowohl Jakob als auch Joseph anordnen, dass ihre zukünftigen Bestattungen in Kanaan stattfinden sollen (1Mos 49,28-33; 50,25).
  • Die Verheißung des Nachkommens: Angesichts des Alters von Abram und der Unfruchtbarkeit seiner Frau (1Mos 11,30) scheint dieses Versprechen etwas grotesk. Das Versprechen, dass Abram eine große Nation werden würde, wird aber bereits in Genesis durch die Geburt Isaaks und das stetige Wachstum der Familie von Isaak über Jakob bis hin zu Jakobs Enkeln teilweise erfüllt.
  • Die Verheißung des großen Namens: Ein großer Name bedeutet Ehre und ein bleibendes Erbe. Das ist es, was die Erbauer des Turmes von Babel beabsichtigen (1Mos 11,4), aber kläglich scheitern. Sowohl Abraham (1Mos 17,1-7) als auch seine Frau Sara (1Mos 17,15-16) werden vor der Geburt ihres ersten Kindes umbenannt, um auf die zahlreichen Nachkommen hinzuweisen (1Mos 17,1-7). Der Name ihres Kindes, Isaak („Lachen“) ist bedeutsam, weil er von der unglaublichen Macht Gottes zeugt (vgl. 17,17; 18,12). In einer dramatischen Begegnung mit Gott wird auch Isaaks Sohn Jakob („Fersenhalter“) in Israel („Kämpfer mit Gott“) umbenannt und verleiht damit dem Volk Israel seinen Namen.
  • Die Verheißung des Segens und des Fluches: Damit ist angekündigt, dass der Konflikt zwischen dem Nachkommen der Frau und der Schlange (1Mos 3,15) weitergehen wird. Und genauso kommt es auch. Die Haltung anderer gegenüber Abraham bestimmt ihre Erfahrung von Segen und Fluch. Dies geschieht als Lot und seine Familie aus der Gefangenschaft der mesopotamischen Könige (1Mos 14) und aus der bösen Stadt Sodom (1Mos 19) gerettet werden. Auch andere werden gesegnet oder verflucht, je nachdem wie sie sich zu Abraham und seinem Nachkommen stellen (12,9-20; 20,1-8; 21,22-34; 29-31; 34).
  • Die Verheißung des Segens für alle Völker: In den vorherigen Kapiteln (1Mos 1-11) steht die Welt unter einem universellen Fluch. Das will Gott durch Abraham ändern. Fünfmal wird in 1Mos 12,1-3 das Wort „Segen“ verwendet, um es der fünffachen Nennung des Wortes „Fluch“ in der Urgeschichte entgegenzustellen. Diese Verheißung wird erneut bekräftigt, nachdem Abraham bereit ist, seinen einzigen Sohn zu opfern (1Mos 22,18; vgl. 26,4). Josef ist es, dessen Weisheit die Welt buchstäblich vor dem weltweiten Hungertod rettet. In Kapitel 47 sehen wir einen müden alten Jakob, der vor dem majestätischen Pharao von Ägypten steht und einen Segen für diesen verkündet (1Mos 47,7-10). Dieses widersprüchliche Bild zeigt ironischerweise, wer der wahre Segensträger ist (nicht der Pharao, sondern Jakob). Das Buch endet mit einer langen Rede Jakobs, die die Konkretisierung dieser Verheißung beinhaltet, nämlich, dass jemand aus dem Stamm Juda über die Völker herrschen wird (1Mos 48,8-10).

Das erste Buch als Grundstein für die gesamte Bibel

Gottes Erlösungsprogramm nimmt in der Erzvätergeschichte immer mehr Gestalt an. Das Buch Genesis ist Gottes Errettungsprogramm. Nicht Menschen sind hier die Helden. Immer wieder wird deutlich: Gottes auserwählte Werkzeuge versagen ebenfalls. Auch Abrahams Glaube erlebt Zweifel (vgl. 1Mos 12,10-20). Es ist Gott, der nicht nur einen Heilsplan entworfen hat, sondern auch dafür sorgt, dass die Verheißung bestehen bleibt.

So legt das erste Buch der Bibel den Grundstein für ein richtiges Verständnis der gesamten Heiligen Schrift. Um einen guten Überblick über die grundlegenden biblischen Lehren wie Sünde, Gericht, Erlösung oder den Charakter Gottes zu bekommen, müssen wir mit dem ersten Buch der Bibel beginnen. Viele dieser Lehren finden sich hier bereits als Keim und entfalten sich dann im Laufe der Geschichte Gottes mit der Menschheit.

So lesen wir im letzten Kapitel des Buches: Ihr gedachtet es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen (1Mos 50,20). In diesem Vers wird die Geschichte von Genesis und gewissermaßen die Botschaft der ganzen Bibel zusammengefasst. Der springende Punkt ist, dass Gott das Böse der Menschen gebrauchte (den Verkauf von Josef als Sklave), um das Gute zu bewirken (die Rettung des ganzen Volkes).

Mehr noch: Das Buch Genesis weist auch auf das zentrale Ereignis der Heiligen Schrift hin: Das Leben, der Tod und die Auferstehung Christi werden bereits durch den verheißenen Nachkommen der Frau angekündigt (1Mos 3,15). Und darüber hinaus bezieht sich das Neue Testament immer wieder auf das erste Buch der Bibel bzw. spielt darauf an. Viele Personen aus der Ur- und Erzväterzeit werden in Hebräer 11 als Glaubenshelden vorgestellt. Die Bewahrung Noahs in der Sintflut wird ausdrücklich mit der Bewahrung von Gottes Volk bei der Gerichtsverkündung verbunden (Mt 24,36-44). Aber einen der bedeutendsten Bezüge zum ersten Buch finden wir in Römer 5. Paulus stellt hier Jesus als den zweiten Adam dem ersten Adam aus dem Garten Eden gegenüber. Anders als der erste Adam (und alle seine Nachkommen), die Böses gedachten, bewirkte Jesus das Gute, indem er uns durch Kreuz und Auferstehung das Leben schenkte:

Also: wie nun durch die Übertretung des Einen die Verurteilung für alle Menschen kam, so kommt auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung, die Leben gibt. Denn gleichwie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern gemacht worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht (Röm 5,18–19).

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Boris Giesbrecht ist Studienleiter der Akademie für Reformatorische Theologie, wo er im Bereich der Biblischen und Praktischen Theologie lehrt. Gemeinsam mit seiner Frau Maria und den drei Kindern gehört er zur Bekennenden Ev.-Ref. Gemeinde in Gießen.

[1] Der Autor hat beim Verfassen dieses Artikels auf folgende Werke zurückgegriffen:
Currid, John D.: „Genesis“. In: A Biblical-Theological Introduction to the Old Testament: The Gospel Promised. Hrsg.: Miles V.  Van Pelt. Wheaton, IL [Crossway] 2016, S. 43-66.
Dempster, Stephen G.: „Genesis“. In: What the Old Testament Authors Really Cared about: A Survey of Jesus’ Bible. Hrsg.: Jason S. DeRouchie. Grand Rapids, MI [Kregel Academic] 2013, S. 61-78.
Dever, Mark: The Message of the Old Testament: Promises Made. Wheaton, IL [Crossway] 2006, S. 45-59. Longman III, Tremper: How to read Genesis. Westmont, IL [IVP Academic] 2005.