Der vorliegende Artikel greift einen Abschnitt aus der Berliner Erklärung auf. Die Berliner Erklärung ist eine im Jahr 1909 entstandene Bekenntnisschrift, die sich gegen die damals in evangelische Kreise in Deutschland eingebrochene Pfingstbewegung wendete. Auch nach über 100 Jahren ist dieses Dokument noch hochaktuell, nicht nur, weil sich im Lauf der Zeit zahlreiche pfingstlerisch oder charismatisch orientierte Gemeinden gebildet haben, denen man als reformatorischer Christ argumentativ begegnen muss. Die Berliner Erklärung setzt nicht da an, wo es zu spät ist, sondern sie benennt auch deutlich die Irrtümer und Irrlehren, die schon lange in der Gemeinde gewachsen waren und der eigentlichen Pfingstbewegung erst den Boden bereitet hatten.
Der Nährboden der Irrlehre
Es ist wohl Teil der menschlichen Arroganz, die aus dem Sündenfall herrührt, dass man sich stets klüger und fähiger dünkt als andere Menschen, insbesondere als frühere Generationen. Dies gilt in Politik und Gesellschaft ebenso wie in der Kirchengeschichte. Entsetzt blicken wir zum Beispiel auf die Berichte des Alten Testaments vom erst schleichenden, dann rasanten Glaubensabfall Israels und dem folgenden Gericht. Kopfschüttelnd nehmen wir das Aufkommen von Irrlehren in der neutestamentlichen Kirche und die Folgen zur Kenntnis und fragen uns, wie das nur passieren konnte. Gleichzeitig versichern wir einander, dass wir daraus gelernt hätten, dass wir es heute besser wüssten und sich so etwas in unserer Zeit nie wiederholen werde. Indes bleiben leise Zweifel, und das zu Recht.
Der Wert einer guten Bekenntnisschrift bemisst sich unter anderem an ihrer zeitlosen Gültigkeit. Auch wenn es einen konkreten historischen Anlass gegeben haben mag, das Dokument zu verfassen, wie im Fall der Berliner Erklärung, so spricht sie doch die ewigen Wahrheiten der Heiligen Schrift aus und geht auf Fragen ein, die sich dem Volk Gottes zu allen Zeiten stellen. Wenn die Autoren der Berliner Erklärung sehr selbstkritisch bestimmte Defizite in der Gemeinde beklagen, so halten sie auch uns Heutigen den Spiegel vor: „Der Mangel an biblischer Erkenntnis und Gründung, an heiligem Ernst und Wachsamkeit, eine oberflächliche Auffassung von Sünde und Gnade, von Bekehrung und Wiedergeburt, eine willkürliche Auslegung der Bibel, die Lust an neuen aufregenden Erscheinungen, die Neigung zu Übertreibungen, vor allem aber auch Selbstüberhebung […]“ (Berliner Erklärung, Artikel 3).
Niemand wird behaupten wollen, dass sich diese Fehler nur zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in der Kirche fanden. Sie begleiten die Kirche seit jeher und bis heute. Schon der Prophet Hosea hat das Thema angesprochen: Mein Volk geht zugrunde aus Mangel an Erkenntnis; denn du hast die Erkenntnis verworfen, darum will ich auch dich verwerfen (Hos. 4,6).
Dem Volk Gottes fehlt es nicht an neuen, aufregenden Erscheinungen, Übertreibungen oder Spektakeln, sondern an schlichter Erkenntnis, an gesunder Unterweisung aus dem Wort Gottes. In dieser Gefahr stehen wir alle.
Ertappen Sie sich manchmal dabei, dass Sie eine solide reformatorische Predigt gering achten, weil es ihr an neuen, aufregenden Auslegungen fehlte? Unsere Undankbarkeit verführt uns zu dem bösen Irrtum, wir hätten inzwischen genug Erkenntnis erworben und könnten uns nun auch einmal fortgeschrittenen, mehr spekulativen „geistlichen“ Themen zuwenden.
Wie die Berliner Erklärung bezeugt, war genau das die Rutschbahn hinab in die Verirrungen des Pfingstlertums. Die charismatischen Ideen konnten in einem geistlichen Umfeld gedeihen, das sich nicht länger nur an der schlichten Erkenntnis Gottes, des Menschen und der wunderbaren Heilstat Christi aufhalten wollte. Dabei war offenbar gerade die Selbsterkenntnis in der Gemeinde alles andere als fest verankert. Wie sonst lässt sich insbesondere das Aufkommen der Lehre vom so genannten reinen Herzen erklären, mit der sich die Berliner Erklärung im Artikel 4 ausführlich auseinandersetzen muss?
Die Irrlehre vom reinen Herzen
Der genannte Artikel liefert uns eine Definition dieser Irrlehre: „Es handelt sich dabei um den Irrtum, als sei die ‚innewohnende Sünde‘ in einem begnadigten und geheiligten Christen ausgerottet. […] die Irrlehre, dass das Herz in sich einen Zustand der Sündlosigkeit erreichen könne“ (Berliner Erklärung, Artikel 4).
Die Irrlehre lautet also: Jeder Christ sei in der Lage, ohne Sünde zu leben. Mehr noch: Nicht nur soll er fähig sein, keine tatsächlichen Sünden mehr zu begehen, sondern die Sünde als Wesensmerkmal der gefallenen menschlichen Natur könne im Menschen ganz ausgerottet werden. Über den genauen Verlauf dieses Fortschritts wird nichts Genaueres gesagt. Aber im Grunde sei das so erlangte reine Herz ein Kennzeichen der Errettung. Zum Beispiel kann man hierzu einen Ausspruch des Herrn Jesus Christus aus der Bergpredigt anführen: Glückselig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen! (Mt. 5,8)
Wer reinen Herzens ist, wird Gott schauen. Das heißt im Umkehrschluss, dass alle, die kein reines Herz haben, Gott nicht schauen werden: Wenn dein Herz nicht rein ist, wenn die Sünde noch in dir wohnt, wenn du nicht genügend in deiner Heiligung vorangekommen bist, dann gehst du verloren. Die Berliner Erklärung nennt diese Irrlehre nicht nur beim Namen, sondern sie weist gleichzeitig auf die Gefahr hin, die von ihr ausgeht. Die konkrete Gefahr besteht darin, dass diese Lehre zu einer „Unaufrichtigkeit gegenüber der eigenen Sünde“ führt. Auch dabei können sich die Irrlehrer vermeintlich auf die Heilige Schrift berufen: Wer in Ihm [d. i. Christus] bleibt, sündigt nicht; wer sündigt, hat Ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Kindlein, niemand verführe euch! Wer die Gerechtigkeit übt, der ist gerecht, gleichwie er gerecht ist. Wer die Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an (1Joh. 3,6.7).
Allerdings redet der Apostel Johannes an dieser Stelle gar nicht von der Sündernatur oder konkreten Sündentaten, sondern er spricht von Menschen, die ohne Christus unter der dauerhaften Herrschaft der Sünde bleiben. Die Irrlehrer sehen das anders: Wer sich mit seiner Sünde und ihren Folgen konfrontiert sieht, der habe Christus nicht erkannt, was mit anderen Worten heißt, er sei nicht gerettet.
Was ist die Konsequenz eines solchen Glaubens? Wenn sich jemand einer groben Sünde bewusst wird, weil ihn zum Beispiel das Wort Gottes überführt hat, kann er nicht einfach diese Sünde vor Gott bekennen und Vergebung bei Christus suchen. Entweder stürzt dieser Mensch in eine Glaubenskrise, weil er sich aufgrund eines falschen Verständnisses der obigen Verse aus dem ersten Johannesbrief für nicht errettet halten muss. Oder – und das spricht die Berliner Erklärung an – er leugnet die Sünde, da sie nicht mit seinem Verständnis von Errettetsein vereinbar sein kann. Dieser Gedanke muss früher oder später kommen, sei es durch die falsche Deutung biblischer Aussagen oder durch falsche Anwendung auf die eigene Person oder aber durch den von außen aufgebauten Druck, in der heiligen Gemeinde nicht der einzige Sünder sein zu dürfen.
Diesen Druck wollen wir nicht unterschätzen. Das ist wahrscheinlich ganz typisch für solche Gemeinden, in denen man in falscher Weise an das reine Herz glaubt. Die Glieder stehen unter dem ungeheuren Druck, nicht etwa nicht zu sündigen (denn einen solchen Wunsch hat in der Tat jeder Christ), sondern die tatsächlich begangenen, die unausbleiblichen Sünden einerseits vor den anderen zu verbergen und andererseits gegenüber sich selbst kleinzureden. Und das führt zu dem Verhalten, das die Berliner Erklärung als „Unaufrichtigkeit gegenüber der eigenen Sünde“ und „Unfähigkeit, einen Irrtum zuzugeben, geschweige denn zu bekennen“ anprangert. Denn damit wird derselbe Apostel Johannes ignoriert, der vorhin noch als Kronzeuge für das reine Herz herhalten musste. Er schreibt nämlich wenige Verse vorher: Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns (1Joh. 1,8).
Es ist verführerisch, die Sünde zu leugnen. Wie erhebend ist es, sich in einer Gemeinde von fleischlich Reinen und Heiligen zu wähnen. Die Wahrheit aber ist das nicht, sondern eine furchtbare Verblendung und Verleugnung der Wahrheit, die nicht folgenlos bleibt. Denn damit die falsche Lehre nicht an der alltäglichen Realität zerschellt, kommen neue Menschensatzungen ins Spiel. Der Abschnitt in der Berliner Erklärung nennt beispielhaft ein irriges Verständnis der Ehe. Schritt für Schritt werden die Gläubigen so unter ein neues Joch von Regeln und Gesetzen zurückgeführt, während doch in Wirklichkeit Christus das Gesetz für uns erfüllt und uns aus der Knechtschaft befreit hat.
Durch den Irrglauben an eine eigene Sündlosigkeit macht der Mensch sich letztlich zum Urheber oder wenigstens zum Vollender seiner Erlösung. Dagegen wird der Blick für den wahren und einzigen Urheber und Vollender unseres Heils, Jesus Christus, getrübt. Das Ganze läuft darauf hinaus, dass der fortgeschrittene Christ seinen Heiland nicht mehr in dem Sinn zu brauchen meint, wie es die Bibel lehrt. Vielmehr vervollkommnet er sich täglich – einem Buddhisten nicht unähnlich – auf dem Weg zur Sündlosigkeit und damit zum reinen Herzen, das Gott gefällt.
Dies alles ist, wie die Berliner Erklärung feststellt, sowohl „verhängnisvoll“ als auch „für die sogenannte Pfingstbewegung förderlich“. Verhängnisvoll deshalb, weil die Gemeinde von ihrer beständigen Lebensquelle, Christus, der sich in seinem Wort offenbart, abgezogen und auf sich selbst sowie auf die eigenen Werke geworfen wird. Förderlich für die Pfingstbewegung deshalb, weil unter anderem dadurch der Boden für die begeisterte Aufnahme der vermeintlichen Wunder und Machtbezeugungen und Weissagungen bereitet wird, die Ausdruck eines besonderen Segens durch den Heiligen Geist sein sollen, über deren wahrscheinlichere Urheber wir an dieser Stelle aber schweigen wollen.
Der biblische Begriff des reinen Herzens
Irrlehren haben es immer leichter, wenn sie an bekannte Begriffe aus Bibel und Bekenntnis anschließen und diese umdeuten können. So verhält es sich auch bei dem Begriff des reinen Herzens, der ein durchaus biblischer ist, wie wir oben bereits anhand eines Verses aus der Bergpredigt gesehen haben. Wer will es schon wagen, gegen biblische Begriffe zu argumentieren? Die Frage ist aber, was die Bibel meint, wenn sie vom reinen Herzen spricht. Was meint David, wenn er Gott in Psalm 51 bittet, ihm ein reines Herz zu schaffen? Was meint Christus, wenn er diejenigen selig preist, die reinen Herzens sind? Meint die Bibel hier wirklich eine Hinwegnahme der Sündernatur in diesem Leib und Leben?
In der Apostelgeschichte lesen wir von einer Diskussion unter den Aposteln darüber, wie man mit den Gläubigen aus den Heidenvölkern umgehen solle. Dort spricht Petrus: Und Gott, der die Herzen kennt, legte für sie [d. i. die Heiden] Zeugnis ab, indem er ihnen den Heiligen Geist gab gleichwie uns; und er machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen, nachdem er ihre Herzen durch den Glauben gereinigt hatte. Weshalb versucht ihr denn jetzt Gott, indem ihr ein Joch auf den Nacken der Jünger legt, das weder unsere Väter noch wir tragen konnten? Vielmehr glauben wir, dass wir durch die Gnade des Herrn Jesus Christus gerettet werden, auf gleiche Weise wie jene (Apg. 15,8–11).
Die Herzen der Gläubigen aus den Heiden sind bereits gereinigt, nämlich durch den Glauben an Christus. Wir werden nicht gerettet aufgrund einer Selbstheiligung, sondern durch die Gnade des Herrn Jesus Christus. Das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde (1Joh. 1,7). Es ist diese Reinigung von der Schuld der Sünde: Das versteht die Bibel unter einem reinen Herzen.
Darum spricht die Berliner Erklärung im Artikel 4 zu Recht davon, dass der Gläubige in Christus ein fleckenlos gereinigtes Herz empfängt. Nicht unsere Natur wird verändert, sondern wir werden durch Glauben so mit Christus vereinigt, dass wir an seinem reinen Herzen Anteil bekommen. Und darum brauchen wir Christus. Darum müssen wir immer wieder im Glauben bei ihm Zuflucht nehmen, gerade wenn uns unsere Sünden bewusst werden! Dann wollen wir uns nicht selbst und gegenseitig verführen, indem wir die Sünde leugnen oder die Kriterien für Sünde abändern. Wir wollen auch nicht die Sünde in uns hineinfressen und darauf hoffen, dass wir irgendwann stark genug sind, sie zu überwinden. Vielmehr wollen wir sie nehmen in vollem Bewusstsein, wie furchtbar sie ist, wie schrecklich, wie empörend gegenüber Gott, und damit zu Christus eilen und bei ihm Vergebung finden.
Das ist der Weg, mit der Sünde umzugehen, die uns in diesem Leben niemals verlassen wird. Auch wenn wir einmal keine unmittelbare Tat, keinen konkreten Gedanken als Sünde wahrnehmen, müssen wir mit dem Apostel Paulus sagen: Ich bin mir selbst nichts bewusst, aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt (1Kor. 4,4). Gerechtfertigt werden wir durch den Glauben an das Blut Christi.
Das reine Herz ist die Gewissheit des Glaubenden, dass alle seine Sünden vom Blut Christi bedeckt sind. Es ist die Erleichterung darüber, ohne eigene Werke und allein um Christi willen von Gott gerechtfertigt und angenommen zu sein. Es ist die Freude darüber, durch Glauben vollen Anteil an Christus und aller seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit zu haben. Es ist der aufrichtige Wunsch und Wille, Christus zu danken und fortan für ihn zu leben. Es ist auch die lebendige Hoffnung, nach diesem Leben in einem wirklich erneuerten und verherrlichten Leib Gott in voller Klarheit schauen und dienen zu dürfen! Solus Christus – allein Christus. Wer ein reines Herz sucht, der findet es nur bei ihm.