Die Lehre von der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi beantwortet die Frage, auf welche Weise Gott uns annimmt, um Teilhaber seines Reiches zu sein. Sie beantwortet die Frage: Wie kann Gott gerecht sein und dennoch Sünder annehmen?
Es geht hierbei um die biblische Lehre, die besagt, dass Gott Menschen, anstatt ihnen ihre Sünde anzurechnen und sie entsprechend zu bestrafen, ihnen die Gerechtigkeit Christi anrechnet, sie also entsprechend dieser fremden Gerechtigkeit behandelt.
Es scheint mir, dass kaum eine andere Lehre so ausführlich und deutlich in der Bibel gelehrt wird wie diese. Dennoch war sie im Lauf der Kirchengeschichte immer wieder umstritten.
Nachdem Paulus die hartnäckigen Judaisten seiner Zeit widerlegt hatte, war es vor allem die römisch-katholische Kirche, die massiv von der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre abwich zugunsten ihrer Bußtheologie. Gott ließ durch die Reformatoren die biblische Wahrheit wieder aufleuchten.
Es ist eine Tragik, dass heute ausgerechnet in bestimmten liberalen theologischen Kreisen vieles davon wieder vernebelt und verfälscht wird.
James Dunn, N.T. Wright, Steve Chalke und andere vertreten die Auffassung, Paulus sei von den Reformatoren nicht richtig verstanden worden. Sie wollen eine neue Sicht („Perspektive“) der paulinischen Rechtfertigungslehre aufzeigen. Vieles, was diese Männer geschrieben haben, stützt sich nicht wirklich auf eine gründliche Lektüre der biblischen Bücher, sondern auf ihre eigene Interpretation der geschichtlichen Zusammenhänge in der Zeit des Paulus.
Die Vertreter der so genannten Neuen Perspektive auf Paulus (New Perspective on Paul, kurz: NPP) suchen vor allem die Lehre von der Stellvertretung Christi anzugreifen und zu widerlegen. Darum möchte ich versuchen, die biblische Begründung für diese Lehre hier vorzutragen.
Der erste Adam
Um zu verstehen, was Christus für uns ist, müssen wir zuerst sehen, was Adam für uns war. Gott schuf Adam nicht nur als ersten Menschen, sondern als Haupt, als Repräsentanten der Menschheit. Adam hatte damit den Auftrag, als Gottes Ebenbild die Herrlichkeit Gottes zu manifestieren. Alle, die von Adam abstammen, sollten diese Ebenbildlichkeit tragen und die Herrlichkeit bezeugen. Adam sollte vollkommen gerecht und heilig sein. Genauso sollte es auch bei allen seinen Nachkommen sein.
Bekanntlich erfüllte Adam, unser Haupt und Repräsentant, diesen Auftrag nicht. Er wurde Gott ungehorsam und verlor nicht nur selbst seine gute Stellung vor Gott, sondern zog seine ganze Nachkommenschaft in die Sünde hinein und geriet unter den Fluch Gottes. In Adam wurde die ganze Menschheit verdorben: „Darum, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod, so ist auch der Tod zu allen Menschen durchgedrungen.“ (Röm. 5,12).
Dieser Tod zeigt sich seitdem im Getrenntsein von dem Ursprung des Lebens, von Gott: „Auch euch hat er auferweckt, die ihr tot wart in euren Vergehungen und Sünden.“ (Eph. 2,1). Totsein bedeutet auch ein Gebundensein an die Sünde und eine völlige Unfähigkeit, etwas hervorzubringen, das Gott angenehm ist, das geistlich gut ist.
Der Tod Adams und seine Gebundenheit an die Sünde brachte diesen Fluch über die gesamte Menschheit. Das Zeugnis hiervon sehen wir bereits bei seinen ersten Nachkommen und dann bei allen, die gefolgt sind: „Und der Herr sah, dass die Bosheit des Menschen auf der Erde groß war und alles Sinnen der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag.“ (1Mos. 6,5). „Die Erde aber war verdorben vor Gott, und die Erde war erfüllt mit Gewalttat. Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verdorben; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verdorben auf Erden.“ (1Mos. 6,11.12). „Das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an.“ (1Mos. 8,21).
Der Apostel Paulus verkündet folgendes Urteil Gottes über die Sünder: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer;
da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der Gott sucht.
Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner, der Gutes tut, da ist auch nicht einer.“ (Röm. 3,10-12). „…Denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes.“ (Röm. 3,23). Dies ist das abschließende Urteil der Heiligen Schrift über die gesamte Menschheit: Adam, unser Haupt, brachte die Sünde und damit den Tod sowie die totale Verdorbenheit in die Menschheit. Alle Menschen hängen untrennbar an Adam. Es gibt keine Möglichkeit von menschlicher Seite, etwas zu reparieren. Die einzige Möglichkeit zur Veränderung/Aufhebung dieser Misere liegt bei Gott. Er hat das auch getan. Durch die Sintflut hat er bildhaft gezeigt, wie das geschehen muss: Der alte Adam, die alte Menschheit, muss vernichtet werden und ein neuer Adam, eine neue Menschheit, muss geschaffen werden.
Der zweite Adam
Dieser neue („letzte“) Adam ist Christus. Gott der Sohn wurde Mensch. Er wurde der neue Adam und das Haupt und der Repräsentant der neuen Menschheit. Der Apostel Paulus schreibt über ihn: „Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung.
Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen;
und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn.
Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe.“ (Kol. 1,15-18).
Dieser neue Adam ist unendlich besser als der erste. Wie der erste Adam wurde auch Christus versucht. Aber er versagte nicht. Es gab keinen zweiten Sündenfall: „der in allem in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde.“ (Hebr. 4,15); „…der keine Sünde getan hat, auch ist kein Trug in seinem Mund gefunden worden.“ (1Pet. 2,22). Christus, der zweite Adam, ist
vollkommen gerecht und heilig: „heilig, sündlos, unbefleckt, abgesondert von den Sündern und höher als die Himmel.“ (Hebr. 7,26). So ist Christus das zweite Haupt, das Haupt der neuen Menschheit.
Jetzt gibt es aber neben seiner göttlichen Heiligkeit und Sündlosigkeit einen weiteren gravierenden Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Adam: Der zweite Adam gebiert sein Volk, seine Nachkommenschaft nicht durch menschliche Zeugung. Wie kommt er dann zu Kindern? Antwort: durch Adoption. Die neue Menschheit besteht aus adoptierten Söhnen: „…wie er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe und uns vorherbestimmt hat zur Sohnschaft [!] durch Jesus Christus für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens.“
(Eph. 1,4.5).
Man wird nicht Nachkomme des letzten Adam durch natürliche Fortpflanzung, sondern dadurch, dass man von dem himmlischen Vater in diese Familie hineingenommen wird. Wir sind nicht von Natur aus Söhne Gottes, sondern wir werden durch göttliches Recht zu solchen erklärt und empfangen dadurch die volle (Erb)berechtigung echter Nachkommen.
Dieses Recht musste uns aber erst erworben werden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, wurde der Sohn Gottes Mensch. Er wurde nicht für sich selbst Mensch, sondern um Stellvertreter der neuen Menschheit zu sein. Er wurde Stellvertreter in zweierlei Hinsicht: Er vertrat seine künftigen Nachkommen darin, um das von Gott geforderte heilige, sündlose Leben zu führen. Und er vertrat sie darin, die Strafe für ihre Sünde zu empfangen.
Die Heilige Schrift bezeugt an verschiedenen Stellen, dass Gott seinem Sohn ein Volk gab, für das er hingehen und es in dieser Weise vertreten sollte. Zum Beispiel im Hohepriesterlichen Gebet: „Vater, die Stunde ist gekommen; verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrliche, wie du ihm Vollmacht gegeben hast über alles Fleisch, dass er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben gebe.“… „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben.“ (Joh. 17,1.2.6).
Zurechnung
Damit stellt sich die Frage: Wie werden jetzt diese erwählten Nachkommen zu wirklichen, erbberechtigten Adoptivsöhnen? Anders formuliert: Wie kommt die Gerechtigkeit Christi zu uns? Die Antwort auf diese Frage gibt uns die Botschaft von der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi. Wenn sich die Schreiber der Heiligen Schrift über das Gesetz Gottes sowie über den Themenbereich der Rechtfertigung äußern, verwenden sie eine juristische Sprache. Dazu einige Beispiele:
Hiob verlangte am Ende seines Gespräches mit seinen Freunden ein Gericht, in dem er sich vor Gott rechtfertigen und seine Unschuld beweisen könnte (siehe Hi. 31,35-40).
Die Propheten traten immer wieder als Ankläger auf, die das Volk wegen dessen Übertretung des Gesetzes Gottes anklagten. So ruft Gott unter anderem durch Jesaja auf: „Kommt denn und lasst uns miteinander rechten! [das heißt Gericht halten] spricht der Herr. Wenn eure Sünden rot wie Karmesin sind, wie Schnee sollen sie weiß werden. Wenn sie rot sind wie Purpur, wie Wolle sollen sie werden.“ (Jes. 1,18). Gott verkündet hier seinen Willen, dass durch sein Gericht Sünder als Gerechte angesehen werden.
Das Gleiche sehen wir in einer Vision des Sacharia: „Und er ließ mich den Hohepriester Joschua sehen, der vor dem Engel des Herrn stand; und der Satan stand zu seiner Rechten, um ihn anzuklagen. Und der Herr sprach zum Satan: Der Herr wird dich bedrohen, Satan! Ja, der Herr, der Jerusalem erwählt hat, bedroht dich! Ist dieser nicht ein Holzscheit, das aus dem Feuer herausgerissen ist? Und Joschua war mit schmutzigen Kleidern bekleidet und stand vor dem Engel. Und der Engel antwortete und sprach zu denen, die vor ihm standen: Nehmt ihm die schmutzigen Kleider ab! Und zu ihm sprach er: Siehe, ich habe deine Schuld von dir weggenommen und bekleide dich mit Feierkleidern. Und ich sprach: Man setze einen reinen Kopfbund auf sein Haupt! Und sie setzten den reinen Kopfbund auf sein Haupt und zogen ihm reine Kleider an; und der Engel des Herrn stand dabei.“ (Sach. 3,1-5).
In beiden Fällen ist klar: Die Angeklagten sind tatsächliche Sünder, die Gottes Recht übertreten haben. Aber sie gehen aus dem Gericht als Gerechtfertigte hervor. Ihre Sünde wird ihnen nicht angerechnet.
Diese Hoffnung stellt auch Psalm 32 in Aussicht: „Glücklich der, dem Übertretung vergeben, dem Sünde zugedeckt ist!
Glücklich der Mensch, dem der Herr die Schuld nicht zurechnet.“(Ps. 32,1-2). Wie kann das geschehen?
Paulus erklärt, dass demjenigen seine Sünden nicht zugerechnet werden, dem Gott stattdessen seine Gerechtigkeit zurechnet: „Wer dagegen keine Werke verrichtet, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, dem wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet!“ (Röm. 4,5).
Wie kann Gott das tun? Wie kann er gerecht sein, Erfüllung seines Gesetzes fordern und die Sünde bestrafen und dennoch den Sünder freisprechen und als gerecht erklären? Antwort: Indem er den Stellvertreter einsetzt und einen Tausch vollzieht: Der Stellvertreter Jesus tritt an die Stelle des angeklagten Sünders und wird bestraft. Somit ist die Sünde verurteilt und gesühnt. Und das Zweite: Der Sünder bekommt die Gerechtigkeit Jesu zugesprochen. Jesus schenkt seine Gerechtigkeit denen, für die er gekommen ist: „Alles aber von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat, nämlich dass Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnete und in uns das Wort von der Versöhnung gelegt hat… Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.“ (2Kor. 5,18-21).
Gott rechtfertigt Sünder, indem er ihnen die Gerechtigkeit Jesu Christi zurechnet. Der Sünder leistet nichts dafür. Er kann nichts. Er ist tot in seinen Sünden und Übertretungen. Gott gab die Verheißung, Sünder gerecht zu sprechen, und er erfüllte dies in dem Werk Christi. Er schenkt die Erkenntnis, dass wir Sünder sind, und er schenkt den Glauben, durch den wir Christus und seine Gerechtigkeit empfangen: „Aus ihm aber kommt es, dass ihr in Christus Jesus seid, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung.“ (1Kor. 1,30).
Christus ist unsere Gerechtigkeit! Es gibt keine andere Hoffnung für uns, als dass uns die Gerechtigkeit Christi zugerechnet wird. Diese Wahrheit zieht sich durch die gesamte Bibel, durch das Alte und durch das Neue Testament.
Abraham, der Prototyp des Glaubenden, war ein Sünder. Es wurde nicht eine bestimmte Gerechtigkeit bei ihm gefunden oder in ihn eingegossen, damit er von Gott angenommen werden konnte. Es wurde ihm eine fremde Gerechtigkeit angerechnet: „Abraham glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.“ (1Mos. 15,6).
Was genau glaubte Abraham? Er glaubte Gottes Verheißung, dass er ihm aus seinen Nachkommen den Erlöser kommen lassen wird. Wer wie Abraham glaubt, dem wird dieselbe fremde Gerechtigkeit zugerechnet. „Gleichwie Abraham Gott geglaubt hat und es ihm zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, so erkennt auch: Die aus Glauben sind, diese sind Abrahams Kinder. Da es nun die Schrift voraussah, dass Gott die Heiden aus Glauben rechtfertigen würde, hat sie dem Abraham im Voraus das Evangelium verkündigt: ‚In dir sollen alle Völker gesegnet werden‘. So werden nun die, welche aus Glauben sind, gesegnet mit dem gläubigen Abraham.“ (Gal. 3,6-9).
Die Wichtigkeit dieses Verständnisses
Warum ist es wichtig, diese Lehre von der Zurechnung der Gerechtigkeit zu akzeptieren? Oder umgekehrt formuliert: Was ist in Gefahr, wenn wir sie verlieren? Die zugerechnete Gerechtigkeit, die uns vor Gott bestehen lässt und die uns in seine ewige Gemeinschaft bringt, ist völlig sicher. Weil sie nicht etwas von uns Produziertes ist, sondern von Gott gemacht, von ihm geschenkt, hat sie ewig Bestand. Wir stützen uns im Glauben auf das Werk Gottes für uns.
Wir werden, nachdem wir als gerecht erklärt worden sind, immer wieder in Sünde fallen. Würden wir an eine eingegossene Gerechtigkeit glauben, wie man dies im römischen Katholizismus versteht, müssten wir immer wieder in Frage stellen, ob jetzt wirklich genügend Heiligkeit bei uns vorhanden ist, die uns im Heil bleiben lässt.
Würden wir an eine definitive Rechtfertigung erst am Ende unseres Lebens glauben (wie sie bei Vertretern der Neuen Perspektive auf Paulus und auch in der so genannten Federal Vision zu finden ist), dann müssten wir davon ausgehen, dass wir nicht zu der Gerechtigkeit gelangen würden. Nur eine von außen kommende, uns zugerechnete Gerechtigkeit, eine Gerechtigkeit, die durch Christus erworben worden ist, ist die vollkommene Gerechtigkeit Gottes. Sie hat keinen Makel. Denn sie hat von uns nichts an sich. Sie ist alles, was wir benötigen, um in alle Ewigkeiten vor Gott als gerecht dazustehen.
Die Alternative zur Lehre von der Zurechnung ist in jedem Fall, auf etwas zu vertrauen, das wir zu unserem Heil beitragen können. Damit aber würden wir jede Hoffnung verlieren. Denn in uns gibt es nichts, das vor Gott Bestand hätte. Christus ist alles. Er ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligkeit und zur Erlösung. (1Kor. 1,30).