Seit einigen Jahren wird Johannes Reimer in der evangelikalen Welt immer bekannter. Sein Gemeindebaukonzept verspricht Erfolg. Somit scheint er das Recht, dieses Konzept zu verbreiten, auf seiner Seite zu haben.
Ich lernte Johannes Reimer im Jahr 2006 kennen, als ich die Wiedenester Pfingstjugendkonferenz besuchte, auf der Reimer einer der Hauptredner war. Viele waren schnell von ihm begeistert. Er ist ein packender Redner. Er hat neue, fast revolutionäre Ideen. Damit kann man Jugendliche begeistern.
In seinem Buch „Die Welt umarmen – Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus“ begegnet uns das Gleiche. Sein Ansatz, Gemeinde zu bauen, scheint komplett neu zu sein. Er selbst behauptet, es sei die Wiederentdeckung des ursprünglichen, biblischen Gemeindebaukonzepts. Aber ist das der Fall? Was steckt wirklich dahinter? Ist dieses Konzept tatsächlich biblisch?
Johannes Reimer studierte an der University of South Africa Missionstheologie und promovierte in diesem Fach dort im Jahr 1995. Im deutschsprachigen Raum wurde er als Mitarbeiter mehrerer Institutionen bekannt, unter anderem durch die Gesellschaft für Bildung und Forschung in Europa und durch das Institut für Gemeindebau und Weltmission (IGW). Zurzeit ist er Dozent für Missiologie am Theologischen Seminar Ewersbach, der Ausbildungsstätte der Freien evangelischen Gemeinden in Deutschland.
Wie bereits der Titel seines Buches anklingen lässt, liegt Reimers Augenmerk auf der Gesellschaftsrelevanz. Was Gesellschaftsrelevanz für ihn heißt, definiert er in seinem 2010 erschienen Buch Gott in der Welt feiern: „Menschen, die in dieser Welt aufwachsen, können nur dann wirklich mit dem Evangelium erreicht werden, wenn man ihren sozialen, kulturellen und spirituellen Bedürfnissen und Empfindungen gerecht wird.“1
Natürlich ist es richtig, dass wir uns darum bemühen, den Menschen in seinem Umfeld zu verstehen. Doch die Frage lautet: Wie geschieht das? Wie erreichen wir es, dass wir als Gemeinde Jesu Christi für die Gesellschaft relevant werden?
Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, Reimers gesamtes Konzept zu präsentieren. Deshalb werde ich mich auf drei Aspekte seiner Gemeindebautheologie konzentrieren.
Zuerst zeige ich seine Überlegungen zur Gesellschaftstransformation auf. Dazu gehe ich auf seine Auslegung von Matthäus 28,16–20 ein. Danach erläutere ich sein auf die Kultur bezogenes Inkarnationsverständnis. Abschließend suche ich zu zeigen, wie sich bei ihm diese beiden Faktoren auf die Verkündigung des Evangeliums auswirken.
Gesellschaftstransformation
In Matthäus 28,16–20 lesen wir Folgendes: „Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte. Und als sie ihn sahen, warfen sie sich anbetend vor ihm nieder; etliche aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit! Amen.“
In der Wendung „macht zu Jüngern alle Völker“ (Vers 19) sieht Johannes Reimer die Begründung für Mission als Gesellschaftstransformation: Es gehe nicht darum, einzelne Menschen innerhalb eines Volkes zu Christus zu führen, sondern die Anweisung laute, jeweils ein ganzes Volk zu christianisieren, das heißt die Gesellschaft zu transformieren.
Seines Erachtens entspricht dies der Sendung Gottes (Missio Dei): Gott habe mit seiner Sendung das Ziel verfolgt, die Welt in das von Gott ursprünglich gedachte Bild zu transformieren.2 Dies umfasst sowohl den sozialen Bereich als auch den politischen sowie den ökonomischen.
Reimer begründet dieses Programm in erster Linie mit Matthäus 28,19, aber auch mit Johannes 3,16. Es ist die Liebe Gottes, die ihn dazu trieb, sich „in Christus mit der Welt zu versöhnen“ (2Kor. 5,18).3
Zu dieser Interpretation ist allerdings anzumerken, dass Johannes 3,16 unmissverständlich zum Ausdruck bringt, nur der werde gerettet, der an den Sohn glaubt. Auch 2Korinther 5,18 spricht nicht von einer allgemeinen Versöhnung mit der Welt. Paulus schreibt: „[…] der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus.“ Es ist deutlich, dass der Apostel hier nicht an eine die ganze Welt umfassende Versöhnung denkt, sondern an die Versöhnung mit denen, die glauben.
Es bleibt nun zu klären, wie Matthäus 28,19 zu verstehen ist. Wenn man diesen Vers isoliert betrachtet, könnte man ihn so auffassen, wie es sich bei Reimer liest. Dann könnte man meinen, wir seien dazu berufen, die Welt zu transformieren. Aber dann müsste man es ablehnen, die Bibel in ihrem Zusammenhang zu lesen. Außerdem müsste man es ignorieren, dass diese Stelle von der Sendung der Apostel spricht.
Es ist hilfreich, hier auf die Parallelstelle aus dem Markusevangelium hinzuweisen. Daran wird deutlich, dass Reimers theologische Vorstellungen nicht haltbar sind: „Und er [Jesus] sprach zu ihnen: Geht hin in alle Welt und verkündigt das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk. 16,15).
Auch hier ist die Rede von der ganzen Schöpfung. Isoliert betrachtet könnte auch dieser Vers in die Interpretation Reimers passen. Doch der darauffolgende Vers spricht gegen eine solche Auslegung. Dort heißt es, dass nur der gerettet wird, der glaubt und getauft wird, wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden. Wenn aber nur der nicht verdammt wird, der glaubt, geht es hier um den einzelnen, der den Kreuzestod Jesu für sich im Glauben in Anspruch nimmt.
Wenn Reimer meint, Matthäus 28 rufe dazu auf, ein gesamtes Volk, in dem man evangelisiert, zu christianisieren, heißt das, dass die gesamte Gesellschaft erlöst werden soll. Das würde bedeuten, dass der Glaube des einzelnen nicht mehr nötig wäre. Dem aber widerspricht die Heilige Schrift, und zwar nicht nur in Markus 16. Auch der von Reimer zitierte Bibelvers, Johannes 3,16, lehrt, dass nur derjenige errettet wird, der glaubt.
Wie weit Reimers Gedanken bereits verbreitet sind, zeigt der aktuelle Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft der Brüdergemeinden (Brüdergemeinden im Bund EFG). Hier lesen wir über Gemeindewachstum das Folgende: „Wichtiger, als dass Menschen in unsere Gemeinde kommen ist, dass das Evangelium in ihre Häuser (Familie, Umfeld, Kultur) kommt. Das Ziel ist nicht nur die Bekehrung Einzelner, sondern dass Gruppen von Menschen Jesus kennen lernen.“4
Es fällt auf, dass in diesem Zitat nur noch auf ein Jesus-Kennenlernen Wert gelegt wird, aber nicht mehr auf Umkehr zu Gott und Glauben an die Verheißungen des Evangeliums.
Inkarnation
Nachdem ich gezeigt habe, dass es nicht möglich ist, aus dem Missionsbefehl eine ganze Völker transformierende Theologie zu erheben, soll nun Reimers Inkarnationsidee der Gemeinde untersucht werden. Dafür ist Reimers Grundannahme zu überprüfen, die Gemeinde habe den gleichen Auftrag wie Christus selbst.
Zunächst ist unstrittig, dass Jesus lehrt: „Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ (Joh. 20,21) Insofern gibt es Übereinstimmungen zwischen dem Auftrag, den der Sohn Gottes hatte, und dem der Gemeinde. Aber es gibt auch Unterschiede: Wir können nicht das Gesetz erfüllen, und es ist auch nicht unser Auftrag, Erlösung am Kreuz zu bewirken. Aber auch wir sollen das Evangelium verkünden.
Aber wenn Reimer den Vers Johannes 20,21 interpretiert, sieht er darin den Auftrag der Gemeinde, sich genauso in die Welt zu „inkarnieren“, wie es der Sohn Gottes tat. Reimer erklärt zwar, dass die Gemeinde nie ganz von dieser Welt sein könne, weil sie sonst überflüssig wäre,5 gleichwohl aber fordert er dazu auf, dass sie sich „inkulturiert“. Die Gemeinde solle der Welt zwar nicht gleich werden, aber sie solle Teil des sozio-kulturellen Raumes werden, in dem sie lebt.
Demgegenüber gebietet die Heilige Schrift, dass unser ordentlicher Gottesdienst darin besteht, uns als Opfer Gott hinzugeben. Es geht darum, den Willen Gottes zu erkennen und sich nicht dem Weltlauf anzupassen. Wenn Reimer erklärt, die Grundlage für Gemeindebau sei Inkarnation, das heiße „wie die Welt zu werden“, steht er damit im Widerspruch zur Heiligen Schrift.
Natürlich ist Gemeindebau nicht leicht. Einerseits ist die Nähe zur Kultur und zur Gesellschaft unverzichtbar, damit wir wissen, wem wir das Evangelium zu verkündigen haben. Andererseits aber sind wir aufgerufen, uns nicht mit der Welt gleichzustellen, weil wir nur dann zeigen können, dass wir Volk Gottes sind (Eph. 4,17–24). Deshalb ist eine klare Grenzziehung zwischen Gemeinde und Welt unerlässlich.
Reimer zieht diese Grenze leider nicht, sondern er verwischt sie. Er strebt danach, die Gemeinde und die Welt so nahe zusammenzubringen, dass man nicht mehr weiß, wo die Gemeinde anfängt und die Welt aufhört. Mit dieser Vorgehensweise arbeitet er im Widerspruch zur Heiligen Schrift.
Reimers Überzeugung, dass die Bibel sowohl Inkarnation als auch Transformation lehre, wirkt sich auf seine Praxis aus. Natürlich ist es wichtig, das Umfeld, in dem wir Gemeinde bauen, zu studieren. Aber bei Reimer verfolgt die „Kontextanalyse“ den Zweck, dass die Gemeinde sich in die Welt verwandelt. Dieses Programm geht bei ihm so weit, dass die ausschlaggebende Norm nicht die Heilige Schrift, sondern die Kultur ist. Er will die Bibel durch die Brille des jeweiligen gesellschaftlichen Erfahrungshorizontes lesen.
Die Verkündigung des Evangeliums
Da Reimer in der missionarischen Arbeit die Kultur faktisch für wichtiger hält als das Wort Gottes, geht die Verkündigung des Wortes Gottes verloren. Die Attraktivität der Gemeinde erwächst für ihn aus der Nähe zur Kultur.
Dazu ist zu sagen: Es trifft zwar zu, dass die Gemeinde Gottes sich niemals von der sie umgebenden Gesellschaft ausgrenzen kann und auch nicht darf, aber die „Gesellschaftsrelevanz“ findet sie nicht in der Nähe zur Kultur, sondern gerade in einem unbeirrten Festhalten am Wort Gottes. Mit anderen Worten: Gesellschaftsrelevant wird eine Gemeinde gerade dann, wenn sie das Evangelium treu verkündet. Denn diese Botschaft ist die Kraft zur Errettung (Röm. 1,16).
Nirgendwo verlangt die Heilige Schrift von uns, dass wir den Lebensstil der uns umgebenden Kultur übernehmen. Vielmehr lehrt sie, das Wort in Theorie und in Praxis zu verkünden. Nicht umsonst schreibt der Apostel Paulus, dass der Glaube aus der Verkündigung kommt (Röm. 10,17). Auch die Apostelgeschichte zeigt, dass die Verkündigung des Wortes Gottes stets die Grundlage für den Gemeindebau ist.
Als der Heilige Geist zu Pfingsten auf die Apostel kam, setzten sie sich nicht erst zusammen, um die Gesellschaft zu analysieren. Sie gingen auf die Straße und verkündigten das Evangelium. Durch die Kraft der Predigt wurden 3000 Menschen gerettet. Das Mittel ihrer Errettung, so dass sie zur Gemeinde hinzukamen, war die Predigt von Jesus Christus. Petrus wurde auch nicht vor den Hohen Rat geschleppt, weil er wie die Menschen um ihn herum lebte. Selbst vor dem Hohen Rat passte er sich nicht den Gewohnheiten an. Vielmehr verkündigte er das Evangelium. Genauso machte es Stephanus. Als Paulus sich in Athen aufhielt, fing er nicht an, wie ein Philosoph zu leben. Schon gar nicht passte er sich dem griechischen Götterkult an. Sondern mitten hinein in die heidnische Welt des Areopag verkündigte er das Evangelium.
Das Verheerende an Reimers Konzept ist seine erklärte Absicht, die Gesellschaft zu transformieren, zu christianisieren. Für dieses Ziel setzt er alles ein. Dafür gibt er sogar die biblische Wahrheit auf, dass das Wort Gottes Autorität und Kraft hat, Menschen zur Umkehr zu führen. Mit anderen Worten: Die „Gesellschaftsrelevanz“ der Gemeinde sucht er nicht in der Verkündigung dessen, was geschrieben steht, sondern in der Analyse des sozio-kulturellen Raums.
Reimers Gemeindebaukonzept ist zu verwerfen. Gemäß dem Wort Gottes ist die Gemeinde auferbaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, wobei Jesus Christus selbst der Eckstein ist (Eph. 2,20). Das bedeutet nichts anderes, als dass die Gemeinde auf der Wahrheit Gottes gegründet ist. Diese Grundlage der Gemeinde hat Reimer aufgegeben.
Wo das biblische Evangelium aus dem Zentrum der Gemeinde gerückt wird, rückt die Gemeinde aus dem christlichen Glauben hinaus. Wo nicht mehr das Wort Gottes das Zentrum ist, ist es letztendlich der Mensch. Darauf läuft Reimers „gesellschaftsrelevantes“ Missionskonzept hinaus. Johannes Reimers Gemeindebaukonzept entspricht deswegen nicht den biblischen Vorgaben für Gemeindebau, weil eben nicht soziologische Komponenten die Gemeinde tragen, sondern Christus durch sein Wort. Sein Gemeindebaukonzept wird scheitern, denn Gemeinde kann nicht von Sündern zusammengehalten werden, sondern allein durch den im Wort Gottes wirkenden Heiligen Geist. Denn Himmel und Erde – auch die Kultur – werden vergehen, Gottes Wort aber bleibt bestehen (Mt. 24,35).
1) J. Reimer, Gott in der Welt feiern. Auf dem Weg zum missionalen Gottesdienst. Schwarzenfeld [Neufeld] 2010, S. 103.
3) A.a.O. S. 140.
4) http://www.agb-online.de/fileadmin/content/agb_aktuell/2010/AGB_aktuell_2010-11.pdf
5) A.a.