Gemeinde und Gemeindegründung (Teil 10): Warum jede Gemeinde ein Glaubensbekenntnis braucht

Gemeinde und Gemeindegründung (Teil 10): Warum jede Gemeinde ein Glaubensbekenntnis braucht

Warum jede Gemeinde ein Glaubensbekenntnis braucht[1]Teil 10 der Serie: Gemeinde und Gemeindegründung

Denn mit dem Herzen glaubt man, um gerecht zu werden, und mit dem Mund bekennt man, um gerettet zu werden.

Römer 10,10

Den eigenen Glauben auch öffentlich zu bekennen, gehört zu einem der wichtigsten Kennzeichen eines Christen. Darüber dürfte wenig Uneinigkeit bestehen. Deutlich umstrittener ist allerdings die Frage, ob es heute noch Glaubensbekenntnisse braucht – also von Menschen verfasste Dokumente, die den christlichen Glauben systematisch zusammenfassen, um die Gemeinde zu lehren und Irrtümer abzuwehren.

Viele anglikanische, reformierte und lutherische Kirchen haben sich zwar historisch auf ihre jeweiligen Bekenntnisse aus der Reformationszeit gestützt. Aber die meisten von ihnen haben sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter davon entfernt und verlieren in rasendem Tempo an Mitgliedern – zumindest bei uns im Westen. Andere evangelikal und/oder charismatisch geprägte Gemeinderichtungen wachsen zwar, aber verzichten von vornherein auf historische Glaubensbekenntnisse.[1] Das bedeutet: Gemeinden, die sich auf Bekenntnisse gründen, werden in Europa immer seltener.

Im evangelikalen Bereich werden oft Argumente gegen Bekenntnisse vorgebracht. Einige dieser Gründe klingen auf den ersten Blick sehr biblisch:

  • Fügt man mit einem Bekenntnis nicht etwas zur Bibel hinzu?
  • Wir haben doch die Bibel – worin liegt der Mehrwert eines Bekenntnisses?
  • Ist ein Bekenntnis nicht schon vom Prinzip her katholisch?
  • Haben die Reformatoren sich mit dem Prinzip sola scriptura nicht gerade gegen solche menschlichen Traditionen gewehrt?

Der erste Punkt des Artikels zeigt, warum Bekenntnisse – trotz aller Vorbehalte – für eine gesunde Gemeinde nötig sind. Im zweiten Punkt werden wir sehen, warum der Zeitgeist es heute vielen Christen schwer macht, sich auf ein Bekenntnis zu berufen. Im dritten Teil geht es darum, welche Ziele Bekenntnisse haben, bevor im letzten Teil einige Hinweise gegeben werden, wie ein gesunder Umgang mit Bekenntnissen in der Gemeinde aussieht.

 1. Die Notwendigkeit von Bekenntnissen

Bekenntnisse sind einfach da

Jeder Mensch ist ein Theologe – sogar ein Atheist. Er vertritt vielleicht nur einen einzigen Glaubenssatz, nämlich dass es Gott nicht gibt. Aber damit trifft er bereits eine theologische (Bekenntnis-)Aussage. Weil jeder Mensch Theologe ist, hat auch jeder Mensch ein Glaubensbekenntnis. Deswegen ist die entscheidende Frage, ob jemand dieses Glaubensbekenntnis aufgeschrieben hat oder nicht.

Es gibt bestimmte Gemeinderichtungen, die sich selbst kein Bekenntnis gegeben haben. Andere meinen sie stünden über den Bekenntnissen (überkonfessionell). Was diese Gruppen meinen, ist allerdings nur, dass es kein transparentes und schriftliches Bekenntnis gibt. In den meisten Fällen wissen sie sehr wohl, was sie glauben und was sie nicht glauben.[2] Das zeigt sich spätestens dann, wenn man in solch einer Gemeinde öffentlich lehren würde, dass Jesus nicht Gott sei. Dann merkt man ziemlich schnell, dass es (glücklicherweise) doch ein Bekenntnis gibt, was aber leider nur in den Köpfen der Leute (oder der Leitung) existiert.

Bekenntnisse sind biblisch

Bereits das Neue Testament verwendet Bekenntnissprache. Beispiele dafür sind Philipper 2,6-11 oder Kolosser 1,15-20. In 1. Timotheus 3,16 bekennt Paulus: Und anerkannt groß ist das Geheimnis der Gottesfurcht: Gott ist geoffenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln, verkündigt unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Es ist möglich (wenn auch nicht sicher), dass Paulus bei diesen Stellen auf bereits existierende Bekenntnisformulierungen zurückgreift und sie zitiert. Wie dem auch sei – auf jeden Fall verwendet die Bibel zusammenfassende Glaubenssätze, um Lehrinhalte auf den Punkt zu bringen und sie zu bekennen.

Außerdem setzt die Bibel immer wieder die Existenz von grundlegenden Bekenntnissen voraus. Paulus warnt in Römer 16,17 vor Menschen, die Lehren bringen, die im Widerspruch zur Lehre der Apostel stehen. In 2. Timotheus 1,13 fordert er, dass Timotheus sich an das Muster der gesunden Worte halten soll. Und Judas ermahnt die Christen, für den Glauben zu kämpfen, der ein für alle Mal den Heiligen überliefert worden ist (Jud 3).

Was ist dieses Muster der gesunden Worte und dieser ein für alle Mal überlieferte Glaube? Zunächst einmal sind das die Aussagen des Wortes Gottes. Das Problem ist nur: Seit fast 2000 Jahren berufen sich auch zahlreiche Sekten und Irrlehrer auf die Bibel. Aus diesem Grund fassen Bekenntnisse den ganzen Ratschluss Gottes (Apg 20,27) zusammen und distanzieren sich von falschen Lehren und einem falschen Umgang mit der Heiligen Schrift.

Bekenntnisse sind evangelisch

Beim Verfassen eines Bekenntnisses darf man niemals über das hinausgehen, was in Gottes Wort gesagt ist (1Kor 4,6; Offb 22,18). Das war der Fehler der mittelalterlichen Kirche, als sie die kirchliche Tradition mit der Bibel auf eine Stufe gehoben hat.

Interessant ist aber: Während die Reformatoren sich mit dem Grundsatz sola scriptura massiv gegen die Überhöhung der kirchlichen Tradition gewehrt haben, waren sie nicht gegen Bekenntnisse an sich. Sie haben Bekenntnisse nicht einfach für katholisch gehalten. Ganz im Gegenteil: Luther und seine Mitstreiter haben die altkirchlichen Bekenntnisse übernommen und verteidigt. Und vor allem sind in keinem Jahrhundert der Kirchengeschichte so viele weltweit verbreitete Bekenntnisse geschrieben worden wie im 16. Jahrhundert – und zwar von den Reformatoren und ihren Erben. Dabei haben sie alle betont: Die Bekenntnisse sind wahr, weil und insofern sie die Wahrheiten der Bibel richtig wiedergeben. Sie müssen sich in all ihren Aussagen der Bibel unterordnen. Und dennoch sind sie notwendig.

Bekenntnisse schaffen Einheit

Oft sind Menschen auch Bekenntnissen gegenüber skeptisch, weil Bekenntnisse Christen voneinander trennen. Das Neue Testament zeigt aber, dass das Gegenteil richtig ist. Gerade die Einheit in der Lehre schafft Einheit innerhalb der Gemeinde (Eph 4,4-6) und die Einheit verschiedener Ortsgemeinden untereinander. In Apostelgeschichte 15 wird von einem Treffen der Apostel berichtet.  Jüdische Lehrer hatten in der weitgehend heidenchristlichen Gemeinde in Antiochia für Unruhe gesorgt. Am Ende der Beratungen stand ein gemeinsames Schreiben, das tatsächlich Bekenntnischarakter hat (Apg 15,23-29). Als solches schuf es praktische Einheit zwischen den Gemeinden – gerade angesichts der unterschiedlichen Prägungen von Judenchristen und Heidenchristen.

Um die Einheit zu bewahren – egal ob innergemeindlich oder übergemeindlich – ist es wichtig, dasselbe zu denken (Phil 2,2; 3,15). Uneinigkeit in Lehrfragen führt dagegen zu Spaltungen: Ich ermahne euch aber, ihr Brüder: Gebt acht auf die, welche Trennungen und Ärgernisse bewirken im Widerspruch zu der Lehre, die ihr gelernt habt, und meidet sie! (Röm 16,17)

Oft werden die Parteiungen in 1. Korinther 1,10-17 als Argument gegen Bekenntnisse angeführt. Aber bei den Parteiungen in Korinth ging es nicht um Bekenntnisfragen, sondern um persönliche Vorlieben. Das Neue Testament macht deutlich: Einheit in der Lehre eint eine Gemeinde. Uneinigkeit in der Lehre führt zu schmerzhaften, aber notwendigen Trennungen. Der Grund dafür ist niemals Unklarheit in der Lehre, sondern immer unsere menschliche Begrenztheit und Sünde.

Bekenntnisse schützen

Ein Freund von mir fragte während seines Theologiestudiums seinen Pastor, ob die Gemeinde ein Bekenntnis habe. Darauf antwortete der Pastor: „Das Bekenntnis hier bin ich.“ Gut möglich, dass er das mit einem Augenzwinkern gesagt hat. Aber dahinter steht ein wichtiger Punkt. Denn wenn eine Gemeinde kein schriftliches Glaubensbekenntnis hat, dann wird es automatisch andere Autoritäten geben, die ‚zum Glaubensbekenntnis werden‘. Diese Autoritäten bestimmen das (häufig nicht fixierte) Bekenntnis und mit ihnen ändert sich dieses Bekenntnis möglicherweise auch, wenn sie ihre Meinung ändern. Wird der Pastor zum Irrlehrer, hat die Gemeinde ein Problem. Denn auf welcher Grundlage kritisiert man jetzt seinen Pastor? Auf die Bibel berufen sich schließlich beide Seiten…

Wenn sich eine Gemeinde ein Bekenntnis gibt, dann schützt sie das auf mehreren Ebenen. Der Pastor und die Ältesten müssen sich diesem Bekenntnis unterordnen und können vom Bekenntnis her kritisiert werden, wenn sie falsch lehren. Auf der anderen Seite kann die Gemeindeleitung ein Gemeindemitglied oder einen Besucher, der falsch lehrt, mit dem Verweis auf das Bekenntnis in die Schranken weisen. Und Menschen auf Gemeindesuche können anhand des transparenten Bekenntnisses die Lehre der Gemeinde prüfen. Das schützt vor späteren bitteren Missverständnissen.

Dabei sind Bekenntnisse natürlich keine Zaubertablette, die eine Gemeinde automatisch vor Machtmissbrauch oder Irrlehre bewahrt. Aber sie helfen in jedem Fall dabei, solche Dinge zu verhindern.

Bekenntnisse bewahren

Eine besondere Form des Glaubensbekenntnisses ist der Katechismus, der biblische Wahrheit in Fragen und Antworten vermittelt. Dadurch sind Katechismen sehr gut dazu geeignet, die Inhalte des christlichen Glaubens an die nächste Generation weiterzugeben.

Gerade im Blick auf die nächste Generation sind Bekenntnisse besonders wichtig. Oft sind bestimmte theologische Lehren für die gegenwärtige Generation selbstverständlich. Es wurde viel darüber gesprochen und darum gerungen. Die nächste Generation hat in ihrer Zeit ihre eigenen Herausforderungen. Lehrinhalte, die noch eine Generation zuvor für jeden selbstverständlich waren, geraten in Vergessenheit. Oder es ist zumindest nicht mehr klar, warum es wichtig ist, diese Überzeugungen beizubehalten.

In den Briefen an Timotheus und Titus gibt Paulus Anweisungen, wie das Evangelium über Generationen hinweg bewahrt werden kann: Und was du von mir gehört hast vor vielen Zeugen, das vertraue treuen Menschen an, die fähig sein werden, auch andere zu lehren (2Tim 2,2). Interessanterweise finden sich gerade dort auch die meisten der ‚Bekenntnisaussagen‘ des Neuen Testaments. Fünf Mal beginnt Paulus in diesen Briefen eine Aussage mit dem Ausdruck: Glaubwürdig ist das Wort (1Tim 1,15; 3,1; 4,9; 2Tim 2,11; Tit 3,8). Klarheit im Bekenntnis und generationsübergreifende Treue gehören biblisch gesehen also eng zusammen.

2. Die Kritik an Bekenntnissen

Wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen, dann muss uns klar sein: Bekenntnisse sind in unserer westlichen Gesellschaft radikal gegenkulturell. Es ist wichtig, dass wir uns damit auseinandersetzen, weil auch wir Christen unbewusst von den kulturellen Trends geprägt sind. Wenn manche Christen gegen Bekenntnisse argumentieren, dann klingen die Argumente vielleicht sogar recht biblisch. Oft sind die Vorbehalte aber weniger von der Bibel und eher von den folgenden kulturellen Vorannahmen geprägt.

Skepsis gegenüber Worten

Seit ungefähr 100 Jahren ist man skeptisch geworden, ob Worte überhaupt Wahrheit vermitteln können. Entwicklungen im Zuge des sogenannten linguistic turn haben dazu geführt, dass infrage gestellt wurde, ob Worte und Wahrheit zusammenpassen. In einem ihrer Lieder bringt die Sängerin Madonna dieses Denken auf den Punkt: „Heute ist der letzte Tag, an dem ich Worte gebrauche. Sie haben sich überlebt, ihre Bedeutung verloren. Sie funktionieren nicht mehr. […] Worte sind nutzlos, besonders Sätze. Sie stehen für nichts.“ [3]

Eine gemäßigte Form dieser Skepsis findet sich bei vielen Christen – besonders in der jungen Generation. Theologen bezeichnen die jüngeren Evangelikalen aus diesem Grund als Generation Lobpreis. Der Zugang zu Gott wird nicht über Worte gesucht, sondern schwerpunktmäßig über das Gefühl. Und Gefühle werden in der Gemeinde am ehesten durch die Musik angesprochen – nach dem Motto: „Worship ist mein Zugang zu Gott.“

Die Bibel widerspricht dieser Skepsis gegenüber Worten. Als Gott diese Welt geschaffen hat, gab er dem Menschen auch die Fähigkeit zu sprechen. Durch den Sündenfall ist unsere Sprache gefallen. Auch unsere Fähigkeit zu kommunizieren ist in Mitleidenschaft gezogen worden: Beleidigungen, Lügen und Missverständnisse sind die Folge. Und dennoch ist Sprache nach wie vor geeignet, um Wahrheit zu vermitteln. Bereits vor dem Sündenfall hat Gott Sprache gebraucht, um Wahrheit an die Menschen weiterzugeben und er hat das auch nach dem Sündenfall nicht geändert. Um seine Königsherrschaft zu verbreiten, hat er sowohl im Alten als auch im Neuen Bund die Verkündigung des Wortes durch Propheten, Apostel und Pastoren gewählt. Es ist das Wort, das die Kraft hat, Felsen zu zersprengen (Jer 23,29) und das lebendig, kräftig und schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert (Hebr 4,12). Es ist das Nachsinnen über dieses Wort, das mich in der Beziehung zu Gott wachsen lässt (Ps 1,2) und mir Weisheit gibt (Ps 119,105). Diese Wirkung kann das Wort Gottes nur entfalten, weil Sprache von uns Menschen verstanden werden kann.

Durch den Propheten Micha verkündet Gott: Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott? (Mi 6,8) Weil es gesagt ist und der Mensch diese Worte tatsächlich verstehen kann, ist er Gott gegenüber zu Gehorsam verpflichtet.

Skepsis gegenüber Wahrheit

Aus einem ähnlichen geistesgeschichtlichen Hintergrund kommt die Skepsis gegenüber Wahrheit. Kann man wirklich von objektiver Wahrheit in dieser Welt sprechen? Oder ist Wahrheit nicht eher das, was ich wahrnehme oder fühle? Liegt Wahrheit nicht eigentlich im Auge des Betrachters?

Die christliche Weltanschauung widerspricht dieser postmodernen Grundannahme klar und deutlich. Von der ersten bis zur letzten Seite lehrt die Bibel, dass es Wahrheit gibt.

Dennoch gibt es auch ‚christliche‘ Formen dieser Skepsis gegenüber objektiver Wahrheit. Man fragt dann nicht mehr, was ein Abschnitt aus der Bibel (tatsächlich) bedeutet, sondern was er mir persönlich (subjektiv) sagt. Wir haben tatsächlich den Auftrag, die Bibel auszulegen. Aber es geht darum, das herauszuarbeiten, was das Wort Gottes (objektiv) sagt. Dieses Wort ist Wahrheit (Joh 17,17). Wir können es verstehen (Röm 10,6-8). Selbst wenn wir einen Abschnitt aus der Bibel (noch) nicht verstehen oder falsch auslegen, bleibt die Wahrheit der Schrift bestehen.

Skepsis gegenüber Grenzen

Bekenntnisse setzen Grenzen. Sie definieren, wer drin ist, wer draußen ist und wo die Grenze verläuft. Unsere Kultur hingegen lehnt Grenzen ab und versucht sie abzuschaffen – seien es Landesgrenzen oder die Grenze zwischen den Geschlechtern. Trendworte sind Inklusion und Vielfalt. Das Credo lautet: Grenzen haben sich überlebt. Und wenn heute Grenzen gezogen werden, dann ironischerweise häufig gegenüber denen, die der hemmungslosen Entgrenzung kritisch gegenüberstehen.

Gott ist jedoch ein Gott, der selbst Grenzen setzt. Bereits im Schöpfungsbericht lesen wir immer wieder davon, wie Gott Dinge trennt (Wasser/Land, Verschiedene Arten der Tiere, Unterschiedliche Lebensräume für die Tiere, Geschlechter…).

Wenn die Bibel wiederholt Gastfreundschaft von uns fordert, dann funktioniert das nur, wenn ich eine Wohnung habe, die ich aus Nächstenliebe freiwillig öffne. Bildet die Haustür keine Grenze mehr, dann kann ich auch nicht mehr gastfreundlich sein, denn ich bin in diesem Haus genauso sehr (oder genauso wenig) zu Hause wie jeder andere auch. Grenzenlosigkeit mag vielleicht auf den ersten Blick liebevoll aussehen, verhindert aber echte Nächstenliebe. Ohne Privatbesitz gäbe es keine Spenden mehr, ohne Privatwohnungen keine Gastfreundschaft, ohne Landesgrenzen keine Hilfe für echte Flüchtlinge. Gottes Schöpfungsordnungen und Gesetze setzen gezielt Grenzen. Das verhindert nicht die Liebe, sondern ermöglicht sie erst. Genau das meint Jesus, wenn er sagt: Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe in vielen erkalten (Mt 24,12).

Aber nicht nur im Blick auf die Schöpfung und unser Zusammenleben hat Gott Grenzen vorgesehen, sondern auch in Bezug auf die Gemeinde. Während das Reich Gottes offen steht für Menschen aus allen möglichen kulturellen, sprachlichen, sozialen oder ethnischen Hintergründen, bildet die Theologie eine Grenze: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist aus Gott; und jeder Geist, der nicht bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist nicht aus Gott (1Joh 4,2.3a).

Skepsis gegenüber Autoritäten

In unserer Kultur gilt das Wort von einst anerkannten Autoritäten immer weniger. Einige der Gründe, die dazu geführt haben, sind an sich positiv. Da heute (fast) jeder lesen kann, kann sich jeder selbst informieren und ist nicht auf die wenigen Lesefähigen angewiesen. Da man über das Internet schnell und unkompliziert an Informationen kommen kann, muss man sich bei Fragen kaum noch an Autoritäten wenden. Und sicherlich hat auch häufiger Machtmissbrauch dazu geführt, dass das Ansehen von Autoritäten geschwunden ist.

Es gibt aber nicht nur diese verständlichen Gründe für den Bedeutungsverlust von Autoritäten. Denn geprägt von der 68er-Revolution gilt Autorität heute häufig nicht nur als überflüssig, sondern sogar als etwas Schlechtes und Unterdrückendes. Anstatt sich einzuordnen, geht es darum, sich selbst zu finden, zu verwirklichen und zu entfalten. Der kanadische Philosoph Charles Taylor bezeichnet diese Einstellung des heutigen Menschen als expressiven Individualismus.

Bereits vor knapp 20 Jahren beschrieb der Journalist Rainer Funk diese Art zu denken: „Genau davon fühlt sich die postmoderne Persönlichkeit angezogen. Sie konstruiert ihre Welt nach eigenem Gutdünken und bevorzugt inszenierte Lebenswelten. Ihr Credo lautet: ‚Ich lasse mir von niemandem sagen, wer ich bin. Ich bin, der ich bin.‘ […] Das eigene Ich ist jeden Tag und in jeder Situation neu zu erschaffen und zu transzendieren. ‚Nur wenn du etwas aus dir machst, bist du was!‘“[4]

Bekenntnisse haben den Anspruch, eine Autorität zu sein für das, was ein Mensch glaubt. Sie reißen den Christen aus seiner Ichbezogenheit und stellen ihn in eine Gemeinschaft, die weit größer und älter ist als er selbst. Damit stehen Bekenntnisse in scharfem Kontrast zum antiautoritären und individualistischen Zeitgeist.

Auch hier gibt es wieder eine ‚christliche‘ Version der Autoritätsskepsis, die sich weniger dramatisch anhört, aber auf den gleichen Grundannahmen fußt: Theologie gemäß dem Motto Ich und meine Bibel: „Wie ich die Bibel verstehe, wie ich sie heute und in meiner jetzigen Lebenssituation auslege, das ist die Wahrheit.“ Oft wird dann auf das Priestertum aller Gläubigen verwiesen, das doch Luther wiederentdeckt habe…

Tatsächlich hat die Reformation dem einfachen Volk die Bibel in verständlicher Sprache gegeben – aber niemals mit der Absicht, dass jeder seine eigene Auslegung für die Wahrheit hält.

Die Bibel betont ausdrücklich die Wichtigkeit von Pastoren und Lehrern (also Autoritäten) für das eigene geistliche Wachstum (Eph 4,11.12). Gott liebt gute Autorität in der Gemeinde. Nicht der einzelne Christ, sondern die Gemeinde ist der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit (1Tim 3,15).  Das bedeutet: Wenn die eigene Bibelauslegung zu Ergebnissen kommt, die es in der Kirchengeschichte kaum gegeben hat oder die bereits von einem großen Teil der Christenheit in einem Bekenntnis als falsche Lehre verworfen wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die eigene Auslegung falsch ist. Bekenntnisse sind somit eine Autorität, die uns hilft, diese Fehler zu vermeiden.

Skepsis gegenüber der Vergangenheit

In der Bibel werden junge Leute dazu aufgefordert, ältere Menschen zu ehren (3Mos 19,32; Spr 16,31; 20,29). Das hat unter anderem einen sehr praktischen Grund: Ältere Menschen haben eine größere Lebenserfahrung. Dadurch können sie Lebensweisheit in vielen Bereichen an die Jüngeren weitergeben. Das Wissen der Älteren war also lange Zeit überlebensnotwendig für die nächste Generation.

Dieser Grundsatz hat sich allerdings in den letzten Jahrhunderten durch den massiv beschleunigten technologischen Fortschritt deutlich geändert. Das Wissen der Älteren ist heute oft nicht mehr hilfreich und notwendig, sondern längst überholt. Viele Ältere sind mit Computern und Smartphones hoffnungslos überfordert.

Die rasante technische Entwicklung hat dazu beigetragen (wenn sie auch nicht der einzige Grund ist), dass unsere Kultur gegenüber der Vergangenheit skeptisch ist. Auf Bekenntnisse angewandt lautet die kritische Frage von vielen: Was haben mir längst verstorbene Männer aus vergangenen Jahrhunderten heute noch zu sagen? Ist so ein Bekenntnis nicht noch überholter als ein fünf Jahre altes Smartphone? Wir sind doch heute so viel weiter, schlauer und intelligenter als die damals…

Dabei wird übersehen, dass die biblischen Wahrheiten zeitlos sind. Sie unterliegen nicht den gleichen Mechanismen wie die technische Entwicklung. Nur weil die Welt von technologischem Fortschritt zu technologischem Fortschritt hechelt, ändern sich die grundlegenden Tatsachen unseres Daseins nicht. Und der unveränderliche Gott ändert sich schon gar nicht. Deswegen sind die Bekenntnisse auch niemals überholt.

Keine Frage: Es ist immer wieder die Aufgabe der Theologie, auf neue Entwicklungen des Zeitgeists zu reagieren. Durch neue Herausforderungen und Irrlehren kann es nötig sein, neue Bekenntnisse und Erklärungen zu schreiben oder bestehende Bekenntnisse zu erweitern. Aber diese Reaktion muss immer auf Grundlage des unveränderlichen Wortes geschehen.

Skepsis gegenüber Verbindlichkeit

Wenn ich mich auf ein Bekenntnis festlege, sage ich zu vielen anderen Dingen nein. Auch das geht gegen den Zeitgeist. Wir Menschen im Westen haben so viele Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten wie niemals zuvor. Aber das macht uns nicht glücklich, sondern es stresst uns, denn es müssen ständig Entscheidungen getroffen werden. Gerade in der jüngeren Generation hält man sich gerne bis zuletzt alle Optionen offen. Die Diagnose lautet: FOBO (fear of better options –  Furcht vor besseren Optionen). Nur äußerst ungern und zögerlich legt man sich auf Dinge fest – wenn überhaupt.

Bekenntnisse sind also aus mehreren Gründen radikal gegenkulturell. Und so sind es meistens kulturelle Gründe, die es für Christen heute so schwer machen, sich mit Bekenntnissen auseinanderzusetzen. Die häufig vorgeschobenen biblischen Vorbehalte zeigen eher, dass der Zeitgeist auch vor uns Christen nicht haltmacht.

3. Das Ziel von Bekenntnissen

Nach der Betrachtung einiger kultureller Hindernisse für die Akzeptanz von Bekenntnissen, stellt sich als nächstes die Frage: Welchem Zweck dienen Bekenntnisse?

Traditionell hat man auf diese Frage drei Antworten gegeben. Bekenntnisse fassen den Glauben zusammen, sie verteidigen ihn und sie machen uns sprachfähig, um Gott anzubeten.

Zusammenfassung

Die Bibel ist kein systematisches Lehrbuch über Gott. Keine Frage: Die Bibel lehrt uns sehr viel über Gott, über uns Menschen, über diese Welt und über viele andere Dinge. Wenn allerdings jemand die Frage stellt: ‚Was lehrt die Bibel über Gott?‘ – dann gibt es nicht das eine Kapitel oder das eine biblische Buch, um diese Frage zu beantworten. Denn: Wir finden Antworten auf diese Frage in (beinahe) jedem Kapitel der Bibel.

Es ist die Aufgabe von uns Christen – ganz besonders die Aufgabe von Pastoren und Lehrern –, diese Lehren aus dem Wort Gottes herauszuarbeiten. Dafür ist es nötig, die einzelnen Aussagen der Bibel in ihrem Zusammenhang auszulegen, sie zusammenzustellen, sie miteinander in Beziehung zu bringen, um so die Frage zu beantworten: Was lehrt die Bibel über…?

Diese Aufgabe ist so anspruchsvoll, dass kein Christ alleine dazu in der Lage ist. Deswegen betet Paulus auch, dass die Christen in Ephesus gemeinsam mit allen Heiligen die Breite, Länge, Tiefe und Höhe der Liebe Gottes begreifen (Eph 3,18.19). Um wirklich systematisch zu erfassen, was die Bibel lehrt, braucht es die Gemeinschaft der Heiligen. Historische Glaubensbekenntnisse sind das Ergebnis solcher ‚Gemeinschaftsprojekte‘. Leiter der Kirche haben sich getroffen, sie haben auf Grundlage der Bibel über Lehrfragen gerungen und dann ihre Ergebnisse in Glaubensbekenntnissen formuliert. Bekannte Beispiele für solche Treffen sind das Konzil von Konstantinopel im Jahr 381, wo über die Lehre der Dreieinheit gerungen wurde, oder die Synode von Dordrecht 1618/1619, wo reformierte Theologen aus ganz Europa zur Lehre der Erwählung Stellung genommen haben. Andere Bekenntnisse wurden zwar von Einzelpersonen geschrieben, aber später dann auf überregionalen Treffen von Leitern der Kirche als Bekenntnis geprüft und angenommen.

Bei solchen Treffen haben sich die Theologen nicht nur untereinander beraten, sondern sie haben auch die Weisheit der längst verstorbenen Heiligen aus den Jahrhunderten zuvor zu Rate gezogen. Oft haben sie sogar Begriffe gemeinsam entwickelt, die nicht selbst aus der Bibel stammen, die aber die Aussagen der Bibel treffend auf den Punkt bringen. Beispiele für solche Wortschöpfungen sind die Dreieinheit Gottes oder die Irrtumslosigkeit der Bibel.

Glaubensbekenntnisse haben also das Ziel, die wichtigsten Wahrheiten des christlichen Glaubens systematisch zusammenzufassen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Sie machen die Glaubensüberzeugungen einer Gemeinde für Mitglieder und Außenstehende transparent. Sie bieten ein theologisches Grundgerüst, an dem die Gemeinde zu Christus hinwachsen kann. Und sie unterstützen die Gemeinde in der Weitergabe der Wahrheit an die nächste Generation.

Verteidigung

Jedes Bekenntnis ist in einer bestimmten Zeit entstanden. Es fasst nicht einfach kontextlos den christlichen Glauben zusammen, sondern gibt ganz konkret Antworten auf die Fragen und falschen Lehren seiner Zeit. Dadurch verteidigt ein Glaubensbekenntnis den Glauben.

Die Bekenntnisse der frühen Kirche bringen nicht nur die Lehre der Dreieinheit oder die Zwei-Naturen-Lehre auf den Punkt, sondern sie verneinen gleichzeitig die Angriffe auf diese Lehren. Auch den Bekenntnissen der Reformationszeit merkt man die Frontstellung gegenüber der römisch-katholischen Kirche und (in geringerem Maß) gegenüber den Täufern deutlich an. Die Reformatoren bemühten sich, alle wichtigen Punkte des christlichen Glaubens zusammenzufassen. Und dennoch formulierten sie diese Wahrheiten häufig als Antwort auf die Fragen ihrer Zeit. Die Lehrregeln von Dordrecht aus dem Jahr 1619 sind ein besonders anschauliches Beispiel für dieses Vorgehen. Zunächst werden in jedem Hauptstück verschiedene Dinge positiv bekannt. Anschließend werden in weiteren Artikeln Irrtümer in Bezug auf diese Lehre benannt und anschließend verworfen. Ein ähnliches Vorgehen findet sich in der Chicago-Erklärung von 1978 zur Irrtumslosigkeit der Bibel.

Wenn eine Gemeinde das Bekenntnis aufgibt, wird sie anfällig für Irrlehren. Dieser Zusammenhang lässt sich an zahlreichen Beispielen aus der Kirchengeschichte festmachen. Der Weg zur Bekenntnislosigkeit kann dabei unterschiedlich aussehen. Die Evangelische Kirche in Deutschland beruft sich zwar bis heute auf dem Papier noch auf die Bekenntnisse der Reformationszeit, hat sie aber faktisch für das Gemeindeleben längst abgeschafft. Einen radikaleren Weg ist die Evangelisch-reformierte Kirche in der Schweiz gegangen. Dort wurde bereits im 19. Jahrhundert das Bekenntnis offiziell abgeschafft. Das Ergebnis ist jeweils dasselbe: Beide Kirchen sind theologisch völlig profillos, hecheln dem Zeitgeist hinterher und verlieren dramatisch an Mitgliedern. Auch die theologische Orientierungslosigkeit in vielen Freikirchen im Westen hängt entscheidend mit der Ablehnung historischer Glaubensbekenntnisse zusammen.

Dabei ist das beste Bekenntnis natürlich keine Garantie dafür, dass eine Gemeinde beim Wort Gottes bleibt. Aber eine bekenntnisorientierte Gemeinde ist weit besser dazu in der Lage, sich gegen falsche Lehre zu verteidigen, als das Gemeinden ohne Bekenntnis sind.

Anbetung

Ein Glaubensbekenntnis ist nicht nur eine Zusammenfassung und eine Verteidigung des Glaubens. Es dient auch der Anbetung Gottes. In vielen Kirchen weltweit wird regelmäßig von der Gemeinde das vermutlich am weitesten verbreitete Glaubensbekenntnis der Christenheit bekannt, das Apostolische Glaubensbekenntnis. Es ist nicht nur deshalb Teil der Liturgie, damit die Christen sich gegenseitig versichern, dasselbe zu glauben. Vielmehr ist es an sich schon Anbetung, Wahrheiten über Gott von ganzem Herzen laut auszusprechen. Die Psalmen sind voll von Aussagen, wo der Psalmist Dinge über Gott bekennt und ihn so anbetet: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ist viel eher Bekenntnis als konkrete Bitte.

Im ersten Timotheusbrief zeigt Paulus, wie Bekennen und Anbeten ganz eng zusammenhängen. In den Versen 15 und 16 des ersten Kapitels bekennt er die Grundlage des Evangeliums: Jesus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu erretten. Aber er bleibt dabei nicht stehen. Sondern er fügt hinzu: Dem König der Ewigkeit aber, dem unvergänglichen, unsichtbaren, allein weisen Gott, sei Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen. Ganz ähnlich geht Paulus im Philipperbrief vor. Nachdem er die Menschwerdung und Erhöhung Christi bekannt hat (Phil 2,6-9), erklärt er das Ziel dieser ‚Bekenntnisaussage‘: damit in dem Namen Jesu sich alle Knie derer beugen, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters (Phil 2,10.11). Bekennen und Anbeten gehen Hand in Hand.

4. Der Umgang mit Bekenntnissen

Wie soll man mit Bekenntnissen im Gemeindeleben umgehen? Diese Frage möchte ich nun am Ende dieses Artikels beantworten.

Es kommt dabei vor allem auf die Perspektive, das Herz und den Einsatz an.

Mit der richtigen Perspektive

Eine (glücklicherweise) ausgedachte Geschichte erzählt von zwei Männern, die sich auf einer Brücke treffen. Der eine stellt entsetzt fest, dass der andere kurz davor ist, von dieser Brücke zu springen. Um diesen davon abzuhalten, beginnt der Passant ein Gespräch. Es stellt sich heraus, dass sie beide Christen sind, dass sie sogar in vielen Dingen dasselbe glauben. Aber irgendwann kommen die beiden auf eine recht spezifische Lehre zu sprechen. Sie stellen fest, dass sie in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung sind, worauf der Passant dem potentiellen Selbstmörder empfiehlt, nun doch von der Brücke zu springen.

Die Geschichte ist sicherlich übertrieben, macht aber einen wichtigen Punkt: Es besteht die Gefahr, jede Aussage im eigenen Bekenntnis gleich zu gewichten. Dabei gibt es in jedem Bekenntnis wichtigere und weniger wichtige (niemals unwichtige!) Aussagen. Der Glaube an manche Inhalte ist notwendig, um Christ zu sein. Der Glaube an andere Aussagen, ist ebenfalls wichtig, aber Unterschiede in dieser Frage erlauben es mir dennoch, mein Gegenüber als Christ anzusehen.

Um konkret zu werden: Lehnt jemand die Gottheit Jesu ab, die in meinem Bekenntnis bekannt wird, dann ist definitiv keine geistliche Gemeinschaft vorhanden. Sieht jemand die Tauffrage anders, ist das nicht unwichtig (!), aber es verhindert auch nicht geistliche Gemeinschaft.[5]

Das bedeutet: Es ist nicht nur wichtig, was wir glauben, sondern auch, wie zentral und heilsentscheidend eine bestimmte Lehre ist. Gerade die kürzeren Bekenntnisse der frühen Kirche, wie das Apostolische oder das Nicänische Glaubensbekenntnis, sind hier gute Hilfen, da sie kurz und bündig die absoluten Kernwahrheiten des Christentums auf den Punkt bringen.

Mit dem richtigen Herzen

Um als Christ Jesus nachzufolgen, brauchen wir gute Lehre. Gott ist es sehr wichtig, dass wir das Richtige glauben. Deswegen sind Bekenntnisse auch so notwendig. Aber Gott geht es um mehr als das. Ihm geht es darum, dass der richtige Glaube zu richtiger Herzenshaltung und Nachfolge führt.

Um Gott zu gefallen, ist es notwendig, dass ich weiß, was ich glaube, aber es ist nicht ausreichend. Wenn mein Glaubensbekenntnis die Gnade Gottes bekennt, aber ich im Umgang mit anderen gnadenlos bin, dann läuft etwas falsch. Wenn meine Überzeugungen mich anderen gegenüber arrogant machen, dann hat das Bekenntnis sein Ziel verfehlt. Es ist gerade angesichts des Zeitgeistes sehr wichtig zu wissen, was du glaubst und warum du es glaubst. Aber wenn du allein aus Gnade die Wahrheit glauben und bekennen darfst, dann muss dich das anderen gegenüber demütig machen.

 Mit dem richtigen Einsatz

Vor einigen Jahren unterhielt ich mich mit einem anglikanischen Pastor. Irgendwann kamen wir auf das Thema Bekenntnisse zu sprechen. Mein Gegenüber stellte im Laufe des Gesprächs fest: „Wir haben mit den 39 Artikeln ein so gutes Glaubensbekenntnis. Leider liegt es selbst bei uns konservativen Anglikanern viel zu häufig in der Schublade.“

Glaubensbekenntnisse sind wertlos, wenn sie nicht in der Gemeinde ‚leben‘. Dafür ist es wichtig, dass das Bekenntnis gelehrt wird. In der Gemeinde, in der ich Pastor bin, treffen wir uns nach dem Gottesdienst und einer Kaffeepause für eine halbe Stunde ein zweites Mal und gehen gemeinsam Fragen aus dem Heidelberger Katechismus durch. Auf diese Weise hört die Gemeinde die wesentlichen Lehren des Christentums immer wieder und bekommt die Gelegenheit dazu, Fragen zu stellen. Der Katechismus ist auch Teil des biblischen Unterrichts für die Jugendlichen und spielt eine wichtige Rolle bei den Aufnahmegesprächen mit neuen Mitgliedern.

In manchen reformierten Gemeinden ist es sogar üblich, in einem der (in diesem Fall zwei) Sonntagsgottesdienste aus dem Heidelberger Katechismus zu predigen. Andere bekenntnisorientierte Gemeinden lesen und erklären einen Teil ihres Bekenntnisses während des Gottesdienstes zusätzlich zur Predigt.

Es gibt also verschiedene Wege, um dafür zu sorgen, dass die Gemeinde das Bekenntnis immer besser kennen lernt. Entscheidend ist, dass das Bekenntnis in der Gemeinde lebt – damit wir nicht nur wissen, dass wir glauben, sondern auch was wir glauben und warum wir es glauben.

Jochen Klautke ist Pastor der Bekennenden Evangelisch-Reformierten Gemeinde in Gießen und Dozent an der Akademie für Reformatorische Theologie. Daneben gehört er zur Leitung des Jugendnetzwerks josia. Er ist verheiratet mit Natalie und Vater von zwei Kindern.


[1] Beim Abfassen dieses Artikels habe ich auf mehrere Ressourcen zurückgegriffen. Besonders dankbar bin ich für: Carl R. Trueman: Crisis of Confidence. Reclaiming the Historic Christian Faith in a Culture consumed with Individualism and Identity. Wheaton, Ill. [Crossway] 2024.

[1] In den letzten Jahren erkennen mehr und mehr Freikirchen, die traditionell skeptisch gegenüber Bekenntnissen sind, dieses Defizit. Viele von ihnen verfassen eine eigene kurze Glaubensgrundlage, die die wichtigsten Glaubenssätze für die Gemeinde verbindlich auf den Punkt bringt. Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung.

Dennoch sprechen einige Gründe dafür, dass die historischen Glaubensbekenntnisse gegenüber diesen neueren Formen eindeutige Vorteile haben.

Zum einen haben sich die historischen Bekenntnisse über Jahrhunderte bewährt. Als Gemeinde stellt man sich somit zu einem gemeinsamen Glauben nicht nur mit Gemeinden heute, sondern auch mit Gemeinden in der Vergangenheit. Man erweckt nicht den Eindruck, das Rad neu zu erfinden. Zum zweiten wurden historische Glaubensbekenntnisse entweder von einer großen Zahl von Gemeindeleitern gemeinsam verfasst – oder sie wurden zumindest sorgfältig von einer Synode geprüft, bis sie zum verbindlichen Glaubensbekenntnis wurden. Und zum dritten sind historische Bekenntnisse in den meisten Fällen tiefer und gründlicher durchdacht als die heutigen.

[2] Ein eindrückliches Beispiel sind hier die Brüdergemeinden. Auf der einen Seite haben sie bewusst keine historischen Bekenntnisse. Auf der anderen Seite haben sie klare Überzeugungen zu theologischen Fragen (wie beispielsweise zum Verhältnis von Israel zur Gemeinde oder zur Abendmahlszulassung).

[3] Aus dem Lied Bedtime Stories von 1994. Im englischen Original: Today is the last day that I’m using words. They’ve gone out, lost their meaning, don’t function anymore. […] Words are useless, especially sentences. They don’t stand for anything.

[4] Funk, Rainer: Das entgrenzte Ich, erschienen in: WELT am Sonntag am 2. Januar 2005.

[5] An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie man mit Christen umgehen soll, die sich gerne der Gemeinde anschließen wollen, aber nicht in allen Punkten dem Bekenntnis zustimmen. Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, zwischen Gemeindeleitung und Gemeinde zu unterscheiden.

Gemeindeleiter müssen dem Bekenntnis vollständig zustimmen, denn es ist ihre Aufgabe, die Gemeinde auf Grundlage des Bekenntnisses zu lehren und zu schützen. Deswegen ist es wichtig, mit angehenden Pastoren und Ältesten ausführliche Gespräche über die Inhalte des Bekenntnisses zu führen.

Auch Gemeindemitglieder sollten vor der Aufnahme das Bekenntnis gelesen haben und ihm zustimmen, denn das Bekenntnis sollte das Bekenntnis der gesamten Gemeinde sein. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass die angehenden Mitglieder vermutlich nicht alles im Bekenntnis (vollständig) verstanden haben.

Auch ist es sinnvoll, eine Möglichkeit zu schaffen, dass auch Christen Teil der Gemeinde werden können, die Vorbehalte gegen einzelne Aussagen des Bekenntnisses haben. In der Gemeinde, in der ich Pastor bin, gibt es für diese Situation die Möglichkeit einer angeschlossenen Mitgliedschaft. Diese Mitglieder haben dieselben Rechte und Pflichten wie andere Mitglieder auch, dürfen allerdings nicht Teil der Gemeindeleitung werden und sind dazu verpflichtet, nicht für die Unterschiede zu werben. Ob die Abweichungen in der Lehre für die Gemeinde tragbar sind, entscheiden die Ältesten. Außerdem dürfen die Vorbehalte keine Aussage des Apostolischen Glaubensbekenntnisses betreffen.