Das neue Selbstverständnis…
Im ersten Teil dieses Artikels haben wir erkundet, wie sich das innere Selbstverständnis im ehemals christlichen Westen durch langfristige, tiefgreifende Verschiebungen entscheidend verändert hat. Der Einzelne erschafft sich seine eigene Welt, anstatt sich an einer vorgegebenen Wirklichkeit zu orientieren. Die Sinngebung folgt aus der eigenen Bewertung, speist sich jedoch durch zahlreiche Außensignale. Der Selbstausdruck und die Betätigung der Außenwelt nehmen einen zentralen Platz im menschlichen Streben ein. Außenorientierung wird unumgänglich für die Definition der eigenen Identität. Unterstützt wird dieses Selbstverständnis durch den gesellschaftlichen Konsens einer radikalen Skepsis gegenüber der Erreichbarkeit von objektivem Wissen oder Wahrheit. Es ist entscheidend, wer im öffentlichen Diskurs zur Bestimmung des gesellschaftlichen Konsenses gerade die Oberhand behält.
… und die Antwort aus christlicher Sicht
In diesem zweiten Teil wird es jetzt darum gehen, wie eine Antwort aus christlicher Sicht auf unsere Umgebung und das Leben in dieser Umgebung aussehen kann.[1]
Wir beginnen mit den grundsätzlichen Fragen nach (1) der Zugehörigkeit und (2) nach der Zielrichtung von Veränderungen. Eine maßgebliche Rolle spielt daneben die Deutung der Sünde innerhalb des menschlichen Daseins, die ich in zwei Fragen behandeln werde: (3) Wie erklärt sich die auffällige Soll-/Ist-Abweichung? (4) Wie ist es um die menschliche Grundverfassung bestellt? Von da aus geht es schließlich zur Frage, was ein gutes Leben vor Gott – also eine christliche Ethik – ausmacht: (5) Wo liegt die Quelle richtigen Handelns? (6) Welche moralischen Imperative zum richtigen Handeln gehen von der säkularisierten Gesellschaft aus? Die Fragen werde ich zunächst jeweils kurz in Tabellenform beantworten, bevor ich dies anschließend ausführe.
Dieser Dreischritt orientiert sich an der klassischen Aufteilung philosophischer Grundfragen: Es geht zuerst um die Frage nach Gott und dem Sein (Metaphysik), dann um den Menschen (Anthropologie) und schließlich um die Frage des richtigen Handelns (Ethik).[2] Abgerundet wird das Panorama mit einem Minimodell und der Antwort auf die Frage, worauf sich unser innerer Blick richten soll.
Wem gehören wir?
Heutige säkulare Perspektive | Biblische Perspektive |
Wir gehören in erster Linie uns selbst, in zweiter Instanz denjenigen, denen wir uns verpflichtet haben (insbesondere Eltern, Partnern, Kindern). | Wir gehören dem Gott, der uns losgekauft hat, und sind Teil seines Volkes. |
Wer Gott aus seinem Denken und Handeln ausschließt, ist in der Frage der Zugehörigkeit auf einen Reduktionismus angewiesen. Die Achse, um die er sich in der Regel dreht, ist das eigene Selbst. Die Selbstverpflichtung wird zur Grundlage der menschlichen Existenz. Der Mensch bleibt damit auf sich selbst zurückgeworfen. Er vereinsamt.
Dieser primären Verpflichtung an das Selbst folgt nachgeordnet eine willentlich eingegangene Verpflichtung im privaten Umfeld. In aller Regel sind dies Herkunftsfamilie und die selbst gegründete Familie bzw. familien-ähnliche Strukturen. Dementsprechend präsentiert sich auch die Gesetzeslage in unseren Ländern. Wir können Neugeborene beispielsweise nicht (wie in der griechisch-römischen Antike üblich) aussetzen.[3]
Wenn ich mir in erster Linie selbst gehöre, dann wird dies Auswirkungen auf meine Entscheidungen haben. Beziehungen werden angebrochen mit dem Verweis, zu sich selbst zurückkehren zu wollen. Die Bindungen an unsere Nächsten (Ehe, Familie, Freundschaften) tragen Vertragscharakter: Sie gelten so lange, wie sie uns ausreichendend Nutzen versprechen.
Die Rückbesinnung auf die Tatsache, dass der Schöpfer uns gemacht hat und nicht wir selbst (vgl. Ps 100,3) und dass Ihm die gesamte Erde (also auch der Mensch) gehört (Ps 24,1), muss in Verkündigung und Seelsorge oft wiederholt werden. Gott erwirbt sich sein Volk durch das Blut seines eigenen Sohnes (Apg 20,28). Jesus selbst bezahlte das Lösegeld für den Loskauf vom Sklavenmarkt der Sünde (Mk 10,45;[4] vgl. Hebr 2,15).
Die Anerkennung des grundsätzlichen Herrschaftsanspruchs und Verfügungsrechts Gottes über das eigene Ich kann heute nicht genügend hervorgehoben werden, weil auch in christlichen Gemeinden dieses Verständnis oftmals auf ein anders erlebtes und gelebtes Verständnis in der Alltagswelt prallt.
Veränderung wozu?
säkular | biblisch |
Umgestaltung des eigenen Lebens zur besseren Übereinstimmung (inneren Stimmigkeit) mit sich selbst. | Liebe zu Gott und den Mitmenschen durch das Halten seiner Gebote; Prozess der Heiligung |
Auf der Basis der gelösten Frage nach der Zugehörigkeit folgt die Frage, wie wir während unseres Lebens mit Veränderungen umgehen sollen. Äußerliche Veränderungen bezüglich unserer Verhältnisse (Familienstand, Wohnort, Beruf) wie auch innerliche Anpassungen (Selbstausdruck, ausgedrückt durch Stilmerkmale wie Kleidung, Aussehen oder Freizeitbeschäftigung) unterliegen „dem Prüfkriterium der inneren Stimmigkeit“.[5] Fragt man nach dem Anlass für eine Veränderung, folgt häufig die unmittelbare Antwort: „Es hat sich richtig angefühlt.“ Dies fällt mir z. B. immer wieder auch bei Vertretern der sogenannten Babyboomer-Generationen[6] auf, die sich zunehmend im Rentenalter befinden. Sie stellen sich nach dem Ausstieg aus dem Arbeitsleben so auf, dass sie in der Gemeinde kaum mehr zur Verfügung stehen, weil sie ständig auf Reisen sind.
Dies widerspricht der biblischen Antwort nach dem Sinn unseres Lebens. Die Aufgabe unseres Daseins besteht darin, Gott und den Nächsten zu lieben (Mt 22,37-40). Die Freude ist Resultat einer konsequenten Orientierung an dem, der uns erschaffen und erlöst hat. Sie wird nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern ist Frucht des Handelns Gottes an uns. Die Bibel spricht von Heiligung: Wir werden in das Bild seines Sohnes verwandelt (vgl. Röm 8,29).
Wie erklärt sich die Soll-/Ist-Abweichung?
säkular | biblisch |
Der Grund für den Unterschied von Soll (so sollte es sein) und Ist (so ist es): Meine innere Zufriedenheit ist nicht so, wie sie (meines Erachtens) sein sollte. | Die Abweichung ist bedingt durch die im Menschen herrschende Sünde: Er will sich Gottes Gesetz nicht unterordnen. Dies wirkt sich indirekt auf alle Institutionen aus. |
Eine der offensichtlichsten Tatsachen ist eine deutliche Differenz zwischen dem Idealzustand und der erlebten Wirklichkeit. Dies macht der Blick in die Tageszeitung ebenso deutlich wie der ehrliche Blick in das Leben eines x-beliebigen Menschen. Denken wir nur an die schrecklichen Folgen eines Krieges.
Alle Menschen sind sich grundsätzlich darin einig, dass diese Abweichung besteht. Die entscheidende Frage ist: Wie kann diese Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit überwunden werden? Wenn der Referenzpunkt das eigene Selbst ist, lautet die Antwort: Passe deine Umstände (wenn möglich) so an, dass du möglichst große innere Erfüllung erlebst.
Damit kommen wir gleich zur nächsten Frage:
Wie steht es um die menschliche Grundverfassung?
säkular | biblisch |
Der Mensch ist gut oder potenziell gut. Umgebung und Umstände deformieren ihn. | Der Mensch ist als Gottes Ebenbild geschaffen; die Sünde löst weder Struktur noch Verantwortung auf, sie entstellt jedoch jeden Aspekt unseres Menschseins. |
Die Schuld an der Spannung zum inneren Ideal hat in aller Regel die Umgebung zu tragen. Sie kann im engeren Sinn auf prägende Personen (Eltern, Lehrer) bezogen werden; im erweiterten Sinne wird jedoch oft die Schuld auf Systeme (Schule, Banken, Staat) geschoben. Die Rahmenbedingungen sind nicht optimal, weshalb der Mensch „deformiert“ wird. Aus dieser Zwangsjacke muss er sich wiederum befreien.
Die Bibel dreht diese Diagnose um: Sie verortet die Problematik in erster Linie im menschlichen Herz (Lk 6,45). Das Problem ist nicht, dass der Mensch zu wenig weiß, sondern es ist dem Unwillen geschuldet, sich Gottes Ordnung unterzuordnen (vgl. Röm 8,7). Lehrer und Eltern sind natürlich ebenfalls von diesem Problem betroffen. Es ist auch unbestritten, dass Institutionen – die ja ebenfalls von Sündern gesteuert werden – Menschen schaden können.
Nun könnte man fälschlicherweise den Umkehrschluss ziehen, dass der Mensch in seinem Streben und Wirken restlos dem Untergang geweiht sei. Dies trifft im Hinblick auf seinen geistlichen Zustand zu: Er ist tot in Sünden und Vergehungen (Eph 2,1). Selbst in seinem gefallenen Zustand bleibt er jedoch in Gottes Ebenbild erhalten (vgl. 1Mos 5,3; 9,6). Weder seine Struktur – wie Verstand, Wille oder Emotionen – noch seine Umgebung sind so zerstört, dass Leben und Entwicklung nicht mehr möglich wären. Noch befindet sich der Mensch in einem unentschuldbaren Zustand (vgl. Röm 1,20; 2,1). Nicht die Struktur an und für sich ist das Problem, sondern die Verkehrung des Ziels und des Strebens. Aus diesem Elend muss der Mensch erlöst werden, wie selbst Paulus als erlöster Mensch ausrief (Röm 7,24).
Wo liegt die Quelle richtigen Handelns?
säkular | biblisch |
Jeder Mensch entscheidet darüber, welche Werte für ihn richtig und falsch sind. Davon ausgenommen sind gesetzliche Regelungen, die den momentanen Konsens einer Gesellschaft festhalten (und darum verhandelbar sind). | Die für uns wesentlichen moralischen Richtlinien sind uns zuverlässig in Gottes Wort mitgeteilt. |
Erst der erlöste Mensch erhält eine neue Sicht (vgl. Eph 1,18) und ein wiederhergestelltes Streben (vgl. Röm 8,3f). Alles, was für ein gottgefälliges Leben nötig ist, hat ihm Gott in der schriftlichen Offenbarung seines Wortes mitgeteilt (2Pt 1,3; 2Tim 3,16.17). Er befindet sich nicht mehr in einem Vakuum, in dem ihm Entscheidungen abhängig von seinen Gefühlen aufgenötigt werden. Natürlich ringt er nach wie vor mit vielen Unwägbarkeiten. Er weiß jedoch um seinen Zustand und kennt die Person, an die er sich wenden soll (vgl. Ps 50,15).
Welche Aufforderungen zum Handeln gehen von der säkularisierten Umgebung aus?
säkular | biblisch |
Lebensstilmerkmale als Kennzeichen einer neuen Moral (Klima, fleischlose Ernährung, Impfung…) | Menschliche Autorität endet an der Stelle, an der die Heilige Schrift schweigt. Das Gewissen des Einzelnen ist an diese gebunden. Gemeindeälteste haben davon abgeleitete Autorität. |
Lange Zeit dachte ich selbst, dass die Zeit der vollkommenen Orientierungslosigkeit und der Beliebigkeit, in der jeder auf seine eigene Entscheidung zurückgeworfen bleibt, noch länger andauern werde. Die letzten Jahre belehrten mich jedoch eines Besseren. Das Vakuum wurde – in einer für mich beängstigenden Geschwindigkeit – mit einer neuen Moral gefüllt. Einzelne Gruppen – medial allgegenwärtig – setzen sich vehement für das Klima ein. Unternehmer posten von sich, dass sie im Nachtzug zur Verwaltungsratssitzung fahren, anstatt zu fliegen. Jugendliche lesen die Zutatenliste auf Lebensmittelpackungen, um zu erfahren, ob Palmöl enthalten ist. Und wer sich nicht impfen lassen wollte, musste mit erheblicher gesellschaftlicher Ächtung kämpfen. Dies bestätigt: Kein Mensch kann ohne Gebote leben. Wenn er sich nicht an Gottes gute Ordnung hält, muss er mit einem Ersatz vorlieb nehmen. Das Dogma, dass es keine Dogmen gebe, entpuppte sich als eigentliches unverrückbares Gebot unserer post-modernen Gesellschaft. Im Windschatten dieses Dogmas konnten sich neue Dogmen einnisten. Grundsätzliche Errungenschaften wie die freie Meinungsäußerung, die wir für unaufhebbar hielten, drohen der neuen öffentlichen Moral zum Opfer zu fallen.
Damit wird im Hinblick auf die christliche Gemeinde ein wichtiges Prinzip wiederum viel sichtbarer: Die menschliche Autorität endet nämlich an der Stelle, an der die Heilige Schrift schweigt. Das Gewissen des Einzelnen kann nicht an den Konsens einer Gruppe von Menschen gebunden werden. Die Autorität der verantwortlichen Ältesten einer Gemeinde gilt beispielsweise nur auf Grundlage der göttlichen Offenbarung.
Ein Minimodell zur Re-Orientierung[7]
Trevin Wax hat die innere Blickrichtung als Vorgabe für das menschliche Streben in unserer post-modernen Zeit treffend zusammengefasst: „Es gibt einen roten Faden, der sich durch unsere Gesellschaft zieht: Der Sinn des Lebens besteht darin, nach innen zu schauen (als erstes), sich dann umzusehen (für Unterstützung und Bestätigung) und abschließend nach oben zu schauen (für Inspiration). So funktioniert es. Die Menschen definieren sich selbst, verfolgen eigene Wünsche, stellen sich anderen zur Schau und entwerfen dann gelegentlich – wenn nötig – ein neues Selbst, während Sie sich durchs Leben bewegen.“
Diesen innerlich-orientierenden Blick üben wir von klein auf ein. Leider geschieht dies auch in christlichen Familien. Der erste Abgleich erfolgt nach innen: Passt es mir? Fühlt es sich gut an? Der Außenblick erfolgt dann zur Selbstbestätigung: Pflichten mir die anderen bei? Geht der Daumen hoch – in der Realität und virtuell?[8] Gott wird als eine Art kosmischer Coach in dritter Instanz hinzugezogen: Kannst du mich bestätigen? Gibst du mir etwas Inspiration?
Schauen – in der richtigen Reihenfolge
Überlege dir, lieber Leser, was dich zurzeit belastet und was dir Mühe bereitet. Womit ringst du? Was passt dir ganz und gar nicht an der momentanen Situation? Versuche es in Worte zu fassen oder gar niederzuschreiben. Dann beginne in folgender Reihenfolge betend damit umzugehen:
- Aufwärts blicken –Ich schaue zuerst darauf, wer Gott ist, was er getan hat und welche Maßstäbe er gegeben hat.
- Seitwärts blicken –Dann geht mein Blick zur neuen Gemeinschaft, in die ich hineingestellt bin (Gemeinde).
- Erst dann nach innen blicken –Schließlich betrachte ich das, was Gott in mir bereits getan hat und gerade tut.
Hanniel Strebel ist studierter Betriebswirt und promovierter Theologe. Beruflich begleitet er seit über 20 Jahren Lern- und Entwicklungsprozesse in Unternehmen. Mit seiner Frau Anne Catherine hat er fünf Söhne.
[1] Vor einiger Zeit habe ich ein ähnliches Set von Fragen unter dem Titel Christliche vs. säkulare Beratung in Form einer Podcastserie publiziert. https://soundcloud.com/search?q=christliche%20vs.%20säkulare (abgerufen am 20.2.2023).
[2] Es fehlt noch die Frage nach der Wahrheit bzw. der Gewinnung von Erkenntnis (Epistemologie). Diese Überlegungen sind bereits in den ersten Teil eingeflossen.
[3] Leider geht die Tendenz genau in diese Richtung. Die Phasen, in denen der Mensch am verletzlichsten ist, werden zunehmend weniger geschützt. Kinder im Mutterleib werden getötet; alte Menschen, ihrer Funktionalität entledigt, können ‚freiwillig‘ aus dem Leben scheiden.
[4] Der Begriff Lösegeld wurde damals für den Freikauf von Sklaven verwendet.
[5] In einem Blogeintrag mit dem Titel „Meine Jagd nach einem guten Gefühl“ wird dies treffend beschrieben. Siehe: https://scholablog.ch/2022/11/18/meine-jagd-nach-einem-guten-gefuehl/ (abgerufen am 08.12.2022).
[6] Landläufig handelt es sich hier um die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit (1946-1964), also in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum sogenannten Pillenknick.
[7] Vgl. Trevin Wax: Rethink Your Self. The Power of Lookin Up Before Lookin In. Nashville [B & H Books] 2020. Hierzu habe ich eine Podcastserie erstellt. Siehe https://soundcloud.com/hanniel-strebel/rethink-yourself-i-erfinde-dich-selbst-und-bleib-dir-treu (abgerufen am 08.12.2022).
[8] Trevin Wax beschreibt anhand der Familie seiner Frau, die aus dem ländlichen Rumänien entstammt, ein alternatives Paradigma in vielen Stammesgesellschaften. Dort geht der erste Blick nach außen zur Orientierung am eigenen Clan. Diese beiden gesellschaftlichen Paradigmen geraten oft in der Einwanderergeneration in Konflikt miteinander.