Grußwort des Schriftleiters

Grußwort des Schriftleiters

Deine Gnade ist besser als Leben.

Psalm 63,4a

Mit diesem Bekenntnis Davids grüße ich Sie zur 77. Ausgabe der Bekennenden Kirche. David betete dieses Wort, als es um ihn herum sehr eng geworden war. In der Wüste Juda waren ihm seine Verfolger dicht auf den Fersen. Bei jemandem, der sich in einer solchen Situation befindet, könnte man annehmen, dass er sich ganz und gar mit seiner Bedrängnis befasst. Zu vermuten ist, dass David entschlossen darüber nachsinnt, wie er aus dieser misslichen Lage hinausgelangt. Aber der Psalm 63 – bitte lesen Sie diese 12 Verse insgesamt – verkündet eine andere Botschaft: David blickt auf Gott den Herrn, und zwar Nacht und Tag. Er erwartet seine Hilfe von dem Gott, der aus seinem himmlischen Heiligtum alles lenkt und zu seiner Zeit eingreift.

Die Wichtigkeit des Alten Testamentes für das Irdische

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also ungefähr in den zurückliegenden sieben Jahrzehnten, haben wir Christen es wieder gelernt, das Alte Testament als einen wichtigen Teil des Wortes Gottes zu sehen und zu schätzen. Natürlich hat die neutestamentliche Gemeinde immer gewusst, dass das Alte Testament zum Wort Gottes gehört. Aber man braucht nun wirklich nicht intensiv zu suchen, um Schriften oder Artikel aus dem 18., dem 19. oder dem beginnenden 20. Jahrhundert zu finden, in
denen mehr oder weniger unverhohlen die Ansicht vertreten wurde oder man es wie selbstverständlich voraussetzte, dass das Alte Testament für die Christen im Großen und Ganzen uninteressant sei: Das Alte Testament verkündige den zornigen Gott, und das Evangelium suche man darin vergeblich.

Ohne Frage begegnet einem eine derartige Ansicht auch noch heute. Aber sie ist schwächer geworden. Man hört sie nicht mehr so laut. In bibeltreuen Gemeinden hat sich inzwischen herumgesprochen, dass das Alte Testament von Christus spricht und somit das Evangelium Gottes bezeugt. So lehrt es der Sohn Gottes selbst (zum Beispiel: Joh. 5,39) und dann auch seine Apostel (zum Beispiel: Röm. 1,1-3).

Auch die im Alten Testament gegebenen Verheißungen werden mittlerweile in der Gemeinde Gottes wieder ernster genommen. Man hat erkannt, dass sie für die heutige Zeit keineswegs überholt sind, sondern auch für die neutestamentliche Gemeinde gelten.

Veranschaulichen wir uns das anhand einer Verheißung, die der Apostel Paulus im Epheserbrief zitiert, also gerade in dem Brief, in dem er so viel von der himmlischen Berufung der Gemeinde Gottes spricht. Gerade in diesem Brief geht es streckenweise sehr irdisch zu.

Das am Berg Sinai gegebene Gebot, Vater und Mutter zu ehren, wird in diesem Brief nicht nur angeführt, sondern es wird ausgeweitet, es wird universalisiert: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, das ist das erste Gebot mit einer Verheißung: damit es dir gut geht und du lange lebst auf Erden (Eph. 6,2.3).

Dieses Gebot gilt also überall. Überall dort, wo sich heutzutage Menschen an dieses Gebot halten, dürfen sie diese Verheißung in Anspruch nehmen. Natürlich gilt auch das Umgekehrte: Wenn eine Gesellschaft meint, darauf verzichten zu können, Vater und Mutter zu ehren, wenn sie meint, deren Autorität verachten zu können („Alte“), und wenn staatliche Regelungen und Verordnungen es darauf anlegen, die Kinder mehr und mehr der Autorität ihres Vaters und ihrer Mutter zu entziehen (politisch korrekt müsste ich inzwischen sogar schreiben: der Autorität von „Elternteil 1“ und von „Elternteil 2“), dann wird ein so geistig tyrannisiertes und manipuliertes Gemeinwesen eben nicht mehr lange leben auf Erden. Es wird sich auflösen. Es wird zerfallen. Es wird zugrunde gehen.

Zurück zum Alten Testament. Als in den vergangenen Jahrzehnten das Alte Testament in Gemeinden und Kreisen wieder mehr Aufmerksamkeit erhielt, fielen natürlich auch Aussagen auf, in denen dem Volk Gottes die Dankbarkeit gegenüber Gott dem Schöpfer für das irdische Leben in den Mund gelegt wurde.

Zweifellos war und ist das ein Gewinn. Viele fromme, pietistische Christen schienen bis dahin gerade deswegen das Alte Testament zu meiden, weil es sich zu wenig auf die Ewigkeit ausrichten würde und darin zu viel vom Irdischen die Rede sei.

Denken wir an die zahlreichen praktischen Wegweisungen, die man aus dem Buch der Sprüche erhielt und die man inzwischen in der Gemeinde wieder mehr zu schätzen begann. Und ja, man las auch mit Interesse wieder das Hohelied Salomos, das bekanntlich so außerordentlich positiv über die körperliche Dimension der Beziehung zwischen Mann und Frau spricht.

Auch die Gebote, in denen Gott sein Volk aufruft, sich angesichts der Ernte zu freuen und die Schöpfungsgaben zu genießen, schlugen ein (3Mos. 23,40; 5Mos. 12,12; 14,26; 16,11.14; 26,11; Neh. 9,36; Ps. 149,2). Irgendwann entdeckte man die Wahrheit, dass Gottes Schöpfungsgaben zu genießen sind, sogar auch im Neuen Testament (1Tim. 6,17).

Als ich ein junger Theologiestudent war und bei Augustinus las, dass wir „Gott genießen“ sollten, während wir diese Welt [nicht genießen, sondern lediglich] „gebrauchen“ sollten, [1] da meinte ich zu wissen, dass man dies so keinesfalls formulieren und gegeneinanderstellen dürfe.

Auf jeden Fall scheinen wir heutzutage an dem Punkt angelangt zu sein, dass wir uns verwundert die Augen reiben und verblüfft die Frage stellen: Wie konnten die Christen überhaupt jemals auf die Idee kommen, dass die Heilige Schrift uns von der irdischen Wirklichkeit wegholt? Jedenfalls ist in der Bibel von Weltflüchtigkeit nirgendwo etwas zu lesen.

Folglich scheinen wir in der Gegenwart keinerlei Probleme mehr zu haben, unseren Körper ausspannen zu lassen. Viele von uns fiebern in diesen Tagen dem bald zu erwartenden Urlaub entgegen. Wer will ihnen eine solche Auszeit verübeln? Die Bibel, so wissen wir inzwischen, missgönnt uns jedenfalls eine Erholungszeit nicht.

Das Irdische ist das Vorletzte

Nun aber ist es aufschlussreich, dass wir in der Heiligen Schrift, und – wohlgemerkt – bereits im Alten Testament das Wort finden: Deine Gnade ist besser als Leben.

Täusche ich mich, wenn ich befürchte, dass sich heutzutage die Frage an uns eher richtet, ob wir dieses Wort genauso in uns hineinsinken lassen, wie wir den biblischen Aussagen über das Genießen von Gottes Schöpfung Beachtung geschenkt haben und schenken? Trifft uns das Psalmwort, dass es Besseres gibt als das irdische Leben? Versetzt es uns angesichts unserer privaten Lebensführung in Unruhe, zumindest aber in Verwunderung? Ja, schau, das steht auch in der Bibel und sogar im Alten Testament! Oder lassen wir das Wort, dass Gottes Gnade besser ist als Leben, allzu schnell an uns vorüberrieseln?

Dann wäre das dadurch verursacht, dass wir auf das Sichtbare fixiert sind, dass wir verweltlicht sind, oder wie man mit einem Fremdwort sagt: säkularisiert.

Gerade angesichts der bevorstehenden Urlaubszeit wollen wir uns erneut durch die Botschaft des Wortes Gottes insgesamt ertappen lassen: Sowohl das Alte Testament als auch das Neue Testament schätzen unser irdisches Dasein hoch. Aber gleichzeitig relativieren beide Teile des Wortes Gottes es auch. Wie hoch auch immer das irdische Leben zu bewerten ist, angesichts der Gnade, die wir von unserem himmlischen Vater in Jesus Christus empfangen, fällt das Irdische ins Nichts. Die überwältigende Herrlichkeit und die Macht der Gnade Gottes und der Glanz des Himmels sind besser als unser Leben hier und jetzt. Gottes Ewigkeit ist beglückender als alles, was das zeitliche Dasein uns zu bieten vermag.

Das Irdische steht nicht immer der Gnade Gottes entgegen, aber …

Bitte missverstehen wir uns nicht: Das Irdische und das Himmlische, oder wie man heute häufig zu sagen pflegt, das Vorletzte und das Letzte, stehen nicht unbedingt gegeneinander. Das irdische Leben und die Gnade Gottes können durchaus eine Zeitlang zusammengehen. Wie gesegnet kann ein Volk sein, wenn es sich an die Gebote Gottes bindet! Es gibt auch keinen Grund, dass wir die Güte Gottes nicht an unserem irdischen Glück ablesen dürfen. Aber bitte übersehen wir dabei niemals, dass das irdische Leben und die Gnade Gottes nicht zusammenfallen. Sie sind nicht identisch.

Es wird in unserem Leben immer wieder Zeiten geben, in denen wir zu wählen haben und uns entscheiden müssen: Entweder – oder. Entweder mein irdisches Glück oder die ewige Gnade Gottes. Wenn wir uns niemals auf diese Wahl vorbereitet haben, dann wird sie uns eines Tages überfallen.

Das Alte Testament läuft hinaus auf das Neue Testament, und das Neue Testament hat einen wesentlich stärkeren vertikalen Sog als das Alte Testament, schon aufgrund seiner zentralen Botschaft, des Himmelreichs, das der Sohn Gottes gebracht hat. Der Aufwind hin zur Ewigkeit ist hier kraftvoller.

Wenn diese Wahrheit in der Gemeinde Gottes nicht mehr unzweideutig verkündet wird, sondern sie sich allmählich aus den Predigten verflüchtigt, wo sonst sollte die Nachricht über das, was wirklich zählt, zu Wort kommen? Täusche ich mich, wenn ich beobachte, dass wir sogar in Krankheits- oder Trauerfällen über die Perspektive auf die Ewigkeit eher schweigen als sie bezeugen? Wenn das der Fall ist, dann sind wir nicht in der Lage, wirklich zu trösten.

Gottes Gnade ist besser als Leben. Falls diese herrliche Wahrheit unter uns mehr und mehr zu einer geheim gehaltenen Sache wird, dann lassen Sie uns dieses Tabu schnellstens durchbrechen.

Vor etlichen Jahren kam ein Wortverkündiger mit einem Hindu in ein Gespräch. Der Inder fragte den Pastor nach seinem Beruf. Dieser überlegte kurz, wie er ihm seinen Dienst erklären könne. Schließlich antwortete er: „Ich bereite die Menschen auf ihr zukünftiges Leben bei Gott vor.“ Es war überraschend, wie schnell der Hindu verstand, worum es bei der Tätigkeit eines evangelischen Predigers und Seelsorgers im Kern geht. Ich frage mich: Wenn man heutzutage eine solche Erklärung in einer Gemeinde abliefern oder gar in einem theologischen Seminar vertreten würde, müsste man sich dann nicht auf massiven Widerspruch gefasst machen? Ist nicht inzwischen das Berufsbild eines Pastors immer mehr verkommen zu dem eines Lebenshilferatgebers für Allerweltsprobleme oder zu dem eines Moderators, der das pluriforme Gemeindeleben am Laufen zu halten habe, oder sogar zu dem eines Entertainers, also eines Gemeindebespaßers?

Ist uns noch klar, worum es in einem Gottesdienst geht? Nämlich darum, Gott zu dienen, und zwar nicht um des privaten „Wohlfühlens“ willen, sondern um dem allmächtigen, ewigen Gott Ehre, Dank und Lob darzubringen, und zwar um seiner selbst willen.

Lassen Sie uns nicht vergessen, dass wir das Wort, dass die Gnade Gottes besser ist als Leben, bereits im Alten Testament lesen, das über das irdische Leben unbestritten so weitgehend bejahend spricht.

Zu dieser Aussage aus Psalm 63 gibt es noch andere alttestamentliche Parallelen. Denken wir an die Antwort, die Asaph auf die bedrängenden Fragen seines Lebens findet: Wen habe ich im Himmel außer dir: Und neben dir begehre ich nichts auf Erden. Wenn mir auch Leib und Seele vergehen, so bleibt doch Gott ewiglich meines Herzens Fels und mein Teil. Denn siehe, die fern von dir sind, gehen ins Verderben, du vertilgst alle, die dir hurerisch die Treue brechen. Mir aber ist die Nähe Gottes köstlich. Ich habe Gott den Herrn zu meiner Zuflucht gemacht, um alle deine Werke zu verkündigen (Ps. 73,25-28). Asaph, der zunächst in diesem Psalm an seinen Lebenskrisen zu zerbrechen droht, verstand am Schluss des Psalms, dass durch irdisches Wohlergehen niemals Gott und seine Gnade ersetzt werden können.

Wenn Gott uns hier auf Erden Positives schenkt, dann wollen wir seine Schöpfungsgaben dankbar aus seiner Hand annehmen. Und wenn er uns diese Gaben vorenthält, dann hat er dafür seine Gründe, und wir nehmen es im Glauben an. Wie auch immer: Lassen Sie uns festhalten: Gottes Gnade ist besser als Leben.

Was bringt die BEKENNENDE KIRCHE?

  • Die Sünde Noahs. So hat der der Dozent am Seminar für Biblische Theologie in Beatenberg (CH), Boris Giesbrecht, die Wortverkündigung überschrieben, in der er uns 1.Mose 9,18-29 auslegt. Im Lauf seiner Predigt beantwortet er die Frage, was uns die Sünde eines anderen angeht und wie wir damit umzugehen haben. Aber damit nicht genug: Wir werden sehen, wie Gott einen Fluch in Segen verwandelt.
  • Anhand eines kleinen, nahezu unscheinbaren Briefes im Neuen Testament erläutert Pastor Ludwig Rühle, wie wir mit einer Anfechtung fertig werden können, die wohl schon jeden von uns beschlichen hat: Es gibt Krach in der Gemeinde, die Fetzen fliegen. Und jetzt? Wie soll ich mich verhalten? Soll ich mich zurückziehen? Anhand von Beobachtungen aus dem dritten Johannesbrief zeigt der Verfasser, wie darauf zu reagieren ist: Trotz Ärger – in Liebe für die Wahrheit.
  • Warum hat Jesus den Feigenbaum verflucht? Es war ja noch nicht die Zeit, dass Feigen zu erwarten waren! Oder vielleicht doch? Pastor Greg Lanier geht auf diese Frage ein, und er behandelt auch, was das alles mit unserem Leben zu tun hat.
  • Sich treiben lassen und dann Kompromisse schließen. Wer weiß nicht von dieser Versuchung? Anhand des Lebens von Lot, dem Neffen Abrahams, zeigt Dr. Hanniel Strebel die schleichenden Gefahren auf, die uns in solchen Situationen bedrohen. Der Titel seines Artikels lautet: Die gequälte Seele.
  • Neues von der Akademie für Reformatorische Theologie. Bitte lesen Sie, was an dieser theologischen Ausbildungsstätte im zu Ende gehenden Studienjahr unter anderem ablief.
  • Sehr gerne weisen wir hin auf die Rubrik Das empfehlen wir Ihnen zu lesen. Hier finden Sie thematisch recht unterschiedliche Bücher. Wir sind davon überzeugt, dass die rezensierten Bücher für Sie hilfreich sein können. Bitte lesen Sie sich die Buchbesprechungen durch, und lassen Sie sich anregen, sich das eine oder das andere zur Lektüre anzuschaffen.

Es ist der Wunsch aller Mitarbeiter der Bekennenden Kirche, dass Sie durch die vorliegenden Artikel erkennen mögen, dass Gottes Gnade besser ist als das Leben. Bitte geben Sie dieses Heft auch anderen zum Lesen weiter. Oder aber teilen Sie der Geschäftsstelle Adressen von Menschen mit, von denen Sie überzeugt sind, dass Ihnen die Artikel der Bekennenden Kirche zum Segen sein können. Es wäre allerdings gut, wenn Sie diese Leute vorher fragen, sodass sie sich nicht überfallen vorkommen, wenn sie dann von uns Post bekommen.

Ihr
Jürgen-Burkhard Klautke

[1] Lateinisch: „frui“ versus „uti“.