„Er wird anfangen, das Volk Gottes aus der Hand der Feinde zu erretten“
Der Abschnitt über Simson beginnt mit der Aussage: „Die Kinder Israel taten wiederum, was böse war in den Augen des Herrn …“ (Ri. 13,1). Wer wissen möchte, wie es in der Gegend, in der Simson aufwuchs, also zwischen Zorea und Estaol (Ri. 13,2.25.), in geistlicher Hinsicht zuging, sollte Richter 18 lesen: Männer aus seinem Stamm, aus seiner Heimatgegend (siehe: Ri. 18,2.8.11) bastelten an ihrer eigenen Religiosität. Das Ergebnis war ein götzendienerischer Religionsmischmasch. Wem dieser Einblick in die damalige Lebenswelt noch nicht ausreicht, der lese gleich weiter: Richter 19. In diesem Kapitel erhalten wir einen Einblick in die unmoralischen Zustände, wie sie unweit von Simsons Heimatort vorkamen.
Das Volk des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs praktizierte nicht nur Derartiges, sondern es hatte sich offensichtlich an solche Zustände gewöhnt. Sie waren gewissermaßen zur Normalität geworden. Aber menschliche Gewöhnung hin oder her: In den Augen Gottes war und blieb es Sünde. Deswegen gab Gott sein Volk in die Knechtschaft (Ri. 13,1).
Doch anstatt aufzuwachen, umzukehren und zu Gott um Rettung aus seiner Bedrängnis zu schreien, arrangierte sich das Volk Gottes mit den Philistern. Der geistliche Unterschied zwischen ihnen und den Unbeschnittenen schien für die Israeliten jede Bedeutung verloren zu haben.
Doch der allmächtige Gott, der sein Volk in dieses Gericht geworfen hatte, ergriff auch die Initiative, um sein Volk zu retten. Dazu erwählte er Simson. Obwohl Gott seine Hand auf Simson von Geburt an gelegt hatte, schien Simson in den üblichen Verhaltensweisen seiner Zeit verstrickt gewesen zu sein. In seinem Verhalten zeigten sich die gleichen Konzessionen und Kompromisse gegenüber den Unterdrückern wie bei seinen Volksgenossen. Offensichtlich konnte sich Simson bestens vorstellen, mit Leuten aus dem Volk seiner Unterdrücker auf gutem Fuß zu leben. Zum Beispiel fand er nichts dabei, eine Philisterin zur Frau zu nehmen.
Dann aber musste Simson unvermittelt lernen, dass er einer gewaltigen Täuschung aufgesessen war. Ausgerechnet die Frau, die er zur Ehefrau begehrte, betrog ihn auf seiner Hochzeitsfeier. Dass sie sich in dieser Weise als williges Werkzeug jener Mächte erwies, war für Simson ein Alarmsignal. Zum ersten Mal schien er einen Begriff davon bekommen zu haben, dass ein Gegensatz zwischen dem Volk Gottes und den Unbeschnittenen besteht. Die Erkenntnis, „Philister über dir“, griff von nun an in sein Herz und in seinen Verstand. Sie bestimmte zunehmend sein Denken. Was das konkret heißt, erfahren wir in Richter 15. Bitte lesen Sie zunächst das ganze Kapitel in einer guten Übersetzung.
„Ausgeliefert“
Das 15. Kapitel des Buches Richter berichtet von den gegenseitigen Gewaltaktionen zwischen Simson und den Philistern. Es geht hier gewalttätig und blutig zu. Aber das Verstörendste der in diesem Kapitel berichteten Ereignisse sind nicht eigentlich die Gewalttaten, sondern das ist die Begebenheit, als Simson durch Leute seines eigenen Volkes an die Philister ausgeliefert wird (Ri. 15,12). Im Vergleich zu den verhältnismäßig kurzen Mitteilungen über die gewalttätigen Aktionen wird dieses Ereignis detailliert geschildert.
“ … ausgeliefert …“ Dieses Wort erinnert uns erneut an unseren Heiland. Auch unser Herr wurde durch sein eigenes Volk an die Heiden ausgehändigt (Mt. 27,1.2.18; Apg. 3,13). Tatsächlich lassen sich ohne große Schwierigkeiten zahlreiche formale Übereinstimmungen zwischen den beiden Ereignissen entdecken: In beiden Fällen wurde derjenige ausgeliefert, den Gott mit der Absicht gesandt hatte, dass durch ihn das Volk errettet würde (Ri. 13,3–5; Apg. 2,23). Dazu wurden beide gefesselt (Ri. 15,12.13; Joh. 18,12); beide nahmen dieses Gebundenwerden freiwillig auf sich, denn sie hatten die Möglichkeit, sich gegen ihre Gefangennahme zur Wehr zu setzen (Ri. 15,14; Mt. 26,52.53); in beiden Fällen erfolgte die Fesselung mit der von vornherein erklärten Absicht, die Gefangenen nicht selbst töten zu wollen (Ri. 15,13; Mt. 26,4); und in beiden Fällen war Unglaube der Beweggrund für das Tun der Menschen. Dabei leitete sie offensichtlich die Berechnung, es sei besser, dass einer für das ganze Volk sterbe, als dass das ganze Volk zugrunde gehe (Joh. 11,49.50).
Aber das, was wir bereits in den vorangegangenen Artikeln notierten, trifft auch bei diesen Parallelen zu: Die auffallenden formalen Ähnlichkeiten zwischen dem Sohn Gottes und Simson öffnen gerade den Blick für die Verschiedenheit. Während nach seiner Übergabe an die Philister die Stricke von Simson „wie Flachsfäden, die das Feuer versengt hatte“ abfielen und Simson daraufhin viele Philister niedermähte (Ri. 15,14.15), ging unser Herr nach seiner Auslieferung wehrlos, wie ein Lamm zur Schlachtbank (Jes. 53,7), ans Kreuz. Dieses kann uns als Hinweis darauf dienen, dass große Fähigkeiten und Begabungen allein nicht ausreichen, um Gottes Volk zu erlösen. Dafür ist mehr erforderlich. Besser: Dafür ist anderes erforderlich. Noch besser: Dafür ist jemand anderes erforderlich, und zwar jemand, der dem Simson qualitativ, letztlich unendlich überlegen ist. Dafür bedarf es des Sohnes Gottes.
Insofern stellt sich Simson als ein Antitypos zu unserem Herrn dar. Was dieser Ausdruck meint, kann am besten daran deutlich werden, dass der Apostel Paulus den Sohn Gottes als „letzten Adam“ bezeichnet. Durch diese Ausdrucksweise wird Christus in eine Beziehung zu dem ersten Menschen gesetzt. Allerdings verfolgt er dabei die Absicht, gerade den Unterschied zwischen beiden herauszustellen (Röm. 5,12ff.; 1Kor. 15,45ff.). Entsprechend verhält es sich bei Simson.
Der nicht geplante Streit
Bevor wir auf die Beziehung zwischen Simson und Christus am Schluss des Artikels zurückkommen, wollen wir zunächst das Geschehen im Anschluss an die total fehlgeschlagene Hochzeit verfolgen. Simson machte sich von seiner Hochzeit direkt zu einer der zentralen Städte des Philisterreiches auf, nach Askalon, tötete dort dreißig Männer, nahm ihnen deren Gewänder weg und händigte sie vereinbarungsgemäß den Gefährten aus, die sein Rätsel gelöst hatten.
Dann war erst einmal Pause. Simson kam keineswegs auf den Gedanken, nun den Kampf gegen die Philister aufzunehmen. Stattdessen kehrte der Nasiräer in sein Elternhaus zurück (Ri. 14,19). Nach einiger Zeit fasste er den Entschluss, zu seinem Schwiegervater aufzubrechen, um dort seine Frau aufzusuchen, die nach dem Hochzeitsfiasko in ihrem Elternhaus lebte.
Ob sich Simson bei diesem Trip von der Überlegung leiten ließ, er müsse seiner Frau trotz allem treu sein, also, obwohl seine Frau ihn gleich zu Beginn seiner Ehe reingelegt, ihn vor der versammelten Hochzeitsgesellschaft lächerlich gemacht und ihm so von Anfang an zu verstehen gegeben hatte, dass sie nicht wirklich zu ihm gehört, ist nicht deutlich. Aber indem er ihr ein Geschenk, ein Ziegenböcklein, mitnahm (Ri. 15,1), bekundete er, niemand brauche sich vor ihm zu fürchten, er komme nicht in feindseliger, sondern in friedlicher Absicht. Für ihn standen die Zeichen auf Versöhnung.
Natürlich stellt sich die Frage: Selbst wenn die Ereignisse auf seiner Hochzeit für ihn abgehakt waren, konnte Simson allen Ernstes damit rechnen, dass auch die Philister nicht nachtragend waren und sein Gemetzel in Askalon vergessen hatten? Auf jeden Fall schien es für sie ausgemacht gewesen zu sein, dass Simson seine Frau inzwischen verschmähte (Ri. 15,2).
Als Simson gerade im Begriff stand, das Zimmer seiner Frau zu betreten, offenbarte ihm sein Schwiegervater, dass seine Frau inzwischen an einen seiner damaligen Hochzeitsgäste gegeben worden war. Damit brach Simsons Weltbild erneut zusammen. Wiederum wurde ihm vor Augen geführt, wer im Land das Sagen hatte und die Interpretationshoheit besaß. Das Angebot, die jüngere Schwester zu nehmen, war für den Erbitterten nicht akzeptabel (Ri. 15,2.3).
Simson fing 300 Schakale (oder: Füchse; beide Übersetzungen sind möglich), band jeweils die Schwänze von zweien dieser Tiere zusammen, klemmte eine Fackel hinein, zündete sie an und ließ die in Todesangst versetzten Tiere in die erntereifen Felder und Olivengärten der Philister rennen, um das stehende Getreide, die Garbenhaufen wie auch die Olivengärten in Brand zu setzen und so die Nahrungsversorgung der Philister zu vernichten (Ri. 15,1.4.5).
Bis er die Schakale gefangen und für die Vernichtung der Ernte präpariert hatte, wird sicher eine Zeit vergangen gewesen sein. Schon daraus geht hervor, dass Simson nicht aus dem Affekt heraus handelte. Wenn Simson in blindem Jähzorn gewütet hätte, hätte er sich vermutlich an seiner Schwiegerfamilie gerächt. Aber das tat er nicht. Sein Zorn war kontrolliert und berechnend. Auch sein Ausruf, „dieses Mal bin ich unschuldig, wenn ich den Philistern Böses antue“ (Ri. 15,3), weist darauf hin, dass er sich beim vorherigen Mal, also bei der Erschlagung der 30 Philister in Askalon, wohl nicht so ganz unschuldig gefühlt hatte. Dagegen würde sich nun niemand über ihn beschweren können. So fasste er eine Tat ins Auge, mit der er die Philister in ihrer Gesamtheit traf.
Wo bleibt der Tierschutz?
Angesichts der zusammengebundenen, mit brennenden Fackeln in die Felder gejagten Schakale taucht vermutlich bei uns die Frage nach dem Tierschutz auf. Tatsächlich ist aus der Perspektive des Umgangs mit der Schöpfung ein solches Vorgehen nicht akzeptabel.
Wenn man die Heilige Schrift befragt, wie in jener Zeit die Beziehung zwischen Mensch und Tier gestaltet war, dann scheint es sich folgendermaßen verhalten zu haben: Es bestand in jener Zeit durchaus eine Bindung zwischen Mensch und Tier. Aber dieses Verhältnis bezog sich auf die Haustiere, also auf die Esel, Schafe, Ziegen usw. Was an Tieren außerhalb des Viehs existierte, wurde nicht selten mit wenig Mitgefühl behandelt. Außerdem galten gerade Schakale als unrein (siehe zum Beispiel: Hiob 30,28.29; Ps. 44,19.20; 63,10.11; Jes. 13,20-22; Jer. 9,10; 10,22).
Aber bevor uns diese Differenzierung innerhalb der Tierwelt zu dem Gedanken verleitet, wir würden es in unserem Kulturkreis besser machen, sollten wir uns der Frage stellen, ob es sich nicht heute nur umgekehrt verhält. Für Wildtiere kann man sich gar nicht genug einsetzen. Zum Beispiel können in unseren Breiten Wölfe oder gar Bären, die bereits Schafe und Ziegen gerissen haben, nicht genug geschützt werden. Dagegen wird nicht selten unser Schlachtvieh durch halb Europa gekarrt, ohne anständig auch nur mit Wasser versorgt zu werden.
Abgesehen von dem Vergleich zwischen unserer und der damaligen Kultur ist zu bezweifeln, ob man sich bei diesem Geschehen so stark auf das Thema der Tiermisshandlung konzentrieren sollte. Jedenfalls ist diese Frage in der Heiligen Schrift der Thematik des Durchbruchs des Reiches Gottes untergeordnet.
Keineswegs selten treten in der Bibel Tiere als Instrumente für das Gericht Gottes auf. Zum Beispiel kündet Gott an: „Ich will viererlei über sie bringen, spricht der Herr: Das Schwert soll sie hinrichten; die Hunde sollen sie herumschleifen; die Vögel des Himmels und die Tiere des Feldes sollen sie fressen und vertilgen“ (Jer. 15,3). Im letzten Buch der Bibel wird uns bei der Öffnung des vierten Siegels geschildert: „Ich sah, und siehe, ein fahles Pferd, und der darauf saß, dessen Name ist „der Tod“, und das Totenreich folgt ihm nach. Und ihnen wurde Vollmacht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten … durch die wilden Tiere der Erde“ (Offb. 6,8).
Weil diese Schöpfung der „Nichtigkeit“ unterworfen ist und auf ihre Befreiung harrt, eine Befreiung, die eng verbunden ist mit dem Offenbarwerden der Söhne Gottes (Röm. 8,19.20), eignen sich Christen wirklich nicht als (auch nur verkappte) Vertreter einer eindimensionalen ökologischen One–World–Ideologie (Eine–Welt–Denkweise).
Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich werden Christen gegenüber der Fauna und der Flora nicht gleichgültig sein oder gar verantwortungslos mit der Schöpfung umgehen, geschweige denn die Umwelt mutwillig zerstören. Aber insgesamt lehrt das Wort Gottes, dass die „Ehrfurcht vor dem Leben“ niemals der letzte „Wert“ eines Christen sein kann, sondern allenfalls der vorletzte. Die letzte Ehrfurcht gilt dem, der das Leben gibt.
Volk Gottes – wohin gehörst du eigentlich?
Nach der Erntevernichtung schaukelte sich der Konflikt zwischen Simson und den Philistern Schlag auf Schlag hoch. Simsons Anschlag auf die Nahrungsversorgung war für die Philister Anlass, sich an Simsons Schwiegervater und seiner (ehemaligen) Frau zu vergreifen: Sie verbrannten sie (Ri. 15,6). Damit wurde an ihr genau das vollzogen, was die Philister der Braut angedroht hatten, falls sie ihnen nicht die Lösung des Rätsels verraten würde (Ri. 14,15). Simson reagierte daraufhin mit Vergeltung: Erneut gab es unter den Philistern Tote (Ri. 15,7.8). Der Konflikt war offen ausgebrochen.
Im Anschluss an dieses Blutbad kehrte Simson nicht in sein Elternhaus zurück. Vielmehr zog er in eine Höhle des Felsens Etam (Ri. 15,8). Über die Beweggründe für diese Entscheidung sagt die Bibel nichts. Aber die Vermutung liegt nahe, dass Simson erst einmal zur Ruhe kommen wollte, um das, was er erlebt hatte, innerlich zu verarbeiten: Seine Ehe war endgültig gescheitert, ja die Frau, die ihm bis vor kurzem so begehrenswert erschienen war, war inzwischen eine verkohlte Leiche. Außerdem musste es ihm darum gehen, körperlich wieder zu Kräften zu kommen. Denn eines war klar: Die Philister würden ihre Toten nicht lange ungerächt lassen. Tatsächlich brachen die Philister bald auf, um mit Simson endgültig abzurechnen.
Wie bereits bei der letzten Racheaktion der Philister fällt auf, dass sie nicht direkt gegen Simson vorgingen. Vielmehr wählten sie erneut einen für sie ungefährlichen Weg: Sie überschwemmten mit ihren Truppen das Land, in dem der Stamm Juda siedelte (Ri. 15,9).
Die Frage der Männer Judas, „warum seid ihr gegen uns heraufgezogen?“ (Ri. 15,10), zeugt von ihrer Verwunderung. Sie hatten doch stets die Vorherrschaft ihrer Unterdrücker akzeptiert! Sie hatten ihnen nie Mühe bereitet! Sie hatten doch immer alles daran gesetzt, ihren Herren zu gefallen! Warum jetzt dieser Aufmarsch?
Die Antwort ihrer Unterdrücker war unverhohlen: „Wir sind heraufgekommen, um Simson zu binden, damit wir ihm das antun, was er uns angetan hat“ (Ri. 15,10). Diese direkte Auskunft führte beim Volk Gottes unverzüglich dazu, dass es sich leisetreterisch fügte. Ja, die Männer aus dem Stamm Juda waren dermaßen eingeschüchtert, dass sie sich bereit erklärten, für ihre Herren die Gefangennahme Simsons zu übernehmen. Sage und schreibe dreitausend (!) Mann machten sich auf, um Simson zu stellen und gefangen zu nehmen. Bei ihm angekommen, stellten sie ihm zwei entlarvende Fragen.
Die erste Frage, „Weißt du nicht, dass die Philister über uns herrschen?“ (Ri. 15,11), enthüllt, dass sie sich selbst mit der Fremdherrschaft der Philister abgefunden hatten: Simson, dass die Philister über uns herrschen, gehört zu den Basisfakten, von denen wir in unserem Leben auszugehen haben. Folglich ist es zwingend erforderlich, sich ruhig und kooperativ zu verhalten.
Ihre zweite Frage, „Warum hast du uns das angetan?“ (Ri. 15,11), zeigt, dass sie sich so sehr in ihrer Knechtschaft eingerichtet hatten, dass sie nicht nur die Philister als ihre Herren akzeptierten, sondern ihre Lage aus dem Blickwinkel der Philister beurteilten: Simson, wenn es einen Gegner für uns gibt, dann sind es nicht die Philister, sondern dann bist du es! Du bereitest uns Unannehmlichkeiten! Es ist doch vollkommen nachvollziehbar, dass die Philister jetzt auf uns böse sind und so aufgebracht reagieren! Du bist schuld!
Unmissverständlicher konnte das von Gott abgefallene Volk kaum demonstrieren, dass es mit der Herrschaft seiner Unterdrücker nicht nur seinen Frieden geschlossen hatte, sondern mit ihnen offen kollaborierte. Es dachte noch nicht einmal daran, als Vermittler zwischen Simson und den Philistern aufzutreten. Die Männer Judas sahen ihre Aufgabe darin, Erfüllungsgehilfen der Philister zu sein. Sie blickten nicht nur auf die Kräfteverhältnisse und entschieden sich für die Seite der (vermeintlich stärkeren) Bataillone, sondern ihr ganzes Reden offenbarte eine dermaßen große Unkenntnis darüber, wem sie aufgrund des Bundes Gottes gehörten, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie hätten alles daran gesetzt, vor den Unbeschnittenen ihre Waffen zu strecken, – wenn sie denn noch welche gehabt hätten, die sie hätten strecken können. Anstatt als Salz und Licht in dieser Welt von Gott Zeugnis abzulegen, waren sie dermaßen mit einer geistlichen Leere angefüllt, dass ihnen nichts wichtiger war als ihre Ruhe. Hätte Simson die dreitausend Männer aufgerufen, gemeinsam mit ihm gegen die Philister in den Kampf zu ziehen, er wäre nicht nur auf Unverständnis gestoßen, sondern hätte Lachsalven geerntet.
Einst war der Stamm Juda der erste gewesen, der treu in die Schlacht gegen die Feinde Gottes gezogen war (Ri. 1,1.2). Gerade dieser Stamm hatte die Verheißung, dass seine Hand auf dem Nacken seiner Feinde sein werde (1Mos. 49,8). Aber nun, am Ende der Richterzeit, ruhte die Hand dieses Stammes auf dem Nacken seines Bruders. Dagegen nahmen sie die Schmach, dass eine fremde Macht in ihrem Haus die Herrschaft ausübte, nicht mehr als solche wahr. Möglicherweise bewunderten sie sogar ihre Unterdrücker: Konnte man von ihnen nicht profitieren?
Diese Ereignisse erinnern in beklemmender Weise an das Geschehen am Schilfmeer: „Mose, warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten herausgeführt hast?! Haben wir dir nicht bereits in Ägypten gesagt: ‚Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen‘?“ (2Mos. 14,11.12). Auch in dieser Situation erschien dem Volk Gottes nicht etwa Pharao mit seiner Heeresmacht als sein Feind, sondern Mose, also derjenige, der im Begriff stand, sie in die Freiheit zu führen.
Geradezu höhnisch muss es in den Ohren Simsons geklungen haben, als die Männer ihm versicherten, sie wollten ihn auf gar keinen Fall töten. Ihre Absicht sei lediglich, ihn zu fesseln und den Philistern auszuliefern (Ri. 15,12.13). Als wenn nicht klar war, dass eine Auslieferung an die Philister auf seine Hinrichtung hinauslaufen würde! Möglicherweise aber wollten sie so weit gar nicht denken. Denn dann hätte es ihnen nur Mühe bereitet, ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen.
Die große Befreiung
Es ist das Eine, Feinde zu haben. Es ist etwas Anderes, von Brüdern verraten zu werden, zumal dann, wenn sie selbst den Kampf gegen die herrschenden Mächte aufgegeben oder sich sogar beim Feind eingereiht haben.
Dass Simson sich widerstandslos von den Männern seines eigenen Volkes fesseln ließ, zeigt, dass man ihm nicht gerecht würde, wenn man ihn einfach als hitzköpfigen Raufbold skizzierte. Es ist keineswegs so, dass er unterschiedslos alles platt machte oder aus dem Weg räumte. Auch wenn die Männer Judas als Handlanger der Philister zu ihm herangerückt waren und ihn als Unruhestifter denunziert hatten, ließ er sich durch diese massiven Vorwürfe erstaunlich wenig provozieren. Simson wusste, wann er zu kämpfen hatte und wann er sich widerstandslos zu ergeben hatte. Seine Aggression war zielgerichtet. Er war ein Nasiräer Gottes. Er hatte eine Passion: den Kampf gegen die Feinde des Volkes Gottes. Sein eigenes Volk befehdete er nicht.
Bevor jedoch Simson sich binden ließ, verlangte er von den Judäern den Eid, dass sie ihn nicht töten würden: „Schwöret mir… dass ihr selbst nicht über mich herfallen wollt“ (Ri. 15,12). So ging Simson als ein Gebundener zu den Philistern, und doch freiwillig.
Für die Philister bedeutete der Anblick des gefesselten Simson den totalen Triumph. Sie waren nicht nur endlich ihres Erzfeindes habhaft geworden, sondern es hatte sich herausgestellt, dass das Volk Gottes zu jeder unterwürfigen Handlung bereit war.
Den Philistern wäre jedoch ihr Gejohle im Hals stecken geblieben, wenn sie geahnt hätten, dass die Auslieferung Simsons der Beginn ihrer eigenen Niederlage war. Als Simson das Triumphgeschrei der Feinde vernahm, kam der Geist des Herrn über ihn. Die Stricke um seine Arme schmolzen „wie vom Feuer versengte Flachsfäden“ (Ri. 15,14). Ähnlich wie Jahrzehnte vorher, als die Philister gerade anfingen in das Land Kanaan einzudringen, der Richter Schamgar mit einem Rinderstachel gegen die mit Eisenwaffen bestückten Philister vorgegangen war (Ri. 3,31), fand Simson einen frischen, also einen noch nicht vertrockneten, sondern stabilen Kinnbacken eines Esels und erschlug damit tausend Mann. Ein großer Sieg!
Simson – ein Werkzeug Gottes
Die Aussage, dass der Geist Gottes über Simson kam (Ri. 15,14; 13,25), zeigt, dass dieser Mann in seinem Kampf gegen die Philister im Dienst Gottes stand. Dieses wird bestätigt durch den gesamten Bericht über Simson: Simson war von Geburt an Gott geweiht, er wurde unter den Richtern als einziger „Nasiräer“ genannt (Ri. 13,5.7), und er war der einzige, von dem es ausdrücklich heißt, dass Gott ihn segnete (Ri. 13,24). Dass sich Simson bei dieser Niederlage seiner Berufung als Richter Gottes bewusst geworden war, kommt möglicherweise dadurch zum Ausdruck, dass er unmittelbar nach dem Blutbad an den Philistern den Eselskinnbacken, also das Unreine, wegwarf (Ri. 15,17).
Aber auch wenn Simson seinen Kampf gegen die Philister als Werkzeug des Herrn geführt hatte, weist die Heilige Schrift auch darauf hin, dass Simson an den Philistern Rache ausübte. Ausdrücklich wird dieses erwähnt, nachdem seine Schwiegerfamilie von den Philistern verbrannt worden war (Ri. 15,7.11) und er gegen die Philister „gewaltige Schläge“ ausführte (Ri. 15,8). Kurz vor Ende seines Lebens betete Simson sogar zu Gott, dass er sich wegen seines verlorenen Augenlichtes an den Philistern noch einmal „rächen“ möge (Ri. 16,28). Ein persönlich motivierter Beweggrund kommt auch in Richter 14,19 zum Ausdruck. In dieser Hinsicht stellte er sich auf die gleiche ethische Stufe wie die Philister, die ebenfalls aus Rache handelten (Ri. 15,10).
Bei dem hier in Richter 15,15–17 berichteten Niedermähen lesen wir nicht ausdrücklich, dass sich Simson rächte. Man könnte sogar die Auffassung vertreten, in diesem Fall sei es überhaupt nicht Rache gewesen, sondern Notwehr. Während das Wort Gottes das Ausüben von Rache ausdrücklich verbietet, sowohl im Alten Testament (Spr. 24,29; 25,21.22) als auch im Neuen (Mt. 5,44.45; 1Petr. 3,9; Röm. 12,19.20), ist die Notwehr nicht unbedingt verboten (2Mos. 22,1; Luk. 22,36).
Trotzdem bleibt die Frage bestehen: Wie ist es möglich, dass sich der Geist Gottes bei Simson mit dessen Vergeltungsdenken verbindet und ausgerechnet durch ihn eine so „große Rettung“ gab?
Eine Antwort darauf werden wir vermutlich nur dann finden, wenn wir uns an Richter 14,4 erinnern: „Gott suchte einen Anlass gegen die Philister“. Das Unrecht, das Simson widerfahren war und weswegen er sich gegen die Philister zur Wehr setzte, gebrauchte Gott, um sein Volk aus dem Würgegriff der Philister zu befreien. Die bei Simson persönlich motivierte Rache, die zur Vernichtung der Ernte und zu Gemetzeln an den Philistern führte, verwendete Gott für seine Ziele.
Erinnern wir uns an das Wort Josephs: „Ihr gedachtet mir zwar Böses zu tun, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ (1Mos. 50,20).
Ähnliches finden wir häufiger in der Bibel. Zum Beispiel bei Gideon. Über diesen Richter heißt es: Der Herr war mit ihm (Ri. 6,12.16), der Herr beauftragte ihn (Ri. 6,14), der Geist des Herrn kam über Gideon (6,34); Gott gab ihm Zeichen, dass er durch seine Hand die Midianiter besiegen konnte (Ri. 6,36–40); Gott bereitete durch Gideon und seine kleine Schar den Midianitern eine gewaltige Niederlage (Ri. 7,9–25). Dann aber erfahren wir ziemlich am Schluss des Berichtes über Gideon, dass er, bzw. seine Familie, eine schon länger zurückliegende persönliche Fehde mit den Fürsten der Midianiter auszufechten hatte (Ri. 8,18–21).
Während in der Regel in jeder Kinderbibel das Erstere ausführlich berichtet wird, lässt man das Letztere gerne weg. Warum? Kommt darin möglicherweise unser „frommes“ Bestreben zum Ausdruck, die Männer der Bibel, die so genannten Glaubenshelden, besser aussehen zu lassen, als sie es tatsächlich waren? Wenn das die Motivation ist, stellt sich die Frage: Kommt in diesem „Glätten“ der Lebensbilder der Männer der Bibel nicht eine Form von Bibelkritik zum Ausdruck, dieses Mal zugunsten eines mehr pietistischen Heiligkeitsverständnisses?
Schließlich ist es ja sehr demütigend, anzuerkennen, dass wir auch dann, wenn wir im Dienst Gottes stehen, immer Sünder bleiben und uns über die Motivationen unserer jeweiligen Handlungsweise nur sehr begrenzt im Klaren sind.
Ein derartiges Auseinanderklaffen zwischen menschlicher, fleischlicher Motivation und einem von Gott–in–den–Dienst–Gestelltsein ist keineswegs auf das Alte Testament beschränkt.
Paulus erwähnt einmal, dass es zu seiner Zeit Wortverkündiger gab, die sich darüber freuten, dass Paulus im Gefängnis saß. Denn dadurch konnten sie zum Zuge kommen. Diese Männer predigten Christus aus Neid und Eifersucht. Es ist aufschlussreich, wie Paulus darauf reagiert: „Was macht das aus? Jedenfalls wird auf alle Weise, sei es zum Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt, und darüber freue ich mich, ja ich werde mich auch weiterhin freuen!“ (Phil. 1,15–18).
Wohlgemerkt: Diese Männer predigten nichts Falsches. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte Paulus gegen sie Stellung bezogen. Diese Prediger verkündeten Christus in einer dem Bild der biblischen Lehre gemäßen Weise. Aber ihre Motive waren eigensüchtig. Das fleischliche, egozentrische Verhalten dieser Verkündiger wird von dem Apostel auch nicht gutgeheißen. Dennoch reagiert Paulus gelassen.
In der Zeit zwischen dem Sündenfall und dem Offenbarwerden seiner Herrschaft am Ende der Zeit führt Gott der Herr in dieser Weise sein Zepter: Er merzt Sünde und Finsternis nicht (immer) aus. Er beseitigt nicht (unbedingt sofort) seine Widersacher. Vielmehr übt er seine Herrschaft so aus, dass er inmitten seiner Feinde regiert (Ps. 110,1.2) Er „wartet“ (Hebr. 10,13) und „lacht“ (Ps. 2,4).
Nicht nur die Geschichte Israels, sondern auch die Kirchengeschichte gibt davon Zeugnis. Das ist allerdings auch der Grund dafür, warum Gottes Herrschaft hinter den befleckten und besudelten Worten und Taten von uns Menschen so häufig verborgen und rätselhaft bleibt. Gerade in dieser Art und Weise seines Wirkens zeigt sich aber sein Ruhm. Das wundersame Handeln Gottes, der auch „auf krummen Linien gerade schreibt“, wird an Simson offenbar: Verborgen hinter der persönlich motivierten Rache handelt Gott zur Rettung seines Volkes.
Aus Glauben
Damit ist nicht gesagt, dass Gott der Herr die fleischlichen Motivationen seines Knechtes unbeachtet lässt. Das sehen wir nicht nur daran, wie Simsons Leben endet. Wir sehen es auch in der folgenden Szene (Ri. 15,15–20), in der Gott seinen Knecht in die Schule nimmt.
Das Lied, das Simson nach der Niedermetzelung der Philister angestimmt hatte (Ri. 15,16), enthüllt seine Einstellung: Ich war es, der die Philister totschlug. Übermütig schrieb er den Sieg, den der Herr durch ihn gewirkt hatte, sich selbst zu.
Ich hatte einmal einen Studenten, der in mehreren Ländern, ja in mehreren Erdteilen, Theologie studiert hatte. Nachdem er fertig geworden war und eine Gemeinde übernommen hatte, dachte er von seinen Fähigkeiten sehr hoch. Als ich einmal mit einem Kollegen über ihn sprach, formulierte dieser es so: Dieser Betreffende hat mehr studiert als es für sein Denken gut ist. Das war eine feine Weise zum Ausdruck zu bringen, dass dieser junge Mann höher von sich dachte, als es für ihn gut war. Tatsächlich musste er dann noch durch eine Schule hindurchgehen, die ihm durch noch so vortreffliche Professoren und hervorragend ausgestattete Bibliotheken nicht geboten werden konnte.
Im Folgenden werden wir Zeuge, wie Gott seinen erfolgsverwöhnten Knecht zur Nüchternheit zurückpfeift, das heißt: zum Glauben. Simson verspürte Durst. Als Simson an den Haufen der niedergehauenen Philister vorüber schritt, konnte er es vergessen haben, möglicherweise auch wir: Simson war ein begrenzter Mensch, in jeder Weise von Gott abhängig. Nun drehte sich bei ihm plötzlich alles um ein wenig Wasser. Wenn er es nicht bekommen hätte, wäre er umgekommen oder in die Hände der Philister gefallen (Ri. 15,18). So schnell kann sich die Lage ändern.
Gott führte auf diese Weise seinem Knecht vor Augen, dass es keinen Grund zum Übermut gab, dass er keineswegs der große Supermann war. Auf diese Weise rückte Gott die Wirklichkeit wieder zurecht: „…damit offenbar wird, dass die Kraft aus Gott kommt und nicht aus dem irdischen Gefäß“ (2Kor. 4,7).
Während Simson im Lied unmittelbar nach der Schlacht gesungen hatte, „mit einem Eselskinnbacken habe ich…“, sprach er nun anders: „Du hast durch die Hand deines Knechtes diese große Rettung gegeben“ (Ri. 15,18). Das Wort „du“ ist im hebräischen Grundtext stark betont. Simson erhält wieder die rechte Perspektive.
Der Schreiber des Hebräerbriefes zählt Simson zu den Männern, die „durch Glauben“ gehandelt haben (Hebr. 11,32). Von den in den folgenden Versen summarisch aufgezählten Handlungen beziehen sich wahrscheinlich die Aussagen „der Schärfe des Schwertes entkommen“, „aus der Schwachheit zu Kraft gelangt“, „im Kampf stark geworden“ auf ihn (Hebr. 11,33–34). Vermutlich ist Simsons Glaube nirgendwo besser erkennbar als in diesem Gebet.
In der bibelkritischen Theologie, deren so genannte historisch–kritische Methoden darin übereinstimmen, dass sie die Geschichtlichkeit der Simson–Berichte bestreiten,1 wird die „Simson–Erzählung“ häufig in Analogie zu Heroen und Halbgötterfiguren aus der Mythologie des Altertums gestellt. Sehr gerne verweist man auf Herakles und dessen Heldentaten.
Im Grunde aber wird an solchen Konstruktionen deutlich, wie wenig diese Theologen den Bericht über Simson verstanden haben.
Simson war ein starker Mann, aber er war kein Held. Eher trifft das Gegenteil zu: Gerade anhand des über Simson Berichteten wird uns der Wahn menschlichen Heroen– und Übermenschentums in seiner ganzen Lächerlichkeit vor Augen geführt. Simson steht am Ende dieses Kapitels eben nicht als ein Supermann da, sondern als ein zu Gott Flehender. Er tritt nicht auf als jemand, der sich auf dem Schlachtfeld in Siegerpose präsentiert, sondern als ein durch die Wüste Umherirrender, der, wenn Gott nicht sein Gebet erhört hätte und aus einem Felsen eine Quelle hätte entspringen lassen, elend verdurstet wäre. Dieser Beter nannte den Ort „Quelle des Rufenden“. Was bringt Beten anderes zum Ausdruck als vor Gott Zeugnis von der eigenen Armut und Bedürftigkeit abzulegen?
Richter zur Zeit der Philister
Im letzten Vers des 15. Kapitels lesen wir, dass Simson Israel 20 Jahre richtete (Ri. 15,20). Natürlich stellt sich die Frage, warum das bereits hier erwähnt wird. Eigentlich würde man diese Bemerkung erst am Ende von Simsons Leben erwarten. Tatsächlich taucht diese Aussage dort noch einmal auf (Ri. 16,31), allerdings mit einem Unterschied. Während es in Ri. 16,31 heißt, er hatte Israel 20 Jahre lang gerichtet, heißt es am Ende des 15. Kapitels: Er richtete Israel zur Zeit der Philister 20 Jahre lang.
Will der Heilige Geist mit dem Hinweis „zur Zeit der Philister“ darauf aufmerksam machen, dass Simsons Tätigkeit als Richter nicht wie bei den anderen Richtern dazu geführt hatte, dass „das Land [von den Feinden] Ruhe hatte“ (Ri. 3,11.30; 5,31; 8,28), sondern dass Simsons Richtertätigkeit gerade darin zum Ausdruck kommt, dass die Philister zwar noch an der Macht waren, es also noch „die Zeit der Philister“ war, aber dass er dem Volk Gottes die Augen für diese Tatsache geöffnet hatte? Er hatte den Seinen klar gemacht, was es heißt „zur Zeit der Philister“ zu leben. Noch hatten die Unbeschnittenen das Sagen. Noch hatte das Volk Gottes dem Simson nur zugeschaut, wie er gekämpft hatte. Aber immerhin, aus dieser Zuschauerwarte hatte es wenigstens den Sieg Simsons über die Philister wahrnehmen können. Es hatte beobachtet: Die Philister sind nicht unüberwindbar. Insofern war das Volk Gottes zumindest am Rand in den Kampf einbezogen.
Zeitlich nicht viel später dürfte dann die erste Schlacht des Volkes Gottes gegen die Philister stattgefunden haben. Es war Samuel, der dazu aufrief (1Sam. 4,1.2). Die würdeloskriecherisch Leisetreterei hatte aufgehört. Aber es waren noch viele geistige Bollwerke, die sich im Lauf der Richterzeit im Volk Gottes festgesetzt hatten, zu zerstören.
Wie sehr die Israeliten noch zur Zeit der ersten Schlacht gegen die Philister geistig vernebelt waren, zeigt sich daran, dass bei den Männern Israels nach einer Niederlage die Auffassung aufkam, wenn die Bundeslade bei ihnen sein würde, dann würde alles gut werden (1Sam. 4,3.4). Sie betrachteten also die Lade des Bundes Gottes als eine Art Glücksbringer, als eine Art Amulett mit Erfolgs-Garantie. Folglich wurden die Israeliten beim Anblick der herbeigebrachten Bundeslade in einen Selbstvergewisserungstaumel versetzt. (1Sam. 4,5).
An das Denken in Kategorien von Glücksbringern war das Volk Gottes aus seinen götzendienerischen Praktiken gewöhnt (siehe Ri. 18,18–31). In seinem betörten Denken hatte es diese Kategorien auf Gott übertragen und sich in die Idee verrannt, der souveräne Gott lasse sich durch religiöse Tricksereien einfangen oder gar manipulieren. So etwas bezeichnet man heute gewöhnlich als „weiße Magie“. „Magie“ ist es aber trotzdem, und damit verboten.
Es sollten danach weitere zwanzig Jahre ins Land gehen, in der das Volk Gottes weiterhin unter der Knute der Unbeschnittenen geknechtet blieb, bis dann durch den Dienst Samuels weitere geistige Bollwerke zertrümmert wurden.
Erst musste das Volk Gottes wieder lernen, dass es bei Gott dem Herrn nicht um magische Religiosität oder Spiritualitätserfahrungen geht, sondern ganz einfach um die Wahrheit. Erst musste sich das Volk wieder „wehklagend“ zu Gott, dem Herrn, im Gebet wenden, die fremden Götter hinwegtun, sein Herz (!) zu Gott kehren und ihm allein dienen (1Sam. 7,3.4). Nachdem es dann in Mizpa mit „seinem ganzen Herzen“ zu Gott umgekehrt war und seine Sünden bekannt hatte (1Sam. 7,5.6), wurden die Philister zum ersten Mal besiegt (1Sam. 7,7–14).
Im Vergleich zu diesem Sieg mag uns das, was Simsons Aufgabe als Richter war, geringfügig erscheinen. Simson beurteilte das jedoch ganz anders. Er spricht von einer „großen Rettung“, die Gott durch ihn gewirkt hatte (Ri. 15,18). Ist es nicht auch heute etwas Großes, wenn Christen, wenn Gemeinden wieder anfangen aufzuwachen, so dass sie sich darüber im Klaren werden, was es heißt, im Bund Gottes zu stehen?
Simson – Christus
Zu Beginn dieses Artikels sagten wir, dass zwischen Simson und Christus Parallelen bestehen, die am besten im Sinn einer Antitypos–Beziehung zu deuten sind. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass der Heilige Geist in der Art und Weise, in der er die Begebenheiten über Simson hat niederschreiben lassen, unser Denken immer wieder in diese Richtung lenkt.
Zu Beginn dieses Artikels wurden wir auf Parallelen zwischen dem Ausgeliefertwordensein Simsons einerseits und der Gefangennahme des Sohnes Gottes andererseits aufmerksam. Wenn wir das gesamte 15. Kapitel des Richterbuches überblicken, zeigen sich unschwer noch weitere Züge, die an Christus erinnern.
Sowohl Simson als auch der Sohn Gottes waren auf dem Weg, den sie gehen mussten, einsam. Niemand stand ihnen bei (Ri. 15,8; Mt. 26,40.42). Sie mussten das Werk Gottes allein vollbringen (Ri. 15,14.15; Jes. 63,1–6). Mehr noch: Beide wurden auch von ihrem eigenen Volk nicht nur nicht angenommen, sondern abgelehnt (Ri. 15,11–13; Joh. 1,11). In beiden Fällen stellte sich der Verrat und der Treuebruch an dem von Gott Gesandten als Beginn der Niederlage der Feinde und der Erlösung des Volkes Gottes heraus, und zwar ohne dass den Betroffenen das klar war (Apg. 3,13–15; vergleiche 1Kor. 2,8).
Aber auch hier gilt: So sehr die Lebensgeschichte Simsons an den Sohn Gottes erinnert, so bezeichnend sind die Unterschiede. Simson errang seinen gewaltsamen Sieg auf einem Hügel, den er Ramat–Lechi nannte, zu Deutsch: Knochenhügel (Ri. 15,17). Christus errang einen gewaltlosen Sieg auf einem ganz anderen Hügel, der den Namen Golgatha trägt, zu Deutsch: Schädelstätte (Mt. 27,33).
Simsons Durst lässt an den denken, der am Kreuz ausrief: „Mich dürstet“. Aber der Unterschied ist offensichtlich: Während Simson in seiner Bedrängnis erfrischendes Quellwasser erhielt (Ri. 15,19) – er wurde, als es darauf ankam, von Gott nicht verlassen – gab es für den, der am Anfang seines Wirkens Wasser in Wein verwandelte (Joh. 2,7–11), am Ende in seiner abgrundtiefen Not nur mit Myrrhe vermischten Essig (Mt. 27,34.48).
Auf noch einen Unterschied sollten wir unser Augenmerk lenken: Während der Mensch Simson nach seinem Sieg in Ramat–Lechi ermattet war, lesen wir von Christus, dass er nach seinem Sieg auf Golgatha auferstand. Seit diesem Sieg über den Tod und über den Teufel ist er nie mehr ermattet. Seitdem trägt er „ohne zu ermüden“ dafür Sorge, dass „das Recht auf Erden gegründet wird und seine Lehre bis an die fernen Inseln getragen wird“ (Jes. 42,4). Wer wollte angesichts dieses Siegers kleingläubig verzagen?
1) Hier ist es völlig egal, ob die Kapitel über Simson mit den so genannten Quellenscheidungsmethoden, der Formkritik, der Redaktions-, bzw. Traditionskritik oder der in den letzten Jahrzehnten in Mode gekommenen „Rhetorischen Kritik