Anfänge einer Reformation (Teil 4) – Richter 16

Anfänge einer Reformation (Teil 4) – Richter 16

„Er wird anfangen, das Volk Gottes aus der Hand der Feinde zu erretten“

„Mein Name ist wunderbar (oder: wundersam)“. So hatte sich der lebendige Gott bei der Geburtsankündigung den Eltern Simsons vorgestellt (Ri. 13,18). Eines ist aus den bisherigen Berichten über Simson deutlich geworden: Es erscheint verwunderlich, dass Gott ausgerechnet einen Mann wie Simson dazu ausersah, um „anzufangen, sein Volk aus der Hand der Philister zu erretten“ (Ri. 13,5).

Dieses Wundersame zeigt sich zum einen daran, wie Simson sein Richteramt ausübte. Normalerweise hoben die von Gott berufenen Richter Truppen aus, um dann gegen die jeweilige Besatzungsmacht des Volkes Gottes Krieg zu führen und sie zu vertreiben. Bei Simson verhielt sich das anders. Dieser Mann arbeitete stets allein. Zwar tötete auch er eine nicht geringe Anzahl von Unterdrückern des Bundesvolkes, aber dieses scheint eher ein Nebenprodukt seiner eigentlichen Tätigkeit gewesen zu sein. Ihm ging es (noch) nicht darum, die Philister aus dem verheißenen Land zu jagen, sondern sein Dienst zielte darauf, die Feinde des Volkes Gottes aus ihrer Balance zu bringen, ihnen die Selbstsicherheit zu nehmen. Auf diese Weise war es seine Aufgabe, erst einmal den eigenen Leuten vor Augen zu führen, dass die Herrschaft der Unbeschnittenen über das Volk Gottes kein unumgängliches Schicksal war.

Zunächst schienen die Philister in ihrem Auftreten immer die Überlegenen zu sein. Aber immer dann, wenn sie sich einbildeten, ihren vollen Triumph in der Tasche zu haben, mussten sie regelmäßig eine Niederlage einstecken. In Kapitel 14 gelang es den Philistern, das ihnen von Simson gestellte Rätsel mit List und Tücke zu lösen. Aber wenig später tötete Simson dreißig Philister in Askalon. – In Kapitel 15 wird berichtet, wie man die Braut Simsons jemand anderem gab, einem Philister. Doch kurz nachdem man das erreicht hatte, steckte Simson ihre Felder in Brand, und es kam im Anschluss daran zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen. So ging es weiter: Jeder Erfolg der Philister brachte ihnen schlussendlich eine Schlappe ein.

Aber es erscheint nicht nur reichlich verwunderlich, wie Simson sein Richteramt ausübte. Vielmehr ruft auch seine Lebensführung Fragen hervor. Die Ereignisse, die in Kapitel 16 berichtet werden, tragen entscheidend dazu bei, diese Fragen nicht verstummen zu lassen. Bitte lesen Sie zunächst dieses Kapitel in einer guten Bibelübersetzung.

„Letzte Ehre“ für den Richter Simson

Gerade angesichts der zahlreichen Fragen, die Simsons Lebensführung aufwerfen, ist es nicht dumm, zunächst auf das Ende des Kapitels zu achten, also auf den letzten Vers: „Da kamen seine Brüder und das ganze Haus seines Vaters herab und hoben ihn auf und trugen ihn hinauf und begruben ihn zwischen Zorea und Estaol im Grab seines Vaters Manoah. Er hatte aber Israel 20 Jahre lang gerichtet“ (Ri. 16,31).

Ganz am Ende des Berichtes über Simson werden wir noch einmal darauf hingewiesen, dass Simson das Volk Israel „richtete“. Er gehört damit unstrittig in die Reihe der Männer, die das Bundesvolk zu Gott zurückbrachten. Dadurch dass dieses zweimal erwähnt wird (siehe bereits in Ri. 15,20), wird sein Dienstauftrag unterstrichen.

Ferner werden wir in diesem Vers über die Bestattung Simsons unterrichtet. Bei den Philistern war es nicht unüblich, dass sie sogar noch die Leichen ihrer Feinde entehrten und schändeten. Man denke daran, wie sie mit dem Leichnam Sauls verfuhren (1Sam. 31,8–10). Mit dem Leib Simsons gingen die Philister offensichtlich nicht so um. Möglicherweise lag der Grund darin, dass bei den Philistern sich nach der Zerstörung des Dagontempels und dem Verlust zigtausender von Menschen Bestürzung und lähmendes Entsetzen breit gemacht hatte.

Wie einst auf die Ägypter und ihr Heer der Schrecken Gottes gefallen war und sie in Verwirrung gebracht hatte (2Mos. 14,24; 15,16), wird es nach dem Einsturz des Götzentempels auch hier gewesen sein.

Auf jeden Fall aber wagten sich die Verwandten Simsons in eine der zentralen Städte der Feinde Gottes, um dort in den Trümmern des Tempels nach dem Leib des für das ganze Desaster Verantwortlichen zu graben und ihn dann in seine Heimat zu transportieren.

Der erste Gedanke, der einem hier kommt, lautet: Simson hatte also auch Angehörige! … Wie selbstverständlich wird hier von seinen Brüdern und dem Haus seines Vaters gesprochen. Warum, so fragt man, sind einem diese Leute nicht früher begegnet? Warum wurden sie sozusagen erst jetzt, bei Simsons Beerdigung, aktiv?

Möglicherweise war es einfacher, mit dem toten Simson umzugehen als mit dem lebenden. Offensichtlich ist das im Blick auf Menschen, die Gott beschlagnahmt hat, häufiger zu beobachten. Unser Herr weist seine Hörer einmal tadelnd darauf hin: „Ihr baut die Grabplätze der Propheten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt: Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wir hätten uns nicht mit ihnen des Blutes der Propheten schuldig gemacht. …“ (Mt. 23,29.30). Mit anderen Worten: Erst nehmt ihr die Zuschauerhaltung ein und lasst es geschehen, dass ein Knecht Gottes möglichst schnell unter die Erde kommt (oder tragt sogar noch selbst dazu bei), und später wisst ihr vor überquellenden Sympathiebekundungen gar nicht, wie man sein Grab noch großartiger schmücken kann: ein beschämendes Verhalten!

Andererseits, so möchte man nach den bisherigen Erfahrungen mit dem Volk Gottes am Ende der Richterzeit hinzufügen: Immerhin haben die engsten Verwandten Simsons dem Verstorbenen zumindest diese Ehre erwiesen.

Simson – Christus

Die Schilderung der Überführung und des Begräbnisses Simsons fällt auf, weil bei den anderen Richtern allenfalls erwähnt wird, dass sie starben (Ri. 3,11; 4,1) und höchstens noch, wo sie beerdigt wurden (Ri. 8,32; 10,2.5; 12,7.10.12.15). Weitere Details fehlen. Bei Simson wird über seine Bestattung prägnanter berichtet.

Möglicherweise will der Heilige Geist durch diese Mitteilung erneut auf eine Parallele zwischen Simsons Bestattung und der unseres Herrn aufmerksam machen. Nach dem Tod des Sohnes Gottes war es Joseph von Arimathia, der die Initiative zu seiner Bestattung ergriff. Von ihm heißt es, dass er zwar ein Jünger Jesu war, aber aus Furcht vor den Juden ein „verborgener“ (Joh. 19,38). Andererseits aber erfahren wir, dass er „kühn“ zu Pilatus ging (Mk. 15,43), um den Leib Jesu zu holen und dann zu bestatten. Die Kühnheit dieses Mannes, der zu Jesus gehörte, kam also auch erst nach dem Tod seines Heilands zum Ausdruck.

Aber gleichgültig, ob in diesem Vers eine Parallele angedeutet ist oder nicht, eines ist klar: Bei Simson lesen wir nichts von einer Auferstehung. Demgegenüber ist in den Evangelien gerade dieses Ereignis der Höhepunkt schlechthin. Auch daran wird deutlich, dass die Errettung, die unser Herr erwirkt hat, eine unendlich herrlichere, ja qualitativ völlig andere ist, als die, an der Simson gewirkt hat. Gerade an Simson wird offenbar, dass für unsere Errettung niemals ein Mensch ausgereicht hätte, selbst wenn es ein gottgeweihter Mensch gewesen wäre. Zu unserem Heil benötigen wir jemanden, der auch wahrer Gott ist. Denn nur ein solcher vermag, uns aus dem Herrschaftsbereich des Teufels zu erretten und den Frieden mit Gott herzustellen, also die unendliche Kluft zwischen uns und dem heiligen Gott zu überwinden.

Eine andere formale Übereinstimmung zwischen Simson und unserem Herrn Jesus Christus liegt darin, dass beide in ihrem eigenen Volk Fremde waren. Beide passten nicht wirklich in ihre Umgebung und erfuhren hautnah, was es heißt, einsam und allein dazustehen.

Unzweifelhaft gehört es zu den dunkelsten Punkten des Volkes Gottes, dass es ihre Kämpfer immer wieder allein ließ. Anstatt mit ihnen gemeinsam zu kämpfen, zog es sich nicht selten diskret zurück. Beinahe wäre es uns gar nicht mehr aufgefallen, dass in diesem Kapitel das Bundesvolk Gottes mit keiner einzigen Silbe erwähnt wird …

Aber auch wenn die Einsamkeit als ein übereinstimmendes Merkmal zwischen dem Sohn Gottes auf Erden und Simson ins Auge sticht, gerade diese Entsprechung wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wie völlig anders unser Herr und Heiland damit umging, als es Simson tat. Unser Herr führte selbst dann seinen Auftrag in völligem Gehorsam aus, als er in der Nacht von Gethsemane total alleingelassen den Kelch des Zornes Gottes aus der Hand des Vaters nahm, um dann den Weg in eine uns unvorstellbare Verlassenheit ans Kreuz zu gehen. Demgegenüber unterlag der alleinstehende Simson jämmerlich den Versuchungen. Auch hier erweist sich Simson als Antityp zu unserem Herrn: Die formalen Entsprechungen bezeugen nur umso markanter, dass das Leben und der Tod Jesu unendlich besser reden als das Leben und das Sterben Simsons.

Simsons Leichtsinn

Wenn die Heilige Schrift die Sünden derer, die Gott in seinen Dienst gestellt hat, erwähnt, dann geht es ihr nicht darum, diese Menschen bloßzustellen. Vielmehr ist derartiges zu unserer Warnung geschrieben und auch, damit wir staunen lernen, mit welch kümmerlichen Gestalten der allmächtige Gott sein Reich baut.

Bei allem, was uns an Simson verwundert, wird in den Berichten über ihn auch deutlich, dass dieser Mann von Gott gleichsam als ein Fanal gebraucht wurde, um seinem Volk vor Augen zu führen, dass die Philister nicht ihre Freunde sind, sondern ihre Feinde: Volk Gottes, begreifst du überhaupt, was es heißt, dass die Philister über dir sind?! Nimmst Du diesen Umstand eigentlich noch so wahr, wie er im Licht Gottes zu sehen ist?!

Das 16. Kapitel beginnt mit einem Ereignis in der Stadt Gaza, einem der fünf Hauptorte der Philister (1Sam. 6,17). Hatte Simson in dieser Stadt einen Auftrag zu erledigen? Sollte sein Erscheinen eine Demonstration dafür sein, dass auch Gaza zu dem Gebiet gehörte, das Gott dem Bundesvolk gegeben hatte (Jos. 15,47; Ri. 1,18)? Was der Nasiräer in dieser tief im Philistergebiet gelegenen Stadt zu suchen hatte, wird nicht gesagt. Aber als er dort war, fiel ihm eine Hure ins Auge, „und er ging zu ihr ein“ (Ri. 16,1).

Für die Philister bedeutete der Aufenthalt Simsons in Gaza eine Gelegenheit, um endlich ihren Feind zu ergreifen. Ihr Plan sah so aus, im Stadttor bis zum Morgengrauen zu warten, und ihn dann zu ergreifen und zu erledigen.

Ihr Pech war, dass Simson schon um Mitternacht aufstand und so ihrem Komplott entkam. Mehr noch: Die Ironie bestand darin, dass er ausgerechnet dorthin ging, wo die Philister auf ihn warteten, also zum Stadttor, die beiden Flügel des Stadttores samt Pfosten aus den Angeln hob und bis nach Hebron schleppte (Ri. 16,3). Könnte man sich eine tiefere Demütigung für die Philister vorstellen?

Übrigens wird man bei diesem Tor nicht an die Größe eines mittelalterlichen Stadttores denken dürfen. Die Befestigungsanlagen waren gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends bei weitem nicht so gewaltig. Trotzdem hatten sie dieselbe Funktion: Sie sollten Schutz bieten. Durch Simsons Streich lag nun eine der Hauptstädte der Philister ungesichert da.

Einst hatte Gott dem Abraham verheißen, dass sein Same das Tor seiner Feinde besitzen werde (1Mos. 22,17; vergleiche auch 1Mos. 24,60). Das demonstrierte Simon hier buchstäblich. Und doch erscheint diese nach dem Besuch bei der Hure ausgeübte Tat nicht aus seinem Richteramt erwachsen gewesen zu sein. Eher war sie eine aus Übermut geborene Verhöhnung der Bewohner Gazas, so als ob der Gegensatz zwischen dem Bundesvolk Gottes und den Unbeschnittenen Anlass zu tollkühnen Scherzen geben würde.

Nur wenig später verliebte sich Simson in eine Frau. Sie hieß Delila, zu Deutsch: die Schmachtende, die Leidenschaftliche oder auch die Betrügerin (Ri. 16,4).

Nun, nach der Schmach von Gaza übernahmen die Stadtfürsten der Philister höchstpersönlich den Fall Simson. Sie heuerten Delila an, um über sie hinter das Geheimnis von Simsons Stärke zu gelangen (Ri. 16,5).

In dem verhältnismäßig ausführlich geschilderten Gespräch zwischen Delila und Simson begegnet ein Wort immer wieder. Es ist das Wort „binden“ (Ri. 16,6.7.8.10.11.12.13). Durch die Frage, wie Simson gebunden werden könne, wollte Delila herausfinden, wie er unschädlich gemacht werden könne.

Das erste, das bei dieser Unterredung auffällt, ist die Unaufrichtigkeit, in der die beiden miteinander umgehen.

Schauen wir uns zunächst Delila an. Liebte sie Simson nicht? Empfand sie nichts für ihn? Warum ihre doppelzüngige Hinterhältigkeit? Warum suchte sie so beharrlich ihn zu verraten? Woher kam diese Untreue gegenüber Simson?

Zunächst wurde Delila mit einer gigantischen Summe Geldes gelockt. Jeder der Philisterfürsten bot ihr 1100 Schekel Silber. (Zum Vergleich: Um unseren Herrn zu verraten, reichten 30 Silberlinge aus.) Aber das Geld war es wohl nicht alleine, das sie zu dieser Treulosigkeit trieb. Hinzu kam, dass die Beziehung zwischen Simson und Delila kein Fundament hatte. Die beiden lebten zusammen, ohne verheiratet zu sein. Einer solchen Beziehung fehlt die für eine Vertrauensbeziehung erforderliche Verbindlichkeit. Die beiden waren nie in den Ehestand getreten. Das aber hieß namentlich für die Frau – ob sie nun bereit war, sich das bewusst zu machen oder nicht – Unsicherheit. Unsicherheit aber bedeutete mangelnde Geborgenheit. Der Punkt, an dem sich in einer solchen Beziehung ein Partner ausgenutzt und damit billig vorkommt, muss nicht sofort wahrnehmbar sein, aber der Weg dorthin ist sehr geradlinig. Simson mag den Körper der Delila bekommen haben, ihr Herz hatte er nicht gewonnen. Wie wenig Respekt und Achtung sie vor ihm hatte, wird daran deutlich, welche Register sie ihm gegenüber zog.

Ihren Verrat begann sie damit, dass sie ohne viele Umschweife Forderungen aufstellte, die sie mit schmeichlerischen Komplimenten an ihn verknüpfte: „Verrate mir doch, worin deine große Kraft besteht“ (Ri. 16,6). Der nächste Schritt sah so aus, dass sie, die selbst durch und durch verlogen war, Simson der Unwahrhaftigkeit bezichtigte: „Siehe, du hast mich betrogen und mir Lügen vorgeschwatzt“ (Ri. 16,10.13). Schließlich zog sie aus ihrem Repertoire den Vorwurf, sie sei durch seine Unaufrichtigkeit tief verletzt worden. Mit anderen Worten: Sie suchte bei ihm Schuldgefühle zu erwecken: „Wie kannst du sagen, du hättest mich lieb, während dein Herz doch nicht mit mir ist?“ (Ri. 16,15) Das alles erinnert an das Wort Salomos: „Die Lippen der Verführerin träufeln wie Honigseim“ (Spr. 5,3) … „aber ihre Wege sind Wege in den Tod“ (Spr. 7,27).

Wie abgekartet dieses Spiel Delilas war, zeigt sich nicht nur an ihren Reden, sondern auch daran, dass sie während der gesamten Zeit in engster Verbindung mit ihren Auftraggebern stand. Diese lieferten ihr umgehend alles, was sie für die Verwirklichung ihres Planes benötigte, zum Beispiel die Stricke.

Wenn man diese verschlagenen Manöver, die in all ihrer zermürbenden Beharrlichkeit vorgetragen wurden („… als sie ihn aber alle Tage mit ihren Worten nötigte und in ihn drang …“ Ri. 16,16) mit Simsons Verhalten vergleicht, hat man zunächst den Eindruck, dieser Mann war plump, tölpelhaft und naiv.

Auf die Frage Delilas, wie er gebunden werden könne, hielt Simson zwar mit der Wahrheit (längere Zeit) hinter dem Berg, „näherte“ sich aber bei jeder seiner Antworten der Wahrheit. Wenn man so will: Die Unwahrheit wurde von Mal zu Mal weniger.

In seiner ersten Antwort sprach er von sieben frischen, nicht ausgetrockneten Stricken (Sehnen), mit denen er gebunden werden könne (Ri. 16,7). Natürlich war das gelogen. Richtig an dieser Auskunft war lediglich die Zahl „sieben“. Denn später erfahren wir, dass Simson seine Haare zu sieben Haarsträngen zusammengeflochten hatte (Ri. 16,13.19).

In seiner zweiten Erwiderung erzählte Simson der Delila etwas von neuen Seilen, mit denen noch keine Arbeit verrichtet worden sei. Mit solchen Stricken könne man ihn erfolgreich binden (Ri. 16,11). Auch diese Antwort war reines Phantasieprodukt. Als Wahrheitskörnchen könnte man allenfalls auf den Aspekt der Weihe, der Absonderung hinweisen.

In der dritten Antwort sprach Simson bereits von seinen sieben Haarflechten, die man mit Kettenfäden zusammenknüpfen müsse, um ihn zu binden. Auch diese Auskunft ging haarscharf an der Wahrheit vorbei. Immerhin aber kamen hier Simsons sieben Haarflechten zur Sprache.

Kurzum: Es entsteht der Eindruck, dass Simsons Gegenwehr immer geringer wurde: Anfangs erwähnte er lediglich die Zahl Sieben, dann deutete er mit den nicht gebrauchten Stricken auf den Aspekt der Weihe und des Abgesondertseins hin, und schließlich brachte er seine Haarflechten zur Sprache.

Erst beim vierten Mal wurde Simson weich, so dass er der Delila sein Geheimnis preisgab. Er teilte ihr mit, dass er von Mutterleibe an ein Nasiräer Gottes sei. Seine Haare seien das Zeichen dieser Berufung. Wenn man sie abschneiden würde, würde seine Kraft von ihm weichen (Ri. 16,17).

Daraufhin lesen wir: „Und Delila sah, dass er ihr sein ganzes Herz offenbart hatte“ (Ri. 16,18). Woran sie das genau erkannte, wird nicht gesagt. War es weibliche Intuition? Oder merkte sie es daran, dass Simson den Namen „Gott“ erwähnte: „Ich bin ein Nasiräer Gottes„? Auch wenn sie wohl wenig davon wusste, was ein Nasiräer ist, so viel schien sie erfasst zu haben: Für Simson war Gott keine rhetorische Floskel.

Gründe für Simsons Fall

Auf die Beziehung zwischen Simson und Delila haben Dichter, Dramatiker, Oratorien– und Opernkomponisten sowie Filmregisseure immer wieder zurückgegriffen. Keineswegs selten wurde dann die erotische Komponente zwischen den beiden akzentuiert: Der starke, von männlicher Triebkraft bestimmte Simson wird bei Delila so schwach, dass er ihr gegenüber jegliche Vorsicht verliert, ja ihr geradezu hörig wird.

Ohne Zweifel ist dieser Aspekt in Richter 16 vorhanden. Unsere Geschlechtlichkeit, die eine der größten Schöpfungsgaben ist, ist nach dem Sündenfall zu einer der gefährlichsten Versuchungen für uns Menschen geworden. Deswegen weist das Wort Gottes häufig auf die diesbezüglichen Gefahren hin (zum Beispiel: in Spr. 6 und 7), und es gibt die Anweisung, die Lüste der Jugend zu fliehen (zum Beispiel in 2Tim. 2,22). Was das konkret heißt, kann das Verhalten Josephs veranschaulichen: Dieser junge, in Abhängigkeit von seiner Herrin stehende Mann weigerte sich nicht nur, bei der Frau Potiphars zu „liegen“, sondern er lehnte es bereits ab, „bei ihr zu sein“ (1Mos. 39,10). Mit anderen Worten: Er setzte alles daran, was in seinen Möglichkeiten lag, seiner Herrin aus dem Weg zu gehen. Auch Simson hätte die Versuchung fliehen können. Aber er gab ihr nach, sowohl in Gaza als auch im Tal Sorek.

Doch so unerlässlich es ist, bei diesem Ereignis auf diese Gefährdung hinzuweisen, Simsons Kernproblem lag nicht in seinem unmoralischen Verhalten. Das war allenfalls eine Folge davon.

Eventuell kann das bekannte Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ hier weiterhelfen. In diesem Gleichnis wird erwähnt, dass der jüngere Sohn das vom Vater empfangene Erbe in einem fernen Land durch ein „ausschweifendes Leben vergeudete“ (Luk. 15,13). Details werden uns über die Lebensführung dieses jungen Mannes in der Fremde nicht mitgeteilt … Ist es nicht merkwürdig, dass der ältere Sohn später so genau zu wissen meint, wie das „ausschweifende Leben“ seines jüngeren Bruders ausgesehen hat: Er vergeudete dein Gut „mit den Huren“ (Luk. 15,30)? Woher wusste der Daheimgebliebene eigentlich so genau, was sein Bruder für Ausschweifungen in der Fremde beging? Muss man nicht aus dieser Aussage die Schlussfolgerung ziehen, dass der äußerlich ach so „fromme“ Sohn, der von sich überzeugt war, nie eines der Gebote seines Vaters übertreten zu haben (Luk. 15,29), ebenfalls den Weg vom Vater weg gegangen ist, nur eben: in seiner Phantasie, in seinem Herzen?!

Genauso wenig, wie wir die Botschaft des Gleichnisses vom „Verlorenen Sohn“ recht verstehen würden, wenn wir uns auf das moralische Fehlverhalten des jüngeren, des „verlorenen“ Sohnes konzentrieren würden, so würden wir auch den Abschnitt über Simson und Delila verfehlen, wenn wir meinten, in diesem Bericht stehe das Unmoralische dieser Beziehung im Fokus.

Gegenwärtig scheint es populär zu sein, die Ursache für Simsons Fall nicht (vorrangig) in seinem durch seine Libido bestimmten Fehlverhalten zu suchen, sondern man bemüht sich, Simsons Verhalten zu „verstehen“. Dazu bedient man sich gerne psychologischer Kategorien. Man erklärt zum Beispiel, Simson habe sich hier in einer „regressiven Phase“ befunden. Nach dem Sieg bei Lechi und der Erfahrung, dass sich dem Simson die Wasserquelle öffnete, „lebte Simson wieder auf“ (Ri. 15,19). Diese Aussage deutet man dann so, als habe sich Simson in eine Euphorie (Hochstimmung) hineingesteigert. Diese sei allerdings sehr bald abgeebbt und in eine Regression (innerliche Rückwärtsbewegung) übergegangen. Vielleicht sei dem Simson schmerzlich ins Bewusstsein getreten, dass er wegen seines Nasiräertums anders als die anderen war. Er habe sich daraufhin einsam und isoliert gefühlt, und aus dieser Not heraus habe er die Nähe einer Frau gesucht. Dieses seelische Tal habe Delila schamlos ausgenutzt, indem sie immer wieder mit den gleichen Fragen auf ihn eingehämmert habe, bis er innerlich weich geklopft war, so dass dann „seine Seele überdrüssig wurde bis zum Sterben“ (Ri. 16,16).

Andere zögern, Simsons Verhalten in psychologische Kategorien zu fassen. Sie verweisen darauf, dass Simson wohl eher die Entspannung gesucht habe: Angesichts der schweren, in Richter 15 berichteten Kämpfe habe er einmal zu allem Abstand haben wollen. Getrieben von der Sehnsucht nach Ruhe, Bequemlichkeit, Stressfreiheit wollte er einmal privat sein. Seinen Gang nach Gaza, vor allem aber seinen Abstecher in das Tal Sorek habe er als eine Art Urlaub von seiner Berufung angesehen. Mit anderen Worten: Simson meinte, zwischen Amt und Privatheit unterscheiden zu dürfen: In seiner Eigenschaft als Nasiärer habe er eine unerbittliche Gegnerschaft zu den Unbeschnittenen einnehmen müssen, aber die Sache mit Delila war seine Privatangelegenheit.

Auch in dieser Gedankenführung ist sicher Richtiges enthalten. Tatsächlich scheint Simson seine Berufung zum Richter weder in Gaza noch im Tal Sorek völlig vergessen zu haben. Sowohl das Wegschleppen des Stadttores in Gaza (Ri. 16,3) als auch Simsons Schreckreaktion, sobald Delila rief: „Philister über dir“, (Ri. 16,9.12.14.20) weisen darauf hin, dass er wusste, wozu er berufen war. Tatsächlich hat Simson ja in der Unterredung mit Delila auf sein Nasiräat hingewiesen (Ri. 16,17). Es war übrigens das einzige Mal, dass er selbst über sein Gottgeweihtsein sprach.

Noch einmal: Simson hatte seine Berufung nicht vergessen. Aber wenn er mit Delila zusammen war, schob er diese seine Berufung gewissermaßen beiseite: Das eine sollte mit dem anderen nichts zu tun haben. Deswegen wohl auch dieses Zögern, Delilas Frage zu beantworten, womit man ihn erfolgreich binden könne. Seine Berufung sollte mit Delila nichts zu tun haben.

Aber alle die hier aufgezeigten Gründe bleiben zu sehr an der Oberfläche.

Die eigentliche Ursache für Simsons Fall ist seine Halbherzigkeit: Simson liebte zwar Gott den Herrn, aber er liebte ihn nicht mit ungeteiltem Herzen. Er dachte an Gott, aber nicht mit seinem ganzen Verstand. Er vergaß zwar sein ihm von Gott übertragenes Richteramt nicht, aber er suchte seine Berufung zu verknüpfen mit Augenlust, Fleischeslust und grandioser Selbstüberschätzung.

Simson spielte mit seiner Berufung: Bisher sei doch stets alles gut gegangen! Nichts und niemand habe ihn aufhalten können! Warum sollte es nun bei dieser Frau anders sein?!

Paulus schreibt einmal, dass es für jemanden, der Kriegsdienste leistet, nicht vorstellbar ist, sich in Beschäftigungen dieses Lebens einzulassen. Er hat ein einziges Ziel im Auge zu haben, nämlich dem zu gefallen, der ihn angeworben hat (2Tim. 2,4). Einen solchen Glaubensgehorsam hatte Simson in den Wind geschlagen. Stattdessen beherrschte ihn der Kitzel, einmal auszuprobieren, was man sich alles so unabhängig von Gott leisten könne und wie weit man gehen könne.

Die Folge davon war eine erschreckende Verblendung. Simson war nicht einfach intellektuell naiv oder gar dumm. Nein, dieser Mann geriet Schritt für Schritt in den Sog einer Traumwelt. So vermochte er die Versuchung und die tödliche Bedrohung, die von Delila ausgingen, nicht zu erfassen. Man reibt sich verwundert die Augen und möchte es fast nicht glauben, dass dieser Mann nicht wenigstens dann ins Nachdenken kam, was wohl Delila im Schilde führen könnte, nachdem sie ihn nicht nur gefragt, sondern ihn sogar mehrfach gebunden hatte.

Lange bevor Simson seine körperliche Stärke verlor, war ihm die geistliche Widerstandskraft entschwunden; lange bevor Simson auf den Knien Delilas eingeschlafen war, war er in einen geistlichen Tiefschlaf verfallen; lange bevor ihm die Augen ausgestochen wurden, war er geistlich erblindet; lange bevor er gefangen genommen und von den Philistern gefesselt und niedrigste Sklavendienste leisten musste, war seine Seele in Gier, schwärmerische Täuschungen und wirklichkeitsfremde Illusionen verstrickt gewesen und geknebelt worden. Das Ergebnis war dann äußerliche Fesselung, Verblendung, Verschleppung, Gefangennahme und Versklavung. David bringt dieses aus eigener Erfahrung folgendermaßen kurz und bündig auf den Punkt: „Viele Schmerzen hat der Gesetzlose …“ (Ps. 32,10a).

Simsons Haare

Als Simson gegenüber dem Drängen Delilas weich geworden war, tat er ihr „alles, was in seinem Herzen war, kund“: „Wenn ich nun geschoren würde, so wiche meine Kraft von mir, und ich würde schwach und wie alle anderen Menschen!“ (Ri. 16,17). Nachdem Simson die sieben Haarflechten abgeschnitten worden waren, heißt es dann: „Delila fing an ihn zu bezwingen, und seine Stärke wich von ihm“ (Ri. 16,19).

Es wäre zwar verführerisch, aber grundfalsch zu meinen, die Stärke Simsons habe in seinen Haaren gelegen. Dass das nicht richtig sein kann, zeigen mehrere andere Aussagen. Aus ihnen geht hervor, dass die Stärke Simsons darin lag, dass der Herr ihn segnete (Ri. 13,24) und der Geist Gottes über ihn kam (Ri. 13,25).

Es waren nicht seine langen Haare, die verhinderten, dass er bei Lechi fast vor Durst zusammengebrochen wäre. Wenn ihn seine langen Haare so unüberwindlich gemacht hätten, hätte er diese Krisensituation ohne Gottes Eingreifen bestanden. Aber ausdrücklich werden wir auf Gottes Hilfe, auf sein Erbarmen verwiesen. Aus diesem Grund gab Simson der Quelle auch den Namen „Quelle des Rufenden“. Ihm war klar, wem er seine Rettung zu verdanken hatte (Ri. 15,18.19).

Auch am Ende seines Lebens, als seine Haare wieder gewachsen waren, war es nicht seine Haarpracht, die ihn erneut stark machte, sondern es war der allmächtige Gott, zu dem er rief: „Mein Herr Herr gedenke doch an mich und stärke mich doch, o Gott, nur diesmal noch …!“ (Ri. 16,28).

Dass Simsons Stärke auf einer Art Fetisch oder auf einem Zauber oder auf einem Kniff beruhe, so dass man nur den Schlüssel kennen müsse, um Simson zu „knacken“, sind magische, also heidnische Kategorien. Genau in dieser Weise dachten die Philister. Simson begab sich mit seiner Antwort in gewissem Sinn auf das Niveau Delilas, damit sie überhaupt einmal eine Ahnung davon erhielt, was es heißt, ein Nasiräer Gottes zu sein.

Nein, die langen Haare waren nicht ein Amulett, das der Geist Gottes benötigte, um Simson stark zu machen oder ihn zu befähigen, sein Richteramt auszuüben. Bei allen anderen Richtern, wie zum Beispiel bei Gideon und bei Jephta, ging es bekanntlich auch ohne die langen, nicht geschorenen Haare.

Vielmehr waren die langen Haare im Alten Testament ein Zeichen dafür, dass Gott jemanden für sich beschlagnahmt hatte. Die ungeschnittenen Haare bezeugten das Nasiräat. Männer, die für eine befristete Zeit Nasiräer waren, demonstrierten durch das Abschneiden ihrer Haare, dass die Zeit der Gottesweihe vorbei war (4Mos. 6,13–20).

Aus dieser Perspektive war auch bei Simson nach dem Abschneiden der Haare, ich rede einmal menschlich, für Gott der Zeitpunkt gekommen, Simson zu verlassen. Gott gab Simson nicht wegen der abgeschnittenen Haare dahin, sondern wegen der darin zum Ausdruck gekommenen Verachtung seiner Berufung. Simson wusste, dass das Nichtscheren der Haare das Zeichen der Beschlagnahmung durch Gott ist. Dadurch dass er seine Haarflechten aufs Spiel setzte, brachte er zum Ausdruck, dass ihm seine Berufung durch Gott nichts mehr wert war. Dieses Desinteresse war der Grund für die so verhängnisvollen Konsequenzen.

So sehr also Simsons Stärke, sein Nasiräat, nicht in seinen Haaren lag, sondern die Haare ein Zeichen seines Nasiräats waren und in seinem Fall bezeugten, von wem er seine Stärke empfing, sind die von Gott verordneten Zeichen nicht unwichtig. Sie sind nicht einfach „nur“ Äußerliches, über das man sich hinwegsetzen kann.

Dazu ein Beispiel: Gott hatte bei der Bundesschließung mit Abraham geboten, dass die gesamte männliche Nachkommenschaft Abrahams am siebten Tag beschnitten werden soll. Dieses sollte das Zeichen und Siegel seines Gnadenbundes sein. Die Frage, ob Eltern, die zum Bundesvolk Gottes gehörten, die „Säuglingsbeschneidung“ vornehmen sollten oder davon auch Abstand nehmen konnten, war nicht in ihr Belieben gestellt. Im Gegenteil! Wer diese Anordnung verachtete, sollte ausgerottet werden. (1Mos. 17,14; vergleiche dazu: 2Mos. 4,24–26). Noch einmal: Von Gott verordnete Zeichen sind keine Nebensächlichkeiten! Aber sie sind andererseits Zeichen und nicht die Wirklichkeit selbst.

Wenn es hier heißt, dass Simson nach dem Abschneiden der Haare seine Stärke verlor und der Herr von ihm gewichen war (Ri. 16,19.20), dann soll damit nicht der Aberglaube vermittelt werden, dass das Haar bei Simson die Quelle seiner Kraft war oder auch nur eine unverzichtbare Bedingung für Gottes Handeln mit Simson war, sondern die Botschaft lautet: Nimm Gottes Gnadengaben ernst und spiele nicht mit seiner an dich ergangenen Berufung!

Der (Schein)triumph der Feinde Gottes

Nachdem Gott von Simson gewichen war, setzte das grausame Spiel der Philister ein. Es war für sie nun ein Leichtes, Simson gefangen zu nehmen, und – sicher ist sicher – sie stachen ihm gleich die Augen aus (Ri. 16,21). Das war aber nur der erste Schritt der Demütigung. Dann schleppten sie ihn nach Gaza, also genau in die Stadt, deren Torflügel samt Pfosten er unlängst fortgeschleppt hatte. Dort musste er angekettet das Mühlrad drehen (Ri. 16,21). Aber auch damit war der Weg seiner Erniedrigung nicht beendet. Auf einem von den Philistern anberaumten Dank– und Opferfest zu Ehren ihres Gottes Dagon ließen sie Simson vorführen. Sie drückten ihm ein Musikinstrument in die Hand, damit er auf diese Weise die Zielscheibe ihres Hasses und ihres Spottes würde (Ri. 16,23–27).

Indem die Philister auf diesem Fest ihrem Götzen zujauchzten, hatte diese Veranstaltung eine deutliche Spitze gegen den lebendigen Gott. Es ging also bei diesem Fest keineswegs nur um die Frage, wie intensiv die Negativgefühle waren, die Simson auf dieser Party erfuhr, in der er als Hanswurst oder als Schießbudenfigur zur Belustigung der Philister fungierte. Vielmehr lautete die Frage: Wird hier nicht Gottes Ehre angetastet?

Deuteten die Philister die Gefangennahme Simsons richtig, als sie sie in der Weise interpretierten, dass die Internierung Simsons ein Sieg Dagons und damit eine Niederlage des Gottes Israels bedeutete?

Uns ist heute deutlich, dass Dagon nichts mit der Bindung Simsons zu tun hatte. Nicht die Macht Dagons war für dieses Geschehen verantwortlich, sondern dass Gott der Herr sich von seinem treulosen Knecht zurückgezogen hatte. Aber eben: Die Philister kamen vom Boden ihrer Wirklichkeitsinterpretation zu einem anderen Ergebnis. Im Grunde wird an einer solchen Deutung das ganze Desaster der Halbherzigkeit Simsons offenkundig. Simsons Demütigung war nicht nur eine persönliche Schmach für ihn, sondern es war auch eine Beleidigung des lebendigen Gottes.

Gott aber behält den Sieg

„Aber das Haar seines Hauptes fing wieder an zu wachsen, sobald es geschoren worden war“ (Ri. 16,22). Natürlich will uns der Heilige Geist mit dieser Aussage nicht auf die Trivialität aufmerksam machen, dass Haare wieder nachwachsen, nachdem sie abgeschnitten worden sind. Vielmehr leitet diese mit dem unscheinbaren Wörtchen „Aber“ einsetzende Aussage die Wende ein. Die Aussage deutet an, dass Gott seinen gefallenen Knecht nicht im Elend stecken lässt.

Was in Simson seit seiner Gefangennahme und dann auf dem Fest zu Ehren Dagons vorging, teilt das Wort Gottes nicht mit. Aber soviel ist deutlich: Er fand zu Gott zurück. Denn er riet, ja er schrie zu dem lebendigen Gott.

Paulus stellt einmal die rhetorische Frage: „Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht geglaubt haben?“ (Röm. 10,14). Mit anderen Worten: Wenn Simson hier zu Gott rief, dann heißt das, dass er auf diesen Gott sein Vertrauen setzte.

Bezeichnenderweise redete Simson in diesem Gebet den allmächtigen Gott mit drei Namen an: mit „Herr“ (hebräisch: Adonai, es meint soviel wie „Gebieter“), mit „Jahwe“ (das ist der Name, in dem Gott seine Bundestreue offenbart hat) und mit „Gott“ (das meint hier soviel wie: der „Allmächtige“). Man hat den Eindruck, als wollte Simson gerade auf diesem Götzendienstfest keinerlei Missverständnis darüber aufkommen lassen, zu wem er sich im Gebet wandte.

„Gedenke meiner …“, so flehte er. Man könnte fragen: Kann Gott denn überhaupt einen Menschen vergessen? Die Antwort lautet: Ja! In gewissem Sinn kennt er einen Sünder nicht (Mt. 7,23). Denn das Gedenken Gottes ist immer ein gnädiges Sich-zum-Sünder-Wenden.

„Stärke mich noch diesmal …“, bat Simson weiter. Wie hatte dieser Mann mit seiner Kraft gespielt! Nun musste er an der Hand eines Knaben geführt werden. Aber dann warf er sich im Glauben ganz auf den, von dem er in Wahrheit seine Stärke empfing.

„… damit ich mich rächen kann…“ Der souveräne Gott hat wahrlich nicht jeden dazu berufen, an den Philistern Vergeltung zu üben. Aber Simson hatte diesen Auftrag. Deswegen erhörte Gott auch dieses Gebet seines Richters.

So ging das Fest anders zu Ende, als sich das die Philister gedacht hatten: Mit den Spitzen seiner Finger sammelte Simson die erforderlichen Informationen, um dann die beiden Säulen, auf denen das Dach des Götzentempels ruhte, zu umfassen und zum Einsturz zu bringen (Ri. 16,28.29).

Bilanz

Das Ergebnis dieses Anschlages fasst das Wort Gottes in dem einen Satz zusammen: „Die Zahl der Toten, die Simson in seinem Sterben tötete, war größer als die Zahl derer, die er während seines Lebens getötet hatte“ (Ri. 16,30).

Die Frage, ob Simson hier nicht Selbstmord begangen habe, also etwas Verbotenes getan habe, wird man folgendermaßen beantworten müssen: Simsons Tod war kein Selbstmord. Vielmehr war es ein Selbstopfer. Man kann ergänzend hinzufügen: ein siegreiches Selbstopfer.

Von unserem Herrn lesen wir einmal, dass er „mit lauter Stimme schrie und seinen Geist aufgab“ (Mt. 27,50). Mit anderen Worten. Der Sohn Gottes ging aktiv in den Tod. Bereits lange vor seinem unmittelbaren Weg hin zum Kreuz wies Jesus darauf hin, dass niemand in der Lage ist, ihm sein Leben wegzunehmen, sondern er lässt es von sich selbst (Joh. 10,18).

In gewissem Sinn lag sowohl bei Simson als auch bei unserem Herrn der Höhepunkt ihrer jeweiligen Dienste in ihrem Sterben. So trifft nicht nur für Simson, sondern auch für unseren Herrn zu, dass die Zahl derer, die er in seinem Sterben vernichtete, größer war als die Zahl derer, die er während seines Lebens vernichtet hatte.

Die Unterschiede dürfen dabei jedoch nicht verwischt werden. Die oben zitierte Aussage Jesu aus dem Johannesevangelium fährt dann fort: „… ich habe Gewalt, das Leben wieder zu nehmen“. Das konnte Simson nun wirklich nicht sagen.

Aber abgesehen von diesem qualitativen und damit unendlichen Unterschied war Simsons Tod genau wie sein Leben eine Aneinanderreihung von Rache und Gegenrache. Dagegen siegte unser Herr über das Böse nicht mit Bösem, sondern mit Gutem.

Vermutlich ist Simson unter den Richtern derjenige, der uns mit seiner Lebensgeschichte am dichtesten zu unserem Herrn bringt. Aber er ist zugleich auch der, der am deutlichsten zum Ausdruck bringt, dass nicht er die wahre Erlösung bringt, sondern dass dazu jemand anders nötig ist.

Der Apostel Paulus sagt einmal über David, dass er „in seiner Zeit dem Willen Gottes gedient hat“ (Apg. 13,36). Wörtlich heißt es „für sein Geschlecht dem Rat Gottes gedient hat“. Genauso hat Gott Simson in seiner Zeit als Instrument für die damals erforderliche Errettung gebraucht. Simsons Aufgabe bestand nicht darin, die Philister durch eine Armee aus dem verheißenen Land zu werfen. Stattdessen war es seine Aufgabe anzufangen, Israel aus der Hand der Philister zu erretten. Dazu operierte er im Grenzgebiet dieser beiden Völker, und sein Ziel war es, die geistliche (!) Grenze zwischen dem Volk Gottes und den Unbeschnittenen – so wurden die Philister von nun an wieder genannt – zu ziehen. Die Befreiung des Volkes Gottes aus dem Würgegriff der Philister selbst führte dann David herbei. Dabei konnte er an das durch Simson Geschehene anknüpfen.

Aber auch die Befreiung, die der lebendige Gott durch David wirkte, war nur ein schwaches Abbild von der Errettung, die der gebracht hat, der sein Volk aus allen seinen Ungerechtigkeiten erlöst (Ps. 130,8).