Wahrheit oder Mythos? Im folgenden Artikel nimmt der Pastor der Bekennenden evangelischen Gemeinde Osnabrück zur jungfräulichen Empfängnis Marias anhand des ersten Kapitels des Lukasevangeliums Stellung.
Was ist so wunderbar an Jesus? Was ist so beispiellos an ihm? In der Advents- und Weihnachtszeit erinnert sich die ganze Welt daran, dass der Erlöser Jesus Christus unter ärmlichsten Verhältnissen in einer Krippe im Stall geboren wurde. Ja, das ist ein Held, der in unsere Zeit passt! Was mangels Prunk und Getöse zu Jesu Zeiten noch wenig Begeisterung fand, das sieht die Welt schon lange mit anderen Augen. Der wahre Held kommt aus einfachen Verhältnissen! Er ist einer von uns, der aufgrund gewisser Umstände und seiner Bestimmung Großes schafft und aller Welt helfen kann. Ist das nicht das Standardthema für jeden guten Heldenfilm und jede Saga?
Aber ist das wirklich der Höhepunkt der Weihnachtszeit? Ist das das Wunderbare an Jesus? Dass der Heiland der Welt als ein armes Kind von armen Eltern in einem einfachen Stall auf der harten Reise „im bitterkalten“ Winter geboren wurde? Nein, das ist nicht der Höhepunkt! Es ist durchaus erstaunlich und beeindruckend! Aber all diese äußerlichen Geschehnisse sind nur weitere Steigerungen der eigentlichen Bedeutung von Weihnachten. Es geht nämlich nicht nur um den Beginn einer großen Geschichte: vom Stall auf den Thron – von unten nach oben. Nein, diese Geschichte hätte nie wirklich so ablaufen können, wäre es nicht vorher von oben nach unten gegangen. Von Gottes Thron in den Stall. Es geht bei Jesus nicht um einen Menschen, der sich würdig erwiesen hat und ziemlich nah zu Gott vordringen konnte, sondern es geht um Gott, der sich aufgrund seiner Liebe zu den Menschen erniedrigt hat und Mensch geworden ist.
Genau hier kommen wir aber zum Knackpunkt der Weihnachtsgeschichte: Gott, der Mensch geworden ist? Ein Mensch, der zugleich Gott ist? Eine Jungfrau, die nicht von einem Mann, sondern vom Geist Gottes schwanger geworden ist?
Für viele Menschen gehören diese Lehren in das Reich der Märchen und Legenden. Sie wissen vielleicht nichts von der tieferen Bedeutung dieser Ereignisse und betrachten sie darum als unwesentliche und vor allem märchenhafte Ausschmückung des Lebens Jesu. In der ohnehin schon möglichst märchenhaften Weihnachtzeit, hört man die alte Geschichte gern, legt aber das wirkliche Interesse allein auf die späteren Worte und Taten Jesu.
Für andere Menschen gehören diese Lehren dagegen in das Reich der Mythen. Sie meinen darin Adaptionen und Parallelen aus anderen Religionen oder Kulten erkennen zu sollen: Dass ein Gott Mensch wird, dass eine Jungfrau schwanger wird, konnte man schon vor der Zeit des Neuen Testament hören. Also: Im Osten nichts Neues!?
Haben wir es bei der jungfräulichen Empfängnis mit einem Mythos zu tun, oder können wir die Berichte der Heiligen Schrift für bare Münze nehmen? Das Neue Testament spricht zwar nicht an vielen Stellen über dieses Thema. Aber dort, wo sie darüber spricht, ist sie eindeutig.
Konzentrieren wir uns auf das von dem Evangelisten und Historiker Lukas Berichtete. Der Reisegefährte des Paulus und Zeitgenosse der anderen Apostel schrieb sein Evangelium mit dem konkreten Ziel, uns Gewissheit über den Glauben an Jesus zu geben. Er forschte genau nach, legte hohen Wert auf seine Informanten und Quellen und schrieb dann durch Inspiration des Heiligen Geistes sein Evangelium auf. Sein Anliegen war ein genauer und der Wahrheit entsprechender Bericht (Luk. 1,1–4). Von Beginn des Evangeliums an wird dieses Anliegen deutlich. Kein anderer Evangelist berichtet so ausführlich über die Geburt Jesu wie Lukas.
Können wir dem Prolog des Lukasevangeliums vertrauen und davon ausgehen, dass wir es wirklich mit einem genauen, der Wahrheit entsprechenden Bericht zu tun haben? Entsprechen die Verse über die Ankündigung der Geburt Jesu, aus Lukas 1,26–37, dem tatsächlichen historischen Geschehen?
Am Anfang dieses Artikels fragten wir nach dem Besonderen von Jesus, nach dem Höhepunkt des Weihnachtsgeschehens. Zur Beantwortung ist es aufschlussreich, die Reihenfolge der überlieferten Worte des Engels zu beachten. Nach dem Bericht des Lukas liegt der Schwerpunkt der Botschaft des Engels darin, dass Gott seine Verheißungen, sich über sein Volk zu erbarmen und es aus seiner Verlorenheit zu retten, nun erfüllen will (Luk. 1,31–33). Diese Hintergründe sind keine Mythen oder Märchen, und es ist auch kein menschliches Wunschdenken oder Effekthascherei. Es sind die alttestamentlichen Verheißungen über den von Gott gesandten Messias. Bereits dem König David wurde von Gott ein Nachfahre verheißen, der Sohn Gottes heißen soll und dessen Thron ewig bestehen wird (2Sam. 7,13–16; vgl. Ps. 45,7; 132,11; Jes. 9,6).
Neben den Prophetien gibt es viele Parallelen im Alten Testament, die uns Ähnliches berichten. Gott bestimmte in einer übernatürlichen Weise bereits Isaak (1Mos. 21,1) und Simson (Ri. 13,7) zu seinen Dienern oder Verheißungsträgern. In diesen Berichten ist nicht von einer jungfräulichen Empfängnis die Rede. Gleichwohl wird das übernatürliche Handeln Gottes offensichtlich, da die jeweiligen Mütter unfruchtbar waren.
Aber wann wird nun eigentlich von der jungfräulichen Empfängnis bei Lukas berichtet? Anfangs sprach der Engel nur von der Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen. Erst als Maria verwundert überlegte, wie sie denn schwanger werden könne, da sie doch mit keinem Mann geschlechtlichen Kontakt gehabt habe (Luk. 1,34), erklärte ihr der Engel, dass sie nicht auf natürliche, sondern auf übernatürliche Weise, nämlich durch den Geist Gottes selbst, schwanger werden würde (Luk. 1,35).
Auch davon berichtet das Alte Testament. Etwa 700 Jahre vor der Geburt Christi prophezeite der Prophet Jesaja: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären und wird ihm den Namen Immanuel geben (Jes. 7,14).“ – Demnach ist das Wunder der jungfräulichen Empfängnis lediglich die Art und Weise, wie Gott seinen wunderbaren Heilsplan umgesetzt hat. Dabei hat die jungfräuliche Empfängnis große Bedeutung. Sie gehört zur Basis des Evangeliums von Jesus Christus. Nur weil Jesus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, konnte er das Werk unserer Befreiung verrichten.
Beides erwähnt der Engel übrigens schon im ersten Teil der Ankündigung: In Vers 31 steht, dass Maria einen Sohn gebären wird: Jesus ist wahrer Mensch. Und in Vers 32 heißt es, dass dieser Sohn zugleich Sohn des Höchsten, also Sohn Gottes genannt wird: Jesus ist wahrer Gott. Und dieser wahre Mensch und wahre Gott wird die Verheißungen erfüllen und ewig herrschen (Luk. 1,32.33).
Jesus musste sündenfrei sein, um die Sünden anderer stellvertretend zu tragen. Wenn er von einem menschlichen Vater abstammen würde, wäre er letztlich ein Sohn Adams und damit ein Sohn der Sünde. Dennoch musste der Messias ein Mensch sein, denn er sollte stellvertretend für die Menschen die Strafe erleiden.
Eine unlösbare Aufgabe? Genau hier fordert uns der Engel heraus, die Grenzen menschlichen Denkens zu verlassen und zu erkennen, dass Gott Gott ist! Was heißt das? Hier kommt die Lektion für Maria und für alle, die daran zweifeln, ob Gott wirklich retten kann und ob Gott der wahre Vater von Jesus Christus ist: „Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (Luk. 1,37).
Nun wird auch deutlich, dass es im Grunde bei Auseinandersetzungen mit den übernatürlichen biographischen Ereignissen im Leben Jesu nicht um Auslegungsfragen oder Möglichkeiten der Adaption heidnischer Mythen geht, sondern um unterschiedliche Weltanschauungen. Glaubt man an einen souveränen Gott, der die Welt regiert und darum auch in das natürliche Geschehen übernatürlich eingreift, oder glaubt man an einen Gott, der wohl irgendwie den ersten Anstoß gab, aber nun das Weltenall ausschließlich aus der Ferne betrachtet und vielleicht selbst gespannt verfolgt, wie alles einmal ausgehen wird?
Sind die in der Bibel berichteten Ereignisse Zufälle oder Mythen? Lukas und die anderen Evangelisten bezeugen unmissverständlich, dass das uns in Lukas 1 Berichtete kein Mythos ist, sondern dass Gott dort mächtig und gnädig und einzigartig gewirkt hat. Mehr noch: Dass Gott in Jesus selbst Mensch geworden ist.
Das, was uns in den beiden ersten Kapiteln des Lukasevangeliums mitgeteilt wird, ist nicht der märchenhafte, mystische Beginn einer großen Erfolgsstory, sondern es ist das Fundament, auf dem der Glaube steht.
Möge diese Botschaft in dieser Advents- und Weihnachtszeit klar verkündet werden und viele Menschen erreichen.