„Wir sind Bettler – Das ist wahr.“
Ein echter Bauersohn
In einer sprachübergreifenden internationalen Untersuchung, die vor zehn Jahren von einem französischen Forscher durchgeführt wurde, schnitt Martin Luther als wichtigste deutsche Persönlichkeit der Geschichte ganz gut ab. Nach Leonardo da Vinci und Christoph Kolumbus nahm er in der Kategorie Mittelalter und Frühzeit den dritten Platz ein. Aber was wissen wir von diesem Sohn eines Bergmanns, der vor knapp 500 Jahren maßgeblich an der Reformation der Kirche beteiligt war und über den jährlich hunderte Studien veröffentlicht werden? Mit Bezug auf seinen Großvater und seinen Urgroßvater, die Bauern waren, beschrieb er auch sich als „Bauersohn“. Als zweiter Sohn von neun Geschwistern im Jahr 1483 geboren, hießen sein Vater Hans Luder und seine Mutter Margarethe, geborene Lindemann. Ab 1517 schrieb der dann schon 34-jährige Theologe seinen Familiennamen nicht mehr Luder, sondern Luther. Im Rückblick betrachtete er sein Elternhaus positiv. Von einer strengen, aber liebevollen und frommen Kindheit war die Rede. Allerdings musste er schon mit 14 Jahren das Elternhaus verlassen, um am Gymnasium zu lernen.
Das „Wohl für die Kinder“
Zeit seines Lebens hat Luther sich für Kinder und für eine gute, fromme Erziehung von Kindern gemäß dem Wort Gottes eingesetzt. Dass dabei seine guten Erinnerungen an sein Elternhaus eine wichtige Rolle spielten, ergibt sich aufgrund mehrerer Aussagen von ihm. Aus seinen Gesamtwerken von mehr als 125 voluminösen Bänden mit Schriften und Veröffentlichungen hielt Luther selbst neben seinem Über den unfreien Willen seinen Kleinen Katechismus von 1529 für die wichtigste Veröffentlichung. Obwohl Luther im selben Jahr auch einen umfassenderen Katechismus herausgab, später als der Große Katechismus bekannt, verbreitete sich der Kleine Katechismus im 16. Jahrhundert rasch und wurde unter anderem ins Lateinische, Dänische, Französische, Polnische, Niederländische, Slowenische, Litauische, Altpreußische, Italienische sowie ins Arabische übertragen.1 Man schätzt ihn als einen der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katechismen aller Zeiten. In der Betonung der Wichtigkeit den Menschen biblische Lehre zu vermitteln, wird er nicht müde, Eltern darauf hinzuweisen, ihre Kinder nicht nach eigenem Willen, sondern gemäß den Geboten Gottes zu erziehen. Christus soll gehorcht werden, gerade auch in der Erziehung unserer Kinder…
Solus Christus (Christus allein)
Luthers Erkenntnis seiner eigenen Sünde, sein Ringen mit dem Teufel, sein Wissen um das Elend des Menschen, die Tatsache dass er das Schriftwort über unsere Schuld Gott gegenüber ernst nahm, das alles hatte im mittelalterlichen Zusammenhang jener Zeit eine große Wirkung auf ihn und auf sein Bemühen, die Heilige Schrift den Studenten in den Vorlesungen und der Gemeinde in der Predigt auszulegen. Allmählich löste der Herr ihn von den Auslegungsmethoden seiner Zeit. In diesen von Aristoteles geprägten scholastischen Methoden fragte man weniger nach dem, was der Autor gemeint habe. Eher wurde auf spitzfindige Art mit bestimmten mittelalterlichen Kommentaren und Sentenzen über den biblischen Text argumentiert, die dann nach bestimmten dialektischen Methoden eingesetzt wurden. Dagegen ist Luther in seiner Schriftauslegung zu der Einsicht gelangt, dass Christus im Zentrum der Auslegung stehen soll, da er der Bezugspunkt der Heiligen Schrift ist. Daraus entfaltet sich die umfassende Bedeutung, die Christus für unser Leben hat.
Schlussverkauf: Sündenvergebung
Die Forderung nach unbedingtem Gehorsam gegenüber Christus, dem einzigen Erlöser, brachte Luther unvermeidlich in Widerspruch und Streit mit vielen falschen Praktiken seiner Zeit. Er sah, wie es vielen Amtsträgern in der Kirche mehr ums Geld ging als um die seelsorgerlichen Nöte der Gläubigen. Gerade die pastoralen Sorgen, die er sich über die einfachen Gläubigen machte, die unter dem falschen und korrupten Verhalten vieler Klerikaler litten, drängten ihn dazu, neben seinen Thesen vom September 1517 gegen die scholastische Theologie bereits im folgenden Monat auch gegen die gängige Ablasspraxis Stellung zu nehmen. Die Ablasspraxis lehrte, dass man Sündenvergebung für sich oder für Verwandte kaufen könne. Dies wiederum gründet auf der römisch-katholischen Überzeugung, dass der Mensch in Ergänzung zum Heilswerk Christi selber einen Beitrag zum eigenen Heil liefern könne. (Die Ablasspraxis gibt es auch noch heute in der römisch-katholischen Kirche.) Mit seinen berühmt gewordenen 95 Thesen widerlegte Luther diese Lehre. Gegenüber dem „Schatz des Ablasses, mit dem man … den Reichtum von Besitzenden fängt“ – These 66), formulierte Luther mit These 62 die Widerlegung: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“
Luthers „neue Auslegung“ der Heiligen Schrift – die Art und Weise, in der das Neue Testament auf dem Alten beruht und wie Jesus Christus und seine Apostel sich auf die Verheißungen des Alten Testaments berufen – war in Wirklichkeit gar nicht neu. Mit diesem Verständnis des Wortes Gottes knüpfte er sowohl an die Schrift als auch an die Sicht der Kirchenväter an. Konflikt mit den kirchlichen Strukturen seiner Zeit war somit angesagt. Kirchliche Amtsträger waren für diese Botschaft nicht offen. Beim gemeinen Volk dagegen verbreitete sich Luthers Verkündigung des Evangeliums wie ein Lauffeuer. Seine Schriften und Traktate wurden in großen Auflagen gedruckt, übersetzt und in fast ganz Europa verbreitet. Der Papst, der Kaiser und andere wichtige Personen in Kirche und Gesellschaft fühlten sich bedroht. Luthers Betonung der uneingeschränkten Autorität Jesu Christi konnte ihre Position ins Wanken bringen.
„… ich kann … nicht widerrufen …“
Als Luther auf dem Reichstag in Worms 1521 aufgefordert wurde, gegenüber Kaiser Karl V. seine Schriften zu widerrufen, lehnte er mit folgender schriftlich protokollierten Antwort den Widerruf ab:
„Es sei denn, dass ich durch Zeugnisse der Schrift (testimoniis scriptuarum) und klare Vernunftgründe überführt werde – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen (victus sum scripturis), und ist mein Gewissen gefangen in dem Wort Gottes (capta scientia in verbis dei). Daher kann (possum) und will (volo) ich nichts widerrufen (revocare), weil es weder sicher noch recht ist, gegen das Gewissen zu handeln.“2
Daraufhin wurde im Mai 1521 vom Kaiser die Reichsacht über Luther verhängt. Bekanntlich wurde er auf dem Rückweg nach Wittenberg im Auftrag des sächsischen Kurfürsten „entführt“ und auf der Wartburg in Sicherheit gebracht. Auf der Wartburg sollte er unter anderem mit der Bibelübersetzung ins Deutsche anfangen.
Berufener Diener des Wortes
Luther wollte keine „neue“ Kirche gründen. Er hat auch niemals einen Plan entworfen, ein Reformator zu sein. Nur wollte er das Wort Gottes auslegen und verkündigen. Reformation plant man nicht – sie wird von Gott gegeben, und dafür gebraucht der Herr Werkzeuge, wie berufene Diener des Wortes.
Auf der einen Seite war Luther unter dem Volk sehr populär. Auf der anderen Seite wurde sehr viel über ihn gelästert, vor allem von so genannten Leitfiguren in Kirche und Gesellschaft. Obwohl er zum Beispiel auf seiner Reise nach Worms sehr umjubelt wurde, konnte er auch unpopuläre Prinzipien vertreten, wie während der Bauernkriege der 1520er Jahre, als er nicht bereit war, den Grundsatz „mit dem Wort, nicht mit dem Schwert“ aufzugeben: Die Wahrheit verteidigt man mit dem Wort, nicht mit Gewalt.
Das Wort Gottes in der Sprache des Volkes
Nach Worms (1521) sollte Luther noch viel tun und viel bewegen. Seine Bibelübersetzung, seine immens vielen Schriften, seine Predigten, seine Schriftauslegungen, seine Katechismen … Das alles war in den folgenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten von unermesslicher Bedeutung für die Verbreitung des Evangeliums. Auch Reformatoren der zweiten Generation haben an Luther und seine Mitstreiter angeknüpft in der weiteren Entwicklung der Reformationsgeschichte … in der Nachfolge Christi und seines Wortes.
Mensch als Instrument Gottes
Luther, der 1525 die ehemalige Nonne Katharina von Bora heiratete, war für seine direkte Art bekannt, für seine Volkstümlichkeit, für seine Nähe zu den einfachen Menschen. Das Ehepaar hatte sechs Kinder, zwei starben jung. Sie hatten ein besonders glückliches Familienleben mit einem Haus, das für alle offenstand: für Studenten, Freunde, Besucher aus aller Welt. Frau Luther, oder „Herr Käthe“, wie Luther sie liebevoll und voller Bewunderung nannte, musste mit großem Fleiß sehr genau planen, um alle aus der eigenen Wirtschaft versorgen zu können. Um den Tisch herum fanden die berühmten „Tischgespräche“ statt, die teils von Studenten protokolliert wurden. Damit hat man kostbare Weisheiten und Aussagen Luthers für die Nachwelt überliefert.
Am 18. Februar 1546 starb Luther. Sein letztes Gebet waren die gleichen Worte der Verheißung aus Psalm 31,6, die von Jesus Christus am Kreuz erfüllt worden sind (Lukas 23,46): „…ich befehle meinen Geist in deine Hände!„; wie auch das Sterbensgebet des ersten christlichen Märtyrers Stephanus (Apg. 7,59). Bei der Trauerfeier, vier Tage später, betonte Philipp Melanchthon, Mitstreiter und geistlicher Nachfolger Luthers, wie Luther ein Instrument Gottes in der Kette von Zeugen des Herrn war, von Adam über alle Propheten und Apostel bis zu den Dienern der nachbiblischen Zeit. Luthers letzte Worte, die er noch aufschreiben konnte, haben die Jahrhunderte überdauert: „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ Damit kam seine ganze Theologie zum Ausdruck, sein Vermächtnis als Mensch und Theologe – der Mensch in seiner umfassenden Abhängigkeit von der Gnade des Herrn Jesus Christus; der Mensch als nur Instrument in den Händen Gottes.
1) Vgl. Kern, Udo, Luther als protestantischer Katechet. In: d’Assonville, Victor E. & Britz, Dolf, Reds., Calvyn as kategeet. Kongresband met bydraes gelewer tydens die Agtste Suid-Afrikaanse Calvynnavorsingskongres, Bloemfontein, 2 tot 4 September 2008. Koers 74(4) 2009:579-618. 2009.
2) Weimarer Ausgabe (WA) 7, 838,4-8.