Philipp Melanchthon (1497–1560) Vom Wunderkind zum Professor in Wittenberg

Philipp Melanchthon (1497–1560) Vom Wunderkind zum Professor in Wittenberg

Melanchthon: Der Unbekannte unter den Bekannten

Neben den vielen Ereignissen des zu Ende gehenden Jahres 2010, angefangen von der Fußball-WM bis zu den Versuchen die Weltwirtschaftskrise zu beheben, von dem Ringen um umstrittene Fragen zum Weltklima bis zu politischen Debatten über erneuerbare Energien, von Afghanistan und Haiti bis zum Gazastreifen, von der Ölpest im Golf von Mexiko bis zu den Vulkanausbrüchen in Indonesien, Island usw., ist wahrscheinlich an den meisten unbemerkt vorbeigegangen, dass das Jahr 2010 auch das Melanchthonjahr war. Viel Aufmerksamkeit hat der wichtigste Mitstreiter und geistliche Nachfolger Luthers in der Öffentlichkeit nicht gefunden. Er starb vor 450 Jahren als einer der über die Grenzen des Landes hinaus bekanntesten Deutschen seiner Zeit. Einige Zeitungsartikel, einige Festakte, einige Museumsausstellungen, einige Ringvorlesungen oder Vorträge … Man könnte sich fragen, ob dieses Wenige dem Profil des intellektuellen, genialen Geistesriesen und Reformators ersten Ranges wirklich gerecht geworden ist.

Der Lehrer Deutschlands – ein Universalgelehrter

Dabei war Philipp Melanchthon – geboren als Philipp Schwartzerdt in Bretten im Jahr 1497 – von seinen Zeitgenossen, Gleichgesinnten wie Gegnern außerordentlich geschätzt und im In- und Ausland bekannt. Schon im Jahr 1518 schrieb Luther über Melanchthon: „Wenn er uns erhalten bleibt …, dann weiß ich nicht, was wir mehr erhoffen können.“ Dass Melanchthon den Ehrennamen „Praeceptor Germaniae“ bekam – also „Lehrer“ oder „Lehrmeister Deutschlands“ – war kein Zufall. Vielmehr war dieser Titel menschlich gesehen durchaus berechtigt. Schon zu Lebzeiten gehörte Melanchthon zu den angesehensten führenden Köpfen und Anwälten der Reformation. Nicht zuletzt war sein pädagogischer Beitrag von ausschlaggebender Bedeutung, vor allem in der Reform des Schul- und Universitätssystems und im Verfassen von Lehrbüchern, die über Jahrhunderte hinaus einflussreich blieben. Theologische Werke Melanchthons, wie seine Loci communes – die Erstausgabe von 1521 gilt als die „erste evangelische Dogmatik“ – und das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, 1530) haben seinen theologischen und geistlichen Einfluss begründet. Hinzu kommt sein Format als Philologe, Dichter, Kirchenleiter, Akademiker, Historiker usw. in der damaligen Umbruchzeit zur Moderne. Er war ein Universalgelehrter im wahrsten Sinne des Wortes, zumal er sich sogar auch in einigen Naturwissenschaften auf dem wissenschaftlichen Stand seiner Zeit befand.

Ein Wunderkind

Manche außergewöhnlichen Menschen der Geschichte erreichen ihre wichtigen Errungenschaften erst spät im Leben. Bei Melanchthon war es anders. Schon in jungen Jahren wurden die Weichen für ein außerordentliches Leben gestellt. In gewisser Hinsicht war der junge Melanchthon ein „Wunderkind“. Als Zwölfjähriger immatrikulierte er sich an der Universität Heidelberg. Dort wurde ihm mit vierzehn Jahren der Bachelorgrad
(Baccalaureus Artium) verliehen. Danach wechselte er zur Universität Tübingen und erwarb dort, noch vor seinem siebzehnten Geburtstag, den Magistergrad (Magister Artium). Von jetzt an hatte er die Befugnis zur Lectura, das heißt das Recht, Vorlesungen zu halten.

Ein Humanist als Reformator?

Häufig liest man von Melanchthon, er sei ein „Humanist“ gewesen. Oder man stößt auf Buchtitel wie „Melanchthon, der Humanist“. Der durchschnittliche Leser kann oft wenig damit anfangen. Besagen Ausdrücke wie „Humanismus“ oder „Humanist“ nicht etwas Unchristliches oder, im günstigsten Fall, etwas Religion-Neutrales oder Anthropozentrisches, so dass der Mensch und seine Leistungen im Mittelpunkt stehen? Wie haben wir es zu verstehen, dass Melanchthon gleichzeitig sowohl Reformator als auch Humanist war? Die Verwirrung im heutigen Sprachgebrauch um die Begriffe „Reformator“ und „Humanist“ finden nicht zuletzt darin ihre Ursache, dass der Begriff „Humanist“ seit der Aufklärung, vor allem seit dem 18. und 19. Jahrhundert, einem erheblichen Bedeutungswandel unterlag.

„Zu den Quellen“

Zu Melanchthons Zeiten, also in den Anfangsjahren der Reformation im 16. Jahrhundert, verhielt es sich anders. Mit Blick auf den damaligen Kontext weist der Begriff „Humanist“ in erster Linie auf das Ideal hin, das in dem Leitspruch „zu den Quellen“ (auf Lateinisch: ad fontes) zum Ausdruck kam. Im Zuge der italienischen Renaissance hatte sich dieses Ideal seit Ende des 15. Jahrhunderts herausgebildet. Damit war gemeint, dass die gerade wiederentdeckten griechischen und lateinischen Quellen der Antike aufs Neue zu würdigen und zu studieren sind. Dazu waren natürlich Kenntnisse der betreffenden Sprachen, also des Griechischen und des klassischen Latein unentbehrlich. Hinzu kam das Hebräische.

Die Heilige Schrift in den Originalsprachen

Es liegt nahe, dass die Betonung der ursprünglichen Quellen besonders für die Theologie und dadurch auch für die Kirche Konsequenzen mit sich brachte. Diese waren letztendlich immens. Auf diese Weise gewann die Heilige Schrift als primäre Quelle für Glauben, Kirche und Theologie an Bedeutung. Im Gegensatz zum Mittelalter hatten Kenntnisse der biblischen Grundsprachen, des Hebräischen sowie des Griechischen, Gewicht. Schließlich musste ein Theologe in der Lage sein, die biblischen Schriften in den Originalsprachen zu lesen und zu studieren. Ein wichtiger Vertreter dieser Epoche der Durchsetzung des humanistischen Ideals war Erasmus von Rotterdam. Man denke zum Beispiel an seine griechische Textausgabe des Neuen Testaments (ab 1516). Ein anderer war Johannes Reuchlin. Er leistete Bahnbrechendes zum Erschließen und Unterrichten des Hebräischen. Auf einmal fingen Theologen und Theologiestudenten an, nicht mehr lediglich spätmittelalterliche Kommentare, Sentenzen und Notizen zu Bibelbüchern zu lesen, sondern sie studierten mit Eifer den griechischen und den hebräischen Grundtext. In dieser Hinsicht verlieh der Humanismus des 16. Jahrhunderts der Reformation einen gewaltigen Schub. In diesem Sinne ist Melanchthon als Humanist zu bezeichnen.

Von schwarzer Erde zu Melanchthon

Melanchthons philologische Arbeiten belegen schon von seiner Jugend an, was er für ein außergewöhnlicher Kenner der alten Sprachen war. Kein Geringerer als Erasmus, der namhafteste Humanist des 16. Jahrhunderts, lobte den Neunzehnjährigen für seine erste Textausgabe in Tübingen. Es war eine Veröffentlichung von Werken des Terenz. Auch überrascht es nicht, dass er schon als Kind die griechische Form seines Nachnamens, Melanchthon („schwarze Erde“), von dem in gelehrten Kreisen Europas hochberühmten Johannes Reuchlin erhielt. In jener Zeit war es für Humanisten üblich, ihre deutschen Nachnamen in griechische oder lateinische Formen zu ändern.

Im Nachhinein ist es auch begreiflich, dass der junge Melanchthon mit 21 Jahren den Ruf auf den soeben neu errichteten Lehrstuhl für Griechisch nach Wittenberg bekam. Es war die Konsequenz eines außergewöhnlichen Studienwerdegangs. Hier lernen sich Luther und Melanchthon kennen. Es war das Jahr 1518, gerade ein Jahr nach Luthers Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg.