Eine deutsche Reformation, ein deutscher Reformator?
Schon vor 35 Jahren stellte die theologische Koryphäe Kurt Aland kritisch fest, dass, wenn heutzutage von „den Reformatoren“ gesprochen werde, selbst ein Theologe, um von der Gemeinde ganz zu schweigen, im allgemeinen nur an Luther und Calvin denke. Wird aber „vom ‚Reformator‘ geredet, so meint man damit Luther“.1 Diese Feststellung gilt immer noch. Die Bedeutung Melanchthons als Reformator ist entweder nicht bekannt oder ist – auch in Deutschland – einfach in Vergessenheit geraten. Eine derartige Bildungslücke zeugt allerdings von mangelndem Verständnis für die Geschichte der Reformation.
In den ersten beiden Artikeln dieser kurzen Reihe (Bekennende Kirche, Dez. 2010, Nr. 43, S. 16-18 und Juli 2011, Nr. 45, S. 21-23) wurde auf den Beitrag Melanchthons und auf seinen Werdegang als Schlüsselfigur für die Durchsetzung der Reformation im deutschsprachigen Raum eingegangen. Jetzt werfen wir einen Blick auf Melanchthons Beziehung zum anderen berühmten Wittenberger, zu Martin Luther.
Eins im Glauben …
Wie lässt sich das Verhältnis Melanchthons zu Luther beschreiben? Reicht es, wie häufig zu lesen ist, Melanchthon lediglich als „Mitstreiter“ oder „Mitarbeiter Luthers“ zu bezeichnen? Meint man damit eine gemeinsame theologische Ausrichtung? Nicht ohne Grund wurde die Frage des Verhältnisses Luthers zu Melanchthon immer wieder thematisiert. Mit speziellen Formulierungen versuchte man, diese nicht unkomplizierte Beziehung auf den Punkt zu bringen. Einerseits heißt es zum Beispiel, „die Sache stand über den Personen“,2 andererseits ist die Rede von „Einheit im Gegensatz“.3 Indem wir daran anknüpfen, plädiert der vorliegende Beitrag dafür, die Einheit im Glauben Luthers und Melanchthons trotz unterschiedlicher Persönlichkeiten, Hintergründe und Ansätze zu betonen: Verschieden im Charakter, einig im Glauben.
„… Esel und Bachant …“ 4
„Derjenige, der Melanchthon nicht als Lehrer (praeceptor) anerkennt, der muß ein rechter Esel und Bachant (= dummer Student) sein, den der Dunckel gebissen hat.“5
Mit dieser für ihn typisch prägnanten Formulierung drückte Luther seine hohe Wertschätzung für Melanchthon aus. Schon bei der Antrittsvorlesung Melanchthons am 28. August 1518 erwachte eine Bewunderung von Seiten Luthers, die bald darauf in Begeisterung übergehen sollte. Die Wertschätzung war gegenseitig. Melanchthon hat lebenslang die gewaltige Fähigkeit Luthers geschätzt, das Evangelium rhetorisch gewandt zu predigen. Luther wiederum hat Melanchthon für seine philologische Begabung und seine Beherrschung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes seiner Zeit gelobt und gewürdigt. Bekanntlich hätte die lutherische Bibelübersetzung ohne Melanchthons Unterstützung, Ratschläge und Beiträge zu Sprach- und Begriffsdifferenzierungen nie die fast unermessliche Wirkung und Bedeutung für die weitere Verbreitung des Evangeliums und die Umsetzung der Reformation gehabt, wie es dann geschehen ist.
Eigene Wege
Trotz allem gegenseitigen Respekt und entgegen einer lebenslangen engen Beziehung stellt sich die Frage, wie die verschiedenen theologischen Ansätze und Lehrmeinungen Luthers und Melanchthons zu deuten sind. Beispiele sind ihre unterschiedlichen Auffassungen zur Rechtfertigungslehre, zum Abendmahl und zur Frage des freien Willens, die in der Forschung öfters thematisiert worden sind.
Statt aber auf feinere Details einzugehen, wird hier in Anlehnung an Neusers gründliche, quellenbezogene Studie auf die Glaubenshaltung beider Reformatoren hingewiesen. Sie kann uns nämlich einiges erklären, wie es überhaupt dazu kam, dass Luther und Melanchthon in den Jahren zwischen 1518 und 1546 – in diesem Jahr verstarb Luther –, Jahre, in denen sie sehr eng und intensiv zusammenarbeiten mussten, „trotz ihrer offensichtlichen theologischen Gegensätze immer die Einheit bewahrt haben“.6
Luthers Glaubenshaltung, Melanchthons Wesensart
Wenn es für Luther klar wurde, dass die zentrale Lehre von der Rechtfertigung auf dem Spiel stehen und damit das Evangelium bedroht sein könnte, war er bereit einzuschreiten, zum Beispiel im Cordatus-Streit. Mit Melanchthon sollte er die Differenzen in der sachlichsten Form überhaupt, nämlich auf akademischer Ebene austragen, oder sie in brüderlichen Aussprachen zu klären versuchen.7 Wesentlich von Bedeutung ist, dass Luther kein Lehrsystem verteidigte, sondern das Evangelium von Jesus Christus. Das brachte mit sich, dass Luther durchaus in der Lage war zu differenzieren und eine Lehrvielfalt zwischen ihm und Melanchthon stillschweigend ertragen konnte, insofern er das Evangelium nicht angetastet sah.
Melanchthon wiederum empfand zwar „Luthers Kampf gegen die römische Verdienstlehre als berechtigt“, „aber zugleich als einseitig.“8Er selbst achtete es für notwendig, auf das Willensvermögen des Menschen hinzuweisen als wesentlichen Bestandteil eines umfassenden ethischen Systems. Allerdings hielt seine Wesensart, die ruhiger und maßvoller war als diejenige Luthers, Melanchthon zurück, die Auseinandersetzung mit Luther zu suchen.9 Dabei wog für Melanchthon „das Wissen um die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Luther“ sehr schwer. Sich selbst verstand er nur als Mitarbeiter Luthers. Zu dieser Beziehung äußerte sich Luther einmal:
„Mich bewegen mehr die kleinen und leichten Dinge, die großen aber nicht. Denn ich denke: Sie gehen über deine Kräfte hinaus, ‚du kannst es nit halten, also laß es gehen‘. Anders macht es Philippus. Er wird von meinen Angelegenheiten nicht bewegt, sondern ihn bewegen jene schwierigen Probleme der Öffentlichkeit und Religion, mich bedrücken nur die privaten. So sind die Gaben verschieden.“10
Einigkeit im Geist
Dass es Lehrunterschiede, sogar schwerwiegende, zwischen Melanchthon und Luther gab, lässt sich also nicht leugnen. Wie sie damit umgegangen sind, ist aber richtungsweisend. Was sie letztlich zusammenhielt, war nicht nur persönliche Freundschaft, sondern noch viel stärker ihr gemeinsamer Glaube und das gemeinsame Wissen um ihre Berufung. Einblick hierin gibt uns die Inschrift auf der Westseite des Sockels des Melanchthon-Denkmals in Wittenberg, nur einige Meter vom Luther-Denkmal entfernt: Sei[d] fleißig zu halten die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens. Ep[h]es. 4.3.
1) Aland, Kurt, Die Reformatoren. Gütersloh [Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn]1976, S. 49.
2) So auf der Webseite einer Evangelisch-lutherischen Freikirche in Celle.
3) So lautet der Titel einer Schrift von Wilhelm H. Neuser, Luther und Melanchthon – Einheit im Gegensatz. Ein Beitrag zum Melanchthon-Jubiläum 1960. München [Chr. Kaiser Verlag] 1961.
4) „Bachant“ kommt aus dem mittelalterlichen Latein und bedeutet so viel wie „bettelnd, umherziehend“. Nach Luther weist der Begriff auf einen hin, der nicht zu den eigentlichen Studenten gehört und daher weder gebildet noch gelehrt ist (vergleiche WA 33,25) – so Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Bänd 2. Berlin [De Gruyter]. 1994, Sp. 1618.
5) In: Günther R. Schmidt, Hrsg., Philipp Melanchthon – Glaube und Bildung. Texte zum christlichen Humanismus. Stuttgart [Reclam]. 1989, S. 3.
6) Neuser, Wilhelm H., Luther und Melanchthon – Einheit im Gegensatz. Ein Beitrag zum Melanchthon-Jubiläum 1960. München [Chr. Kaiser Verlag] 1961, S. 3.
7) A.a.O., S. 35f.
8) ebd..
9) A.a.O., S. 37.
10) Bei Neuser, a.a.O., S. 39.