Hebräer 12,1-3: Mit Freude an der Ziellinie ankommen

Hebräer 12,1-3: Mit Freude an der Ziellinie ankommen

Der Weltbestseller: Die Pilgerreise zur ewigen Seligkeit

Es gilt als eines der größten Bestseller aller Zeiten: John Bunyans Buch „Die Pilgerreise zur ewigen Seligkeit“. Solche Bücher heben uns aus einer zeitgebundenen Sicht des Christseins heraus. Der Autor lebte im 17. Jahrhundert. Er verbrachte Jahre im Gefängnis. Dafür musste er seine große, Not leidende Familie zurücklassen, was ihm fast das Herz brach. Wie beschrieb Bunyan das christliche Leben? Er verwendete die Form eines allegorischen Reiseberichts, in dem er das Leben des Pilgers „Christ“ durch diese Welt hin zur ewigen Seligkeit beobachtend begleitete. Dieser Mann war dem Verderben entflohen, und er befand sich nun auf dem Weg in die himmlische Stadt. Durch das Lesen der Bibel hatte er erkannt, welche riesige Last der Sünde er mit sich herumgeschleppt hatte. Diese Last wog viel schwerer als die größten Anfechtungen, die er nachher erdulden musste. Sein Weg war von Schwierigkeiten und Ermutigungen gepflastert, die beide die Gewissheit über das Ziel und die Herrlichkeit des Retters stärkten. Bunyan schrieb nach seiner Entlassung aus dem zwölfjährigen Gefängnisaufenthalt: „Mir wurde gezeigt, dass der beste Weg im Leiden darin besteht, zuerst im Blick auf alle Dinge dieses Lebens das Todesurteil zu fällen, auch über mich selbst, über meine Frau, meine Kinder, meine Gesundheit, die Freuden meines Lebens, alles für mich und mich selbst als für sie gestorben anzusehen. Das andere war, im Vertrauen auf den unsichtbaren Gott zu leben.“[1]

Diese Beschreibung mag uns hart erscheinen. Sie entspricht jedoch der Erfahrung der Christen durch die Jahrhunderte. Sie deckt sich auch mit dem biblischen Bericht, dem wir uns zuwenden, dem Brief an die Hebräer. Dieses Schreiben ist an eine Gruppe von Judenchristen gerichtet, die heftiger Verfolgung ausgesetzt waren. Ein Teil der Gemeindemitglieder war in ihren angestammten jüdischen Glauben zurückgekehrt. Dies ist nun wirklich keine einfache Ausgangslage. Diesen Christen schrieb der unbekannte Autor: Lasst uns jede Last ablegen und die Sünde, die uns so leicht umstrickt, und lasst uns mit Ausdauer laufen in dem Kampf, der vor uns liegt, indem wir hinschauen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der um der vor ihm liegenden Freude willen das Kreuz erduldete… (Hebr. 12,1.2).

Unser Lebenslauf in der großen Arena

Wie bei jedem Abschnitt in der Bibel ist es zunächst wichtig zu fragen: In welchem Zusammenhang steht er? Ich habe den ersten Teil des ersten Verses abgeschnitten. Dort heißt es: Da wir nun eine solche Wolke von Zeugen um uns haben… (Hebr. 12,1). Von wem ist hier die Rede? Um was für eine Wolke handelt es sich? Wer ist mit den Zeugen gemeint?

Mit Wolke ist eine dicht gedrängte Menge von Menschen gemeint. Der Schreiber schildert das Bild einer himmlischen Arena von bereits verstorbenen Glaubenshelden. Von diesen Vorbildern hatte er vorher 40 Verse lang gesprochen. Diese Menschen sind inzwischen in der unsichtbaren Welt versammelt. Sie befinden sich auf den Zuschauerrängen, während wir auf der Erde daran sind, unseren Lebensmarathon zu absolvieren. Am Schluss des Zeugenberichts in Hebräer 11 zählt der Schreiber beispielhaft mit und ohne Namen eine Anzahl alttestamentlicher Personen auf, die durch Siege und Niederlagen hindurchgehen mussten (Hebr. 11,32-40). Bei aller Unterschiedlichkeit im Lebensverlauf war ihnen allen gemeinsam, dass sie durch den Glauben lebten und eine bessere Heimat erwarteten.

Zwei meiner Söhne durften im vergangenen Jahr beim Weltklasse-Leichtathletik-Meeting im Zürcher Letzigrund die Nationalhymne singen. Das Bild des Hebräerbriefs ist noch viel großartiger: Jeder Christ befindet sich in der riesigen Arena von Gottes weltweitem Volk. Er ist in der unsichtbaren Arena der Christen, die uns in die Herrlichkeit vorangegangen sind. Du und ich sind Läufer in dieser Arena. Wir laufen wie „Christ“ aus Bunyans Pilgerreise den Lebensmarathon.

Wir erkennen hier fünf Weisungen für die Läufer in der Arena des Glaubens:

  1. Der gemeinschaftliche Anschub: Lasst uns

Die erste Anweisung überlesen wir leicht. Sie ist im Griechischen in einer auffordernden Form verfasst: Laufe im Kollektiv! Die christliche Gemeinde ist der Ort von Schutz, Ermutigung und Korrektur für jeden, der sich auf dem Lebensmarathon befindet. Den Schreiber erfasst ein heiliger Schauer, wenn er an diejenigen denkt, die sich alleine durchwursteln: Lasst uns nun mit Furcht darauf bedacht sein, dass sich nicht etwa bei jemand von euch herausstellt, dass er zurückgeblieben ist (Hebr. 4,1).

Als ich mir das erwähnte Weltklassemeeting am Bildschirm ansah, erfasste mich Mitleid mit einem Läufer, der weit abgeschlagen am Schluss lief. Was für ein Gegensatz zur Spitzengruppe! Der Moderator klärte die Zuschauer darüber auf, dass eine Person eigens dafür da war, das Tempo für seine Kollegen zu halten. Ähnlich wird im Hebräerbrief die anspornende Wirkung des Kollektivs beschrieben: Lasst uns aufeinander achtgeben, damit wir uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unser Zusammenkommen nicht versäumen wie es einige zu tun pflegen… (Hebr. 10,24.25).

Man bedenke, wozu der Schreiber auffordert: Zusammenzukommen hieß für die damaligen Briefempfänger Gefahr für Leib und Leben. Jeder Grund zum Fernbleiben wäre für sie gerechtfertigt gewesen. Aber in Wahrheit wäre es noch gefährlicher für sie gewesen, nicht in die Gemeinde zu kommen.

Das sollte uns zu denken geben. Unsere Agenden sind heute um unsere Arbeit und unsere Freizeit herum geplant. Das erste Kriterium für unsere Beteiligung in der christlichen Gemeinschaft lautet oft: Will ich? Mag ich? Der Hebräerbrief legt seinen Finger auf einen Denkwechsel: Anstatt des Mottos „wie ich will“, soll uns bestimmen „Lasst uns“. In welchem Modus läufst du?

  1. Die Art des Lebenslaufs: Kampf

Lasst uns laufen … in dem Kampf, der vor uns liegt … Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde (Hebr. 12,1.4). Die Gegenwartsform des griechischen Grundtextes deutet an, dass der Wettkampf lebenslänglich währt. Von dem hier verwendeten Wort für (Wett-)Kampf stammt das Fremdwort, das in unsere Sprache Eingang gefunden hat: „Agonie“. Unser Leben als Christ wird als ein entbehrungsreicher, als ein uns total fordernder Kampf beschrieben. Das mag uns Westeuropäer irritieren. Wie haben wir uns diesen Kampf konkret vorzustellen?

Randy Alcorn beschreibt in seinem Buch „Post von Graf Moderthal“[2] diesen Lebenskampf anhand des Alltags einer zeitgenössischen vierköpfigen Familie. Er wechselt ständig zwischen Alltagssituationen der Familie und dem Kampf, der sich in der unsichtbaren Welt abspielt. Wer hat sich schon einmal konkret darüber Gedanken gemacht, wie der Plan von Gottes Gegenspieler aussieht? Es geht dem Feind darum, Mann und Frau in der Ehe voneinander zu entfremden, Eltern und Kinder in getrennten Welten leben zu lassen, Kindern durch die Peergroup (gleichaltrige Vergleichsgruppe) gezielt zu schaden. Der Gegner nützt scheinbar belanglose Situationen gezielt aus, zum Beispiel eine ungehaltene Reaktion oder einen Zornesausbruch, ein unverfängliches Mittagessen mit einer Arbeitskollegin, die Suche nach einem genauen Timing für das Ansprechen auf das Evangelium, den Fernseher, Gottesdienste, kurze Bemerkungen und Verhaltensweisen von Freunden und Familienmitgliedern, eine Notlüge am Arbeitsplatz. Es geht dabei um Folgendes: Unser Alltag ist unser Kampfplatz! Ich erinnere mich jeden Morgen im Gebet daran und bitte Gott den Herrn um Kraft, meinen Lebensmarathon weiterzugehen.

  1. Das Erfordernis an den Läufer: mit Ausdauer

Wir sollen diesen Wettkampf mit Ausdauer laufen. Von Zeit zu Zeit hole ich alte Tagebücher hervor und blättere darin. Dabei stelle ich fest, dass meine härtesten Zeiten die geistlich ertragreichsten für mich waren. Ganz ähnlich fordert der Schreiber des Hebräerbriefs die Wettkämpfer auf, die Erinnerung früherer Tage aufzufrischen: Erinnert euch aber an die früheren Tage, in denen ihr, nachdem ihr erleuchtet wurdet, viel Kampf erduldet habt, der mit Leiden verbunden war, da ihr teils selbst Schmähungen und Bedrängnissen öffentlich preisgegeben wart, teils mit denen Gemeinschaft hattet, die so behandelt wurden. Denn ihr hattet Mitleid mit mir in meinen Ketten bewiesen und den Raub eurer Güter mit Freuden hingenommen, weil ihr in euch selbst gewiss seid, dass ihr ein besseres und bleibendes Gut in den Himmeln besitzt. So werft nun eure Zuversicht nicht weg, die eine große Belohnung hat! Denn standhaftes Ausharren tut euch not, damit ihr, nachdem ihr den Willen Gottes getan habt, die Verheißung erlangt (Hebr. 10,32-36).

Was für schwierige Wegstrecken lagen hinter diesen Menschen: Ihre Wohnungen waren geplündert und ausgeraubt worden, und wer sich mit gefangenen Christen solidarisch zeigte, wurde empfindlich diskriminiert. Wie konnten diese Menschen solche harten Zeiten ertragen? Sie wussten um das bessere und bleibende Gut im Himmel. O wie wünsche ich mir, dass wir uns dieses Besseren mehr bewusst wären! Unsere geistliche Trägheit legt doch Zeugnis davon ab, dass wir die wahre Freude zu wenig kennen und nur unzureichend wertschätzen! Im Hinblick auf diese vergangenen Zeiten ruft der Schreiber: Werft eure Zuversicht nicht weg!

Stellen wir uns einen Läufer vor, der seine Zuversicht wegwirft. Dann fehlt ihm das wichtigste, der Antrieb. Was uns also Not tut, ist standhaftes Ausharren. Vielleicht läufst du gerade auf einer Strecke, in der besonderes Durchhaltevermögen gefragt ist. Woher soll die Kraft kommen? Darüber werden wir nicht im Unklaren gelassen.

  1. Die Zielrichtung: hinblickend auf Jesus

Woher holen wir die Kraft zum Durchhalten? Wir blicken auf Jesus. Das wird im Hebräerbrief immer wieder betont. Zum Beispiel: Wir sehen aber Jesus…. Betrachtet den Apostel und Hohepriester unseres Bekenntnisses, Christus Jesus … (Hebr. 2,9; 3,1). Der gesamte Hebräerbrief ist von der Absicht getragen, dass wir den Blick auf Jesus richten. Der Schreiber beginnt mit einer siebenfachen Schilderung des Gottessohnes, gefolgt von sieben Zitaten aus dem Alten Testament, die aufzeigen, dass Jesus Christus den Engeln weit überlegen ist. Jesus war größer als Mose, so wie er auch die Erfüllung des alttestamentlichen Gottesdienstes war. Dieser Jesus war bereit, den Tod am Kreuz zu erdulden, weil er auf die Freude danach blickte. An dieser Haltung sollen wir Maß nehmen! Bedenken wir: Ein Teil der Gemeinden hatte Jesus bereits den Rücken gekehrt. Andere standen in Gefahr, diesen Schritt ebenfalls zu tun. Der Schreiber warnt eindringlich vor dem Abirren: Wer den Sohn Gottes mit Füßen tritt, den erwartet ein schreckliches Gericht (Hebr. 10,29). Frage: Wer ist Jesus für dich? Und wohin blickst du?

  1. Die Hindernisse: jede Last ablegen und die Sünde, die uns so leicht umstrickt

Um richtig laufen zu können, haben wir jeden hinderlichen Ballast abzulegen. In diesem Abschnitt werden zwei Dinge erwähnt: Lasten und Sünden. Wir sind so erfinderisch, uns immer neue Lasten aufzulegen. Eine dieser Bürden ist das Ermüden und Ermatten, das in Vers 3 erwähnt wird. Es gibt Strecken, in denen wir mental so am Ende sind, dass wir am liebsten aufgeben würden. Darum ist der Blick auf Jesus so wichtig. Jeder Sportler weiß, dass die mentale Fokussierung auf das Ziel entscheidend wichtig ist. Noch hinderlicher wirken die Sünden. Der Schreiber erwähnt im weiteren Verlauf einige von ihnen: Bitterkeit (Hebr. 12,15), sexuelle Zügellosigkeit (Hebr. 13,4), Geldgier (Hebr. 13,5) und konkurrierende Ideologien (Hebr. 13,9).

Wie viele von uns denken zum Beispiel, dass die Jagd nach Geld die Freude und Energie am Laufen erhöht. Aber das stimmt nicht! Geldliebe ist eine der Sünden, mit denen wir uns leicht einwickeln lassen. Was lastet auf dir? Von was lässt du dich bremsen?

Unseren Lebenslauf mit Freude vollenden

James Innell Packer (geboren 1926) gehört zu den Christen, an denen ich mich orientiere. Ich sehe den Ausgang seines Wandels an und nehme daran Maß (vergleiche Hebr. 13,7). Der über 90-Jährige steht kurz davor, sich in die unsichtbaren Zuschauerränge einzureihen. Vor wenigen Jahren veröffentlichte er ein kurzes Buch „Unseren Lebenslauf mit Freude vollenden“. Ein gereifter, alter Mensch, so erläutert er, wird auch auf der letzten Etappe mit dem fortfahren, was er sein ganzes Leben getan hat: den Kampf der Heiligung fortsetzen, Sünden bekennen, Eigensucht bekämpfen und abtöten, anderen mit seinen Gaben (und Resultaten daraus) dienen, und zwar so lange es möglich ist.

Das säkulare Ideal geht in eine andere Richtung. Dort paart sich der Abschied vom Erwerbsleben häufig mit einem abrupten Richtungswechsel: Man müsse nun sich selbst belohnen. Aber Tagträume, Nostalgie und Sich-selbst-Verwöhnen beschleunigen den Alterungsprozess. „Ruhe dich aus!“ – „Amüsiere dich!“ – „Tu endlich das, was dir gefällt!“ Das Resultat ist eine zunehmende innere Öde und Hoffnungs- sowie Hilflosigkeit.

Ich habe einige Hinweise Packers aus dem Buch zusammengetragen. Sie sind weise Ratschläge an uns Läufer:

  1. Spare für die letzte Runde eine Reserve auf.
  2. Lebe vor Gott Tag für Tag.
  3. Kämpfe gegen Versuchungen.
  4. Denke an andere, bete für sie, schreib ihnen, ruf sie an.
  5. Kopple dich nicht vom Leben ab.
  6. Du dienst Gott auch mit deinem Körper. Halte ihn fit.
  7. Übernimm soweit es geht Verantwortung in Gottes Familie, in der Gemeinde.
  8. Denke wachsam darüber nach, was die Muster und Gewohnheiten deines säkularen Umfelds sind.
  9. Sei geistlicher Vater/geistliche Mutter für die nachrückenden Generationen.
  10. Behalte das Ziel im Blick, und plane sorgfältig den nächsten Tag.

[1]) John Bunyan, zitiert in: John Piper, Standhaft im Leiden. Bielefeld (CLV) 2006, Seite 57.
[2]) Randy Alcorn, Post von Graf Moderthal. Bielefeld [CLV] 2013.