Einleitung
Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit! Ein sehr kurzer Predigtabschnitt ist es, unter den wir uns heute stellen wollen. Manch einem mag diese Aussage sogar banal erscheinen: Was der Heilige Geist durch den Apostel Paulus der Gemeinde in Kolossä hier sagt, das wissen wir, das kennen wir, das brauchen wir nicht schon wieder zu hören.
Aber das Gegenteil ist wahr. Selbst wenn uns schon hundertmal über dieses Wort gepredigt wurde, so wollen wir es heute zum hundertundersten Mal hören. Denn wir haben zu erkennen, wie ausgesprochen wichtig, zentral, herausfordernd und auch tröstend für uns die Aussage dieses Verses ist. Denn es geht darin um nichts weniger als um die Grundlage unserer christlichen Lebensführung. Der Inhalt dieses Verses und der Predigt ist darum die Antwort auf die Frage: Was bestimmt unser Leben als Christ?
Das Wort des Christus wohnt in uns
Das Wort des Christus – was ist das eigentlich? Zunächst können wir annehmen, dass hiermit das Evangelium gemeint ist, das Wort, in dem uns Jesus Christus, der Sohn Gottes, der Erlöser, vor Augen gestellt wird. Dieser Gedanke ist sicher richtig. Aber wenn wir hierbei nur an die biblischen Schriften als solche denken, die einen festen Platz in unserem Leben haben sollen, greift der Gedanke zu kurz. Es geht um mehr.
Beachten wir nämlich zusätzlich, dass hier nicht steht, dass das Wort des Christus „unter euch“ oder „in eurer Mitte“ wohnen soll. Der Apostel Paulus will die Gemeinde in Kolossä und uns alle eben nicht bloß daran erinnern, dass wir die Bibel kennen sollen oder dass im Gottesdienst die Predigt des Wortes Gottes im Mittelpunkt stehen soll. Das versteht sich von selbst. Nein, hier steht buchstäblich in euch. Das Wort des Christus soll nicht nur zu bestimmten Gelegenheiten zugegen sein, wie es uns gerade passt, sondern in einer anderen, viel prägnanteren Weise.
Darum müssen wir auch auf den Begriff eingehen, der hier mit wohnen übersetzt ist. Dieser kommt im Neuen Testament insgesamt fünfmal vor und bezieht sich dabei immer auf unsere Zugehörigkeit zu Christus – entweder durch den Heiligen Geist (Röm. 8,11; 2Tim. 1,14), durch Gott selbst (2Kor. 6,16), durch das Wort des Christus (Kol. 3,16) oder auch durch den Glauben (2Tim. 1,5). Es geht dabei also im Kern um die Gemeinschaft mit Gott.
Diese Gemeinschaft ist die Grundlage unseres Lebens als Christen, und sie geht immer von Gott aus. Er ist derjenige, der in Christus seinen Bund mit uns aufgerichtet hat. Er beschenkt uns auch mit den Mitteln, die notwendig sind, damit uns die Gerechtigkeit Christi zugeeignet wird und wir im Bund Gottes bestehen können. Das sind die Mittel oder auch Personen, die in den eben erwähnten Bibelstellen aufgezählt sind. Gott hat Gemeinschaft mit uns mittels seines Geistes, der uns das Evangelium von Jesus Christus aufschließt, den Glauben wirkt und nährt und uns so mit Christus, der Quelle unseres Heils, verbindet.
In diesem Vers ist somit mehr zum Ausdruck gebracht als lediglich ein passives Wohnen im Sinne eines Aufenthalts in einem Haus. Das griechische Wort an dieser Stelle wird durch eine Vorsilbe verstärkt. Durch sie wird betont, dass der Wohnplatz in Besitz genommen worden ist. Es geht um eine feste Verbindung. Wörtlich müsste man es eigentlich mit innewohnen übersetzen: Das Wort des Christus wohnt uns inne.
Und schließlich ergibt sich diese Bedeutung auch aus dem Kontext des Verses. Im Übergang von Kolosser 2 zu 3 erinnert der Apostel Paulus an die Tatsache, dass wir den Grundsätzen dieser Welt gestorben und mit Christus auferstanden sind und somit unter einer neuen Regentschaft stehen. Das ist der bestimmende Gedanke dieses ganzen Abschnitts. In der neuen Gemeinschaft mit Jesus Christus soll der Christ vom Wort des Christus regiert werden. Wie früher ein Hausherr oder ein Hausverwalter alle Angelegenheiten überschaute und über die Knechte und Mägde verfügte, so regiert Christus in uns.
Das ist grundlegend. Zunächst widerstrebt uns diese Ermahnung. Es läuft unserem Selbstverständnis zuwider, anzuerkennen, dass nicht wir über uns bestimmen, sondern ein anderer.
Der Mensch liebt die Idee vom freien Willen. Selbst in vermeintlich evangelischen Kreisen hat sich Martin Luthers Schrift noch nicht herumgesprochen, in der er die humanistische Idee vom freien Willen scharf zurückweist. Man hält auch dort dem ungläubigen Menschen einen freien Willen zugute, mit dem er sich zum Beispiel für oder gegen Christus entscheiden könne. Eine solche Ansicht ist geradezu gotteslästerlich. Nicht nur macht sie den allmächtigen Gott zum Bittsteller des Menschen, nicht nur erklärt sie den Kreuzestod Christi praktisch für unwirksam, sondern sie leugnet auch frech die furchtbaren Konsequenzen der Sünde. Der natürliche Mensch ist nach dem Sündenfall Adams eben nicht frei, sondern er ist ein Sklave der Sünde. Er muss tun, was sein Herr, die Sünde, ihm befiehlt. Zugegeben, diese Befehle sind recht breit gefasst, und sie bieten im Allgemeinen viele Entfaltungsmöglichkeiten, sodass so jemand sehr leicht auf den Gedanken kommen kann, sein Wille sei frei. Aber die Wahrheit ist eine andere. Der Mensch ist ein Sklave der Sünde. Er ist, wie Paulus es in Römer 7,14 formuliert, unter die Sünde verkauft.
Aber diese Herrschaft der Sünde hat Christus in uns überwunden. Er hat mit seinem Leiden und Sterben für unsere Sünde bezahlt und uns mit Gott versöhnt – und anstelle der Sünde seine eigene Herrschaft über uns aufgerichtet. Wir gehören jetzt ihm. Das ist der Kern des Christseins und unser großer Trost, den wir im Heidelberger Katechismus bekennen: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat […].“[1]
Als Konsequenz seines Heilswerkes von Golgatha ist Christus unser Herr geworden. Christus hat die Herrschaft über unser Leben übernommen. Christus regiert uns. Und er tut das durch seinen Geist, der durch sein Wort, die Heilige Schrift, wirkt. Das Wort malt uns die frohe Botschaft von Gottes Versöhnung mit uns vor Augen. Der Geist öffnet unsere Augen und Ohren, sodass dieses Evangelium bei uns Eingang findet und uns wahrhaft glauben lässt. Der Geist richtet uns auf Christus aus, und als seine Glieder vereint er uns im Glauben immer mehr mit ihm, unserem Haupt.
Das meint der Apostel, wenn er uns daran erinnert, das Wort des Christus reichlich in uns wohnen zu lassen. Er erteilt in dem Predigtvers also keinen bloßen Befehl, dem wir zähneknirschend Folge leisten müssen. Er stellt uns auch nicht vor eine Wahl, sodass es an uns läge, das Wort in uns wohnen zu lassen oder nicht. Er erinnert uns an eine Tatsache. Er erinnert uns an unser großes Vorrecht, dass wir Christus gehören dürfen, und er ermutigt uns, uns dieses Vorrecht mehr und mehr und in aller Fülle zu eigen zu machen. Lasst das Wort reichlich in euch wohnen! Christus soll in euch, seinem Volk, nicht nur hier und da zu seinem Recht als euer Herr kommen, sondern immer und überall.
Das Wort des Christus wirkt in uns
Nachdem wir gehört haben, was wir unter dem Wort des Christus zu verstehen haben und was es heißt, dass dieses Wort in uns wohnt, wenden wir uns nun der Frage zu, was das Wort des Christus in uns tut. Was bewirkt dieses lebendige Wort?
Der Apostel Paulus nennt in den vorangehenden und insbesondere in den nachfolgenden Versen eine ganze Reihe von Auswirkungen des Umstandes, dass das Wort des Christus in uns wohnt. Diese Auswirkungen sind als Anweisungen formuliert. Das ist kein Widerspruch. Im ersten Thessalonicherbrief verdeutlicht das der Apostel folgendermaßen: Ihr selbst seid Zeugen, und auch Gott, wie heilig, gerecht und untadelig wir bei euch, den Gläubigen, gewesen sind. Ihr wisst ja, wie wir jeden einzelnen von euch ermahnt und ermutigt haben wie ein Vater seine Kinder, und euch ernstlich bezeugt haben, dass ihr so wandeln sollt, wie es Gottes würdig ist, der euch zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit beruft. Darum danken wir auch Gott unablässig, dass ihr, als ihr das von uns verkündigte Wort Gottes empfangen habt, es nicht als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist, als Gottes Wort, das auch wirksam ist in euch, die ihr gläubig seid (1Thess. 2,10–13).
Das ist eigentlich eine ausführlichere Fassung unseres Predigtverses. Alle Ermahnungen, die uns die Heilige Schrift gibt, sind in der Verheißung Gottes verankert, dass sein Wort in uns wirkt. Nicht wir strampeln uns in uns selbst ab, um als gute Christen wahrgenommen zu werden, sondern wir geben dem lebendigen Wort Gottes Raum.
Die Ermahnungen des Apostels, die uns im Kolosserbrief begegnen, richten sich auf drei Lebensbereiche. Drei Lebensbereiche, in denen das Wort des Christus seine Wirkung entfaltet.
Stellen wir uns drei konzentrische Kreise vor. Im Mittelpunkt steht das Wort des Christus, das in uns wohnt. Der erste kleine Kreis und Lebensbereich umfasst uns selbst. Was soll das Wort in uns selbst bewirken? Der zweite, schon etwas größere Lebensbereich ist die Gemeinde. Auch für unser Leben inmitten der Gemeinde Gottes soll das Wort des Christus bestimmend sein. Im dritten und äußersten Kreis schließlich sehen wir unseren Lebensbereich in der Welt. Wie gehen wir als Christen mit unserem Nächsten in so genannten weltlichen Angelegenheiten um?
Wir könnten uns jetzt viele Gedanken darüber machen, wie unser Leben als Christ aussehen soll. Wir könnten die Liste der Ermahnungen nehmen, die an dieser und an vielen anderen Stellen der Heiligen Schrift aufgeführt sind, und regelmäßig überprüfen, ob wir diese Vorgaben erfüllen. Aber das wäre nicht das richtige Vorgehen. Denn dann würden wir sehr rasch in Gesetzlichkeit abgleiten und uns am Ende sogar einbilden, dass wir aufgrund dieser Werke in uns selbst gehorsam und gerecht und heilig wären. Nein, wenn das Wort Gottes uns diese Dinge vorhält, dann immer mit der Betonung, dass es sich dabei um Früchte handelt. Es sind die konkreten Früchte des Glaubens, die Gott durch sein Wort und seinen Geist wirkt. Und im Grunde sind alle diese konkreten Früchte nur Ausprägungen der einen Frucht, des einen Maßstabs, mit dem wir gemessen werden, den Gesetzen Gottes: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken, und Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und alle Weisungen und Ermahnungen der Propheten und Apostel (vergleiche Mt. 22,37.38).
Der christliche Wandel im eigenen Haus
Fragen wir uns selbst. Sind wir ein Tempel des Heiligen Geistes (vergleiche 1Kor. 6,19)? Mit anderen Worten: Lassen wir das Wort des Christus so reichlich in uns wohnen, dass wir nach den himmlischen Dingen trachten? Hängen wir unser Herz an irdische Dinge oder an die geistlichen Reichtümer, die Christus uns erworben hat?
Wie pflegen wir ganz persönlich die Gemeinschaft mit Gott, zu der er einen jeden von uns berufen hat? Zwei Mittel fallen mir ein: das Wort Gottes und das Gebet.
Lest täglich in der Heiligen Schrift! Gern auch fortlaufend, damit man nicht lange sucht und am Ende doch immer wieder bei denselben Stellen landet. Nehmt euch auch Zeit, über das Gelesene nachzudenken: Was lerne ich in diesem Abschnitt über mich und über Gott? Wo erkenne ich darin Christus und sein Heilswerk, das er für mich getan hat? Wer einer Familie oder einem Haushalt vorsteht, hat hierbei eine besondere Verantwortung: Lehrt und ermahnt und ermutigt durch das Evangelium nicht nur euch selbst, sondern auch diejenigen, die der Herr euch auch mit dieser Absicht anvertraut hat.
Lasst nicht darin nach, Gott im Gebet zu loben! Bekennt ihm, was ihr von ihm glaubt! Dankt ihm für das, was er tut! Bittet ihn um Vergebung für eure Sünden und darum, dass er euch immer wieder neue Freude in Christus schenkt! Bittet ihn für eure Familien, eure Kirchen, eure Nächsten! Bittet ihn um seinen Heiligen Geist, dass er euch regiert und euch auf Christus ausrichtet! Das ist christlicher Wandel, das ist mit den Worten des Heidelberger Katechismus „die höchste Form der Dankbarkeit“ für die Erlösung, die Gott uns schenkt.[2]
Ich bin mir sicher, dass viele von uns – auch ich – darin noch großes Potential haben.
Der christliche Wandel in der Gemeinde
Werfen wir als nächstes einen Blick in die Kirche und konkret in unsere Gemeinden. Lassen wir dort das Wort des Christus reichlich wohnen, sodass wir uns als wahre Gemeinde Christi erweisen? Ansonsten nämlich hört die Kirche auf, Kirche zu sein, denn „Kirche“ heißt ja „dem Herrn gehörend“.
Wir könnten jetzt mit dem Finger vor allem auf die Pastoren und Ältesten zeigen, denn diese sind vor allem verantwortlich, das Evangelium von Jesus Christus in rechter Weise und vollständig und unverfälscht unter das Volk zu bringen. Aber sind nicht alle anderen Gemeindeglieder ebenfalls aufgerufen, das Wort, das sie gehört haben, reichlich in sich wohnen zu lassen? Und wie ist es um unseren Umgang miteinander bestellt? Viele der Ermahnungen im Kolosserbrief richten sich gerade darauf, wie wir unserem Nächsten in der Gemeinde begegnen.
Ich räume ein, dass dieser Umgang manchmal eine Herausforderung darstellt. Zum Beispiel reden manche Leute viel zu viel, sodass man sich schnell überfordert fühlt und ihnen lieber aus dem Weg gehen möchte. Andere stehen nur schweigend in der Gegend herum oder lassen sich jedes Wort aus der Nase ziehen, sodass man kaum weiß, woran man bei ihnen ist. Wieder andere verschwinden jedes Mal so schnell, dass man kaum Gelegenheit hat, sie überhaupt nur zu begrüßen. Jeder kennt solche Situationen. Und dann ist man schnell mit einem Urteil zur Hand, und das ist nur selten positiv. Aber bedenken wir: Auch eine vermeintlich schwierige Person in der Gemeinde ist unser Bruder, unsere Schwester in Christus und ein Miterbe der Gnade Gottes.
In diesem Predigtvers haben wir ein Wort bisher übergangen: Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit; lehrt und ermahnt einander …“ Es geht aus dem Grundtext nicht klar hervor, ob sich die Wortgruppe in aller Weisheit, wie in der Schlachterübersetzung, auf das Wohnenlassen bezieht oder aber auf das nachfolgende Lehren und Ermahnen. Im Grunde ist das auch nicht so wichtig. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass diese beiden Aufforderungen so eng beieinander stehen. Denn sie gehören zusammen. Von Christus regiert zu werden ist definitiv Weisheit. Und eine solche Weisheit ermöglicht es, auch anderen in Weisheit zu begegnen, zum Beispiel lehrend oder ermahnend. Natürlich gilt das auch umgekehrt: Sich von Christus in aller Weisheit regieren zu lassen, zeigt sich auch darin, sich jeder rechten Lehre und gebührenden Ermahnung zu unterwerfen. So pflegen wir die Gemeinschaft des Glaubens trotz aller Verschiedenheit. Nicht weil wir tolerant und einfühlsam und mit psychologischem Geschick auf den Anderen eingehen, sondern weil wir alle unter dem einen Herrn stehen. Prüfen wir auch hier, wie es um unsere Gemeinschaft mit den Geschwistern bestellt ist!
Der christliche Wandel in der Welt
Wie aber sieht es außerhalb der schützenden Mauern des eigenen Heims oder der Gemeinde aus? Die meisten von uns bringen den größten Teil ihrer Zeit in der so genannten Welt zu.
Zunächst gilt: Jesus Christus ist Herr nicht nur im christlichen Zuhause und in der christlichen Gemeinde, sondern auch in der unchristlichen Welt. Auch dort regiert Christus, der zur Rechten des Vaters sitzt. Ihm sind alle Dinge unterworfen. Nur befindet sich diese unterworfene Welt in einem Zustand der Rebellion gegen ihren rechtmäßigen Herrn. Und das wird auch bis zum Ende dieser Zeit so bleiben. Denn erst im Gericht wird diese Welt vergehen, um dann für die Ewigkeit vollständig erneuert zu werden.
Wenn wir aus dem Haus gehen, wenn wir das Kirchengebäude oder den Gottesdienstraum verlassen, werden wir nicht zu anderen Menschen. Wir sind immer noch dieselben, denen der Apostel einschärft: Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen. Christus regiert uns nicht nur in unserem geistlichen „safe space“, sondern selbstverständlich auch inmitten der Welt, so wie er selbst über die Welt herrscht.
Was heißt das für uns? Das heißt vor allem, dass auch in allen weltlichen Angelegenheiten das Gebot gilt: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten! Um es etwas konkreter zu machen: Der Vers, der der Predigt zugrunde liegt, erinnert in seinem Zusammenhang an die letzten Worte des Herrn an seine Jünger kurz vor seiner Himmelfahrt: Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit! Amen (Mt. 28,18-20).
Die Gemeinde hat den Auftrag erhalten, aller Welt das Evangelium zu verkündigen. Und dieser Auftrag ist eingebettet in die Versicherung, dass Christus regiert und bei uns ist, dass er also durch sein Wort und durch seinen Geist in uns Wohnung genommen hat. Er will uns also gebrauchen, um alle Völker zu Jüngern zu machen (was natürlich qualifizierend zu verstehen ist: Jünger aus allen möglichen Völkern). Das ist echte Gottes- und Nächstenliebe: dass wir unserem Nächsten Christus bezeugen.
Das heißt nun nicht, dass wir jeden, der uns auf der Straße oder im Geschäft begegnet, erst einmal beiseite nehmen und unter vollem rhetorischen Einsatz mit dem Evangelium konfrontieren sollen. Das wäre lächerlich und würde den armen Nächsten eher verschrecken und Gott ganz sicher keine Ehre machen.
Christus selbst gibt uns einen Hinweis, wie wir in der Welt auftreten sollen. Es ist das Motto des heutigen Konferenztages: Ihr seid das Salz der Erde. Und weiter heißt es: Wenn aber das Salz fade wird, womit soll es wieder salzig gemacht werden? Es taugt zu nichts mehr, als dass es hinausgeworfen und von den Leuten zertreten wird. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann eine Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter. So leuchtet es allen, die im Haus sind. So soll euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen (Mt. 5,13–16).
Unser Zeugnis in der Welt ist gewissermaßen ein stilles. Der Herr vergleicht uns nicht mit einer Trompete, sondern mit Salz und Licht, mit eigentlich allgegenwärtigen Dingen. Unser Auftreten, unser Reden, unser Handeln soll von der Herrschaft Christi in uns geprägt sein, angefangen bei den kleinsten Dingen. Stoße ich am Bahnsteig alle anderen zur Seite, oder warte ich geduldig in der Schlange? Wenn jemand etwas zu mir sagt, reiße ich dann aus Prinzip sofort den Mund zur Widerrede auf, oder sortiere ich erst einmal meine Gedanken? Arbeite ich gewissenhaft? Habe ich das Wohl meiner Nächsten, des Unternehmens, des Kunden, des Patienten, des Schülers oder wessen auch immer im Blick? Worüber rede ich? Worüber freue ich mich? Worüber spotte ich?
Wandelt in Weisheit denen gegenüber, die außerhalb [der Gemeinde] sind, und kauft die Zeit aus! Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt, damit ihr wisst, wie ihr jedem einzelnen antworten sollt (Kol. 4,5.6).
Nicht nur mit Worten, sondern auch und vor allem in unserem kleinen alltäglichen Wandel können wir anderen ein Zeugnis für Christus sein und damit Gottes Ehre suchen. Das ist unser alltäglicher, praktischer Gottesdienst.
Vielleicht seid Ihr auch schon einmal gefragt worden: „Was tust du eigentlich für das Reich Gottes?“ Oft wird dabei an einen speziellen Dienst, eine geistliche Aktivität, eine Spende oder Ähnliches gedacht, die aber immer mit der Gemeinde zusammenhängen. Hier ist die Antwort: Mein täglicher christlicher Wandel vor dem Angesicht Gottes – das ist mein Dienst in seinem Reich.
Das Reich Gottes ist nicht hier oder dort, sondern inwendig in uns, da, wo Christus durch sein Wort und seinen Geist Glauben geschaffen und Wohnung genommen hat und uns gut und gerecht und weise regiert, an jedem Ort und zu jeder Zeit, sodass wir wenigstens etwas von seinem Glanz und seiner Herrlichkeit reflektieren: in unserem Haus, in unserer Gemeinde und in der Welt um uns herum.
Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen in aller Weisheit – euch und eurem Nächsten zum Heil und Gott zur Ehre. Amen.
[1]) Heidelberger Katechismus, Sonntag 1, Frage 1.
[2]) Heidelberger Katechismus, Sonntag 45, Frage 116.